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Die Blutspur lässt ahnen, was hier in Kabul am Mittwoch geschah.
© Wakil Kohsar, AFP

Streit um Abschiebung nach Afghanistan: Keiner darf in den sicheren Tod geschickt werden

Sollen Menschen, die in Deutschland schwere Straftaten begangen haben, nach Afghanistan abgeschoben werden? Im Prinzip ja – zurzeit nein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Das Grundgesetz garantiert das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es steht nicht nur deutschen Staatsangehörigen zu, sondern ist ein Menschenrecht, das bedingungslos gilt. Der Staat ist verpflichtet, alle Bewohner seines Territoriums vor jeder Art von Verletzung dieses Menschenrechts zu schützen. Das wird in jenen Staaten anders gesehen, in denen die Todesstrafe gilt. In Deutschland ist sie abgeschafft.

Sollen Menschen, die in Deutschland schwere Straftaten begangen haben oder als islamistische Gefährder eingestuft sind, nach Afghanistan abgeschoben werden? Über diese Frage ist heftiger Streit entbrannt. Innenminister Horst Seehofer und der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, befürworten weitere Abschiebungen. Grüne, Linke und Teile der SPD sind dagegen.

Mittlerweile gibt es knapp 2,9 Millionen Binnenvertriebene

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans meint, niemand habe das Recht, ausländische Straftäter in den Tod zu schicken. Berlins SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey wertet „den Schutz der in Deutschland lebenden Bevölkerung“ höher als den eines Menschen, „der die Rechte anderer mit Füßen tritt“.

Es ist kein Zufall, dass diese Debatte gerade jetzt wieder aufflammt. Nach dem Abzug der meisten Nato-Truppen aus Afghanistan haben die Taliban weite Teile des Landes erobert, viele Menschen fliehen vor den erbittert geführten Kämpfen. Mittlerweile gibt es knapp 2,9 Millionen Binnenvertriebene, in den Nachbarländern Pakistan und Iran leben zusammen 2,2 Millionen Flüchtlinge. Die Situation ist hochgradig volatil.

Die Regierung in Kabul hat die EU gebeten, alle Abschiebungen für drei Monate auszusetzen. Finnland, Schweden und Norwegen sind dieser Bitte bereits nachgekommen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die geplante Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers aus Österreich durch eine einstweilige Verfügung jetzt gestoppt. Wegen der Sicherheitslage wäre eine solche Abschiebung ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, heißt es. Ein ursprünglich für Dienstagabend geplanter Abschiebeflug von München nach Kabul wurde von deutscher Seite kurzfristig abgesagt.

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Flüchtlinge aus Afghanistan, die in Deutschland morden oder vergewaltigen, müssen hart bestraft werden. Auch muss es grundsätzlich möglich sein, sie abzuschieben. Dasselbe gilt für islamistische Gefährder. Wenn ihnen aber in ihren Heimatländern mit großer Wahrscheinlichkeit Folter und Tod drohen, dürfen solche Abschiebungen nicht vollzogen werden.

Die maßgebliche Grundlage für solche Entscheidungen sind die Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Doch die Lage vor Ort verändert sich ständig. Noch am Morgen kann eine Region als relativ sicher eingeschätzt werden, in der schon am Abend Gefechte ausgetragen werden.

Nichts gegen den Willen der Regierung in Kabul tun

Sollen Menschen, die in Deutschland schwere Straftaten begangen haben, nach Afghanistan abgeschoben werden? Die Antwort kann nur lauten: Im Prinzip ja, zurzeit nein. Deutschland hat mit seiner Beteiligung an der fast 20-jährigen Besatzung des Landes eine besondere Verantwortung für dessen Schicksal übernommen. Es gibt ein Aufnahmeprogramm für afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und nun die Rache der Taliban fürchten. Wenn aktuell die Regierung in Kabul die EU darum bittet, alle Abschiebungen für drei Monate auszusetzen, sollte die Bundesrepublik nicht auf stur schalten.

Das Versprechen, das dem afghanischen Volk vor knapp zwanzig Jahren gegeben worden war – der Westen werde die Demokratie einführen, Frauenrechte etablieren, Justiz, Verwaltung und Infrastruktur aufbauen –, wurde gebrochen. Wer nun gegen den Willen der Regierung in Kabul und gegen das Votum des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an Abschiebungen festhält, setzt sich dem Verdacht aus, sowohl die Gebote der Moral zu ignorieren als auch die Sicherheitsinteressen Afghanistans.

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