Schäuble dringt auf Wahlrechtsreform: „Eine Notlösung, damit es nicht 800 Abgeordnete werden“
Die Wahlrechtsreform hängt im Bundestag – sie sei aber dringend nötig, sagt Wolfgang Schäuble. Damit es nicht immer mehr Abgeordnete werden.
Herr Bundestagspräsident, alle sind eingeschränkt durch die Corona-Epidemie, auch das Parlament. In der kommenden Woche will sich das Corona-Kabinett damit befassen, ob und wann es wieder zu Lockerungen im öffentlichen Leben kommen kann. Wann beginnt denn die Normalisierung, auch mit Blick auf das Parlament?
Ich weiß es nicht. Im Moment haben wir die Hoffnung, dass angesichts der Entwicklung der Neuinfektionen das Bundeskabinett in der Woche nach Ostern zu einer Neubewertung der Lage kommen kann. Aber ich will da nicht spekulieren. Im Bundestag sind wir fest entschlossen, am 20. April wieder eine Sitzungswoche zu beginnen, mit Kontaktbeschränkungen, viel Abstand und anderen Vorsichtsmaßnahmen wie zuletzt.
Zu den Themen, die den Bundestag bis in die Corona-Krise hinein beschäftigten, gehört die Wahlrechtsreform. Nun könnte sie ein Opfer der Corona-Epidemie werden. Wäre das schlimm, angesichts anderer Themen, die wichtiger sind?
Natürlich haben wir derzeit dringendere Sorgen. Aber an dem grundsätzlichen Problem, warum wir eine Änderung unseres Wahlrechts brauchen, hat sich nichts geändert. Es besteht seit Jahren. Die Größe des Bundestages ist im geltenden Wahlsystem unberechenbar. Die Zahl der Abgeordneten stieg bei der vorigen Wahl auf 709. Es müssen wieder deutlich weniger sein.
Natürlich könnte man angesichts der aktuellen Meinungsumfragen, die wieder auf ein kleineres Parlament hindeuten, zu der Ansicht gelangen, dass das Problem bei der nächsten Wahl doch nicht so groß sein wird. Aber das weiß niemand, und deshalb müssen die Fraktionen auch in der aktuellen Situation etwas tun.
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Aber ist eine vernünftige Reform jetzt überhaupt noch machbar? Immerhin können ja nun schon seit Ende März die Vorbereitungen in den Wahlkreisen für die nächste Wahl beginnen, etwa die Bestimmung von Bewerbern.
Tatsache ist, dass die Legislaturperiode weit fortgeschritten ist. Wir haben noch anderthalb Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl. Ich habe schon gewusst, warum ich die Fraktionsvorsitzenden bereits im November 2017, also kurz nach der Konstituierung des Parlaments, mit dem Problem konfrontiert habe. Aber es hat die von mir erhoffte Einigung nicht gegeben. Ich kann es allein nicht ändern, aber ich appelliere weiter an die Verantwortung der Fraktionen.
Immerhin liegt nach wie vor der Gedanke in der Luft, dass man noch zu einer Lösung findet – notfalls mit einem allein auf die kommende Wahl begrenzten Wahlgesetz, um zumindest zu verhindern, dass es zu einer außergewöhnlichen Vergrößerung des Parlaments kommt.
Der Drei-Fraktionen-Entwurf von FDP, Linken und Grünen sieht weniger Wahlkreise vor, auch Sie haben im vorigen Jahr einen Vorschlag mit weniger Wahlkreisen gemacht, weil sich so die Sitzvermehrung beschränken lässt. Ist ein deutlicher Einschnitt in die Wahlkreisgeographie denn jetzt noch denkbar? Es würden ja doch einige Dutzend Wahlkreise verschwinden.
Die Möglichkeit, jetzt noch zu einer Verringerung der Wahlkreise zu kommen, ist kaum noch gegeben. Rein rechtlich wäre es vielleicht machbar. Aber faktisch ist es zu spät dafür. Denn jede Verringerung der Anzahl bedeutet auch eine Veränderung des Zuschnitts fast aller verbliebenen Wahlkreise, und das ist kein ganz einfaches Manöver. In der von mir geleiteten fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe hatten sich all die unterschiedlichen Positionen der Fraktionen gezeigt.
Am Ende habe ich bei den unterschiedlichen Stellschrauben, die wir diskutiert hatten, einen am ehesten gangbaren Weg benannt, auf den man sich hätten einigen können, weil er von allen Zugeständnisse abverlangt hätte. Auch der ist von allen Seiten kritisiert und verworfen worden. Jetzt wären vielleicht einige froh, man hätte sich damals darauf verständigt. Danach haben alle ihre eigenen Entwürfe oder Vorschläge auf den Tisch gelegt, wohl wissend, dass die anderen darauf nicht eingehen würden. Und alle hatten ja auch gute Argumente für ihren Standpunkt. Aber ohne ein Aufeinanderzugehen klappt es eben nicht, das ist das Wesen eines Kompromisses.
Es ist schon ein bisschen traurig, dass die Schwerfälligkeit hier so groß war. Ich habe die Fraktionsvorsitzenden jetzt nochmals daran erinnert, dass ich weiterhin eine Entscheidung des Parlaments erwarte - wenigstens eine Notlösung für die nächste Wahl, damit es am Ende nicht doch 800 Abgeordnete werden.
Die SPD hat ein Modell vorgeschlagen, das einen Deckel bei 690 Abgeordneten einzieht. Die CSU denkt auch in diese Richtung…
Wenn man noch etwas schafft - und zwar als Einmallösung für die nächste Wahl - dann kann es nur noch eine solche Deckelung sein. Für eine Wahl lässt sich das in der aktuellen Situation vertreten. Allerdings muss man dann auch vereinbaren, was passiert, wenn der Deckel tatsächlich greift. An dieser Stelle hat die SPD etwas vorgeschlagen, was die Union ablehnt – nämlich eine Kappung von Direktmandaten.
Der SPD-Vorschlag klingt für manche zwar plausibel, aber er erfüllt eben auch nicht die Bedingungen für einen Kompromiss, dem alle zustimmen können. Es gibt gute Argumente dafür, dass Bewerber, die in einem Wahlkreis mit relativer Mehrheit direkt gewählt sind, auch im Parlament vertreten sein sollten. Und es gibt auch gute Argumente dagegen. Aber dann geht man von dem Prinzip ab, dass jeder Wahlkreis einen direkt gewählten Vertreter hat. Für manche wäre dies ein viel zu weitgehender Schritt – weil dieses Prinzip dann aufgegeben wäre.
Wenn es nun eine solche Einmallösung für die nächste Wahl geben soll, wie stellen Sie sich dann die weitere Reform vor? Soll es nach der nächsten Wahl eine breitere Debatte geben als dieses Mal, in die auch die Öffentlichkeit stärker eingebunden ist?
Ich habe in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich mehr Beiträge zu einer öffentlichen Debatte um die Wahlrechtsreform geleistet, als jeder andere meiner 708 Kollegen. Aber für die nächste Legislaturperiode will ich keine Empfehlungen geben. Beim Blick nach vorne habe ich zwei Hoffnungen: Zum einen, dass wir die Herausforderung dieser Pandemie bestehen und so bald wie möglich wieder zu geordneten Verfahren kommen können. Und zweitens, dass sich im nächsten Parlament, wenn es um das Wahlrecht geht, die Vernunft am Ende durchsetzt. In dieser Legislaturperiode sind die Beharrungskräfte relativ stark.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Wollen Sie für den nächsten Bundestag wieder kandidieren?
Da halte ich es auch dieses Mal wie in all den Legislaturperioden zuvor: Ich äußere ich mich zu der Frage zuerst in meinem Wahlkreis.