Was ist Sexismus?: Keine Gesellschaft ohne sexistische Reste
Geschlechter-Stereotypen sind hartnäckig: Die Voraussetzungen für Männer und Frauen in der Gesellschaft und ihr Umgang miteinander werden immer wieder diskutiert. Nur so ändern sie sich.
- Caroline Fetscher
- Ulrike Scheffer
- Tilmann Warnecke
- Carsten Werner
Die Berliner CDU-Nachwuchspolitikerin Jenna Behrends hat eine Debatte über Sexismus in ihrer Partei begonnen und dafür Unterstützung etwa von CDU-Generalsekretär Peter Tauber und Diana Kinnert, Mitglied der Reformkommission „CDU 2017“, erhalten. Behrends wirft dem Berliner CDU-Chef und Noch-Innensenator Frank Henkel (ebenfalls CDU) vor, er habe sie – wie ihre kleine Tochter – als „süße Maus“ bezeichnet und einen Parteikollegen gefragt, ob dieser sie „ficke“. Die Vorwürfe taugen je nach Lesart auch dazu, Henkel zu schaden, eine Erneuerung der Partei zu beschleunigen – oder durch den Skandal die eigene Karriere zu befördern, wie Kritiker sagen.
Am Samstag rief auch Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) zu einem verstärkten Kampf gegen Sexismus in Politik und Gesellschaft auf: „Ich würde mir wünschen, dass auch mehr Männer das Wort erheben gegen Sexismus“, sagte sie der Funke Mediengruppe und erzählte von eigenen Erfahrungen: So sei sie als „Küsten-Barbie“ betitelt worden und Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) habe über sie gesagt, sie solle nicht so weinerlich sein. Das sei „nichts Weltbewegendes, aber damit fängt es an“, sagte Schwesig.
Die CDU-Vizevorsitzende Julia Klöckner sagte dem Tagesspiegel: „Wir sprechen hier doch von einem gesamtgesellschaftlichen Problem.“ Die Abgrenzung „was wird als witzig gemeinter Spruch oder Verletzung aufgefasst“ sei „heikel“: „Übergänge sind da oft fließend und werden auch unterschiedlich empfunden. Entscheidend ist, wie wir Sexismus definieren und ab wann es sich wirklich um Sexismus handelt. Es gibt übrigens auch Sexismus gegenüber Männern“, sagte Klöckner. „Absoluter Ausdruck von Sexismus“ sei für sie „die Sichtweise, dass nur verschleierte, verhüllte Frauen anständige Frauen seien – die Vorstellung, dass Frauenhaar, Gesicht und Haut, Figur anstößig seien und deshalb verhüllt werden müssen. Es ist übrigens auch eine sexistische Unterstellung gegenüber Männern, dass sie sich nicht im Griff hätten und nicht mehr Herr ihrer selbst seien, wenn eine Frau nicht verhüllt sei. Über diesen Sexismus müssen wir auch sprechen.“
Was versteht man unter Sexismus?
Sexismus hat zwei wesentliche Aspekte. Erstens geht es um eine Struktur – um biologistische oder religiöse Vorurteile, die dazu führen, dass Menschen wegen ihres Geschlechts abgewertet und diskriminiert werden. Das kann zum Ausschluss von Frauen aus bestimmten beruflichen oder gesellschaftlichen Gruppen führen, etwa zum Vorenthalten des Wahlrechts oder des Rechts auf Bildung. Außerdem kann es zum Beispiel dazu beitragen, dass Frauen für die gleiche Arbeitsleistung weniger Lohn als Männer erhalten. So hieß es lange, Frauen könnten kein Flugzeug steuern, da sie, etwa wegen hormoneller Schwankungen, unzuverlässiger seien. Vielfach wurde das widerlegt.
Zweitens geht es um individuelles und kollektives Verhalten, um Haltungen, die auf Stereotypen gegenüber einem Geschlecht basieren. Donald Trumps Verbalattacken gegen kompetente Frauen sind dafür ebenso ein sprechendes Exempel wie seine Vorliebe für weibliche Models. Ähnlich funktionieren oft noch veraltete Bilder, die Frauen in Kategorien von entweder Hexen und Huren oder Heiligen und Grazien einsortieren.
Wo verläuft die Grenze zwischen einem Witz und einer Herabwürdigung?
Überall da, wo verbale Herabwürdigung spürbar als solche empfunden wird und wo sie konkrete, negative Wirkung entfaltet. „Warum fährt die Blondine zum Bewerbungsgespräch mit zwei Matratzen auf dem Dachgepäckträger? Weil in der Bewerbung stand, dass sie ihre Unterlagen mitbringen soll!“ Manche Frauen finden so einen Witz köstlich komisch, weil er sich über oberflächliche Modegirls ebenso lustig macht wie über das offensichtlich groteske Genre „Blondinenwitz“. Andere empfinden Humor dieser Art als beleidigend.
2013 veröffentlichte die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich einen Artikel mit dem Titel „Der Herrenwitz“. Darin schilderte sie, wie der FDP-Politiker Rainer Brüderle ihr ein Jahr zuvor an einer Hotelbar das „Kompliment“ gemacht hatte: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ Himmelreich prangerte das – lange Zeit nach dem Vorfall – mitten im Bundestagswahlkampf mit Brüderle als FDP-Spitzenkandidat als Sexismus an, der Politiker sah sich als Opfer einer Kampagne.
Frauen wie Männer verarbeiten bei ihrer Reaktion jahrhundertealte Stereotypien. Abhängig von eigener Erfahrung, Reflexionsfähigkeit und Selbstvertrauen brechen so langsam tradierte Klischees auf – dabei kann Lachen durchaus helfen.
Welche Rolle spielt das Internet?
Das Internet wirkt als Katalysator für öffentliche Debatten – im guten wie im schlechten Sinn. Das gilt auch für die Diskussion über Sexismus. Allein die Tatsache, dass Vorfälle via Internet schnell bekannt gemacht werden können, bewirkt schon Verhaltensänderungen. Denn das Risiko, im Netz für einen unbedachten Spruch an den Pranger gestellt zu werden, ist groß. Soziale Netzwerke sind außerdem ein ideales Forum, um eine Debatte für ein breites Publikum zu öffnen. Die von der Feministin Anne Wizorek etablierte Twitter-Debatte #aufschrei, in der Frauen 2013 ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus berichteten, wurde als Medienprojekt mit dem Grimmepreis ausgezeichnet. Andererseits wird im Internet auch schamlos gehetzt: Krasse sexistische Beleidigungen gegen Politiker(innen), Prominente und Journalist(inn)en zeigen, wie tief Sexismus in der Gesellschaft noch immer verankert ist.
Wie groß ist das Problem?
Es gibt Sexismus überall. Es begann auf Seite eins unserer schriftlich überlieferten Geschichte: Eva verführte Adam, den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen – damit war „die Frau“ schuld an der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies. Adam war Opfer dieser Handlung. Dann beschuldigten sich beide gegenseitig – vor dem männlichen Gott, dem Herrn.
Geschlechtlichkeit, die physischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, hat Menschen seit je Rätsel aufgegeben und sie zu Mythen inspiriert, zumal während der nomadischen Epochen lange nicht gewusst wurde, dass und wie Zeugungsakt und Schwangerschaft einander bedingen. Dann, mit der Sesshaftigkeit in agrarischen Gesellschaften, zählten Frauen, Kinder, Vieh und Boden als „Besitz“ des Mannes. Bräute konnten gekauft, Töchter verkauft werden wie Dinge. Den Wert der Ware bestimmten etwa die Mitgift, die Jungfräulichkeit, das Aussehen. Die Reduzierung und Herabwürdigung von Frauen auf einen als „natürlich“ und „gottgewollt“ erachteten Objektstatus überdauerte Jahrtausende.
Erst vor rund 200 Jahren, mit der Französischen Revolution, setzten Fragen nach Menschenrechten aller, auch der Frauen, ein. So schleppen sämtliche Gesellschaften der Gegenwart – vormoderne, moderne wie postmoderne – Relikte vergangener Epochen mit. In der Gegenwart existiert keine Gesellschaft, die nicht sexistische Reste aufweist. Geringere Rechte und niedrigere Löhne für Frauen, aufs Äußerliche reduzierende Darstellungen von „Topmodels“, geringschätzende, auf Haus und Haushalt einschränkende Rollen – all das gehört zur Basis des antiweiblichen Sexismus.
Ist die Politik besonders betroffen?
Sexismus gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen. Aber der Politikbetrieb steht unter besonderer Beobachtung: Ein einzelner Vorfall kann sich schnell zum öffentlichen Skandal ausweiten. Politiker sind aber eben auch keine besseren Menschen als Anwälte oder Polizisten. Wie in vielen anderen Lebensbereichen waren Männer in der Politik auch lange dominierend; der kollegiale Umgang mit Frauen auf Augenhöhe bedeutete vor allem für ältere Abgeordnete in den Parlamenten einen Lernprozess. Mancher mag sich auch von einer aufstrebenden Frau in seiner eigenen Karriereplanung bedroht sehen und sich – ob bewusst oder unbewusst – verbal zur Wehr setzen. Auch das freilich kommt nicht nur in der Politik vor.
Wie weit ist die Gleichberechtigung von Frauen in der Wirtschaft, in Wissenschaft, Sport, Kultur und Medien?
Die Diplompsychologin Charlotte Diehl von der Universität Bielefeld hat in einem Forschungsprojekt „Sexuelle Belästigung und Soziosexualität“ untersucht und festgestellt, dass sich die Wahrnehmung von Sexismus oft auf den Arbeitsplatz konzentriere – weil „es relativ gute gesetzliche Regelungen für diesen Bereich gibt und die Aufmerksamkeit deshalb größer ist. Sexismus gibt es aber in vielen Situationen im Alltag, Frauen sind nirgendwo davor sicher“, erklärt sie. Im Café, in der Freizeit oder im öffentlichen Raum könne man direkter Anmache und subtilen Übergriffen aber viel einfacher „entkommen“.
An den deutschen Hochschulen sind bis heute fast 80 Prozent der Professuren von Männern besetzt. Dass Frauen in ihrer wissenschaftlichen Karriere massiv von Vorurteilen gegen ihr Geschlecht behindert werden, Männerbünde die Berufungsverfahren dominieren und Frauen strukturell ausgeschlossen werden, hat auch der Wissenschaftsrat mehrfach festgestellt. Wie der „Gender bias“ in der Wissenschaft durchschlagen kann, hat eine im Magazin „Science“ veröffentlichte Studie am Beispiel des „Geniekults“ klargemacht. Besondere Männerdomänen seien demnach Fächer, deren Vertreter glaubten, Erfolg könne auf ihrem Gebiet nicht ohne „natürliche Brillanz“ erzielt werden. Angeborene geistige Begabung assoziierten die Befragten aber typischerweise mit Männern.
Vor zehn Jahren musste Lawrence Summer als Präsident der Harvard University wegen Sexismus zurücktreten. Er hatte erklärt, weibliche Gehirne seien musischer und für Naturwissenschaften weniger geeignet als männliche, was Protest von Mathematikerinnen und Physikerinnen provozierte.
Auch sexuelle Belästigungen sind an deutschen Hochschulen ein Problem: Die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen hat gerade die Kunsthochschulen ermahnt, Studentinnen besser vor sexualisierter Diskriminierung und Gewalt zu schützen.
Im Sport scheinen Frauen wie Männer – mit jeweiligen Spezialisierungen auf Sportarten – durchaus ähnlich gute Chancen zu haben; wenn man allerdings auf die Strukturen und die Besetzung der Verbände und Vereine blickt, ist das längst nicht so: Da ist der Sport eine Männerwelt.
2014 haben 200 Regisseurinnen kritisiert, dass 85 Prozent aller Filmregie-Aufträge in Deutschland und Europa an Männer vergeben werden, obwohl 42 Prozent der Absolventen der deutschen Filmhochschulen Frauen seien. Sie forderten für Kino- und TV-Produktionen von öffentlich-rechtlichen TV-Sendern, den Filmförderungen und der Politik einen Anteil von 30 Prozent Regisseurinnen bis 2017 und 50 Prozent bis zum Jahr 2024. Die ARD-Filmfirma Degeto hat 2015 zunächst eine Quote von 20 Prozent eingeführt.
In vielen Schauspielensembles der deutschen Theater sind deutlich mehr Männer als Frauen angestellt – begründet wird das immer wieder auch mit der klassischen Bühnenliteratur, die von Männerfiguren dominiert ist. Die Medieninitiative „ProQuote“ hat gerade ermittelt, dass 95 Prozent der Chefredaktionen der deutschen Regionalzeitungen Männer besetzen – auch ihre Stellvertreter sind zu 82 Prozent männlich. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass diese Dominanz von Männern auch inhaltlich und kulturell weiter auf die Geschlechterbilder durchfärbt.
Ist Sexismus eine Frage der Hierarchie?
Laut Diehl ist es „das klassische Klischee, dass der Chef ausnutzt, in der stärkeren Position zu sein, dass er sich das leisten kann. Aber die Statistiken zeigen, dass Sexismus auf der gleichen hierarchischen Ebene häufiger vorkommt.“ Das könne damit zusammenhängen, dass es dort mehr Konkurrenz um Aufstiegschancen gibt.
Und auch Chefinnen sind Opfer von Sexismus. Allerdings werden sie meist nicht direkt mit herabwürdigenden Bemerkungen bedacht. Denn anders als Frauen, die von Vorgesetzten sexistisch beleidigt werden, können sich weibliche Führungskräfte wehren. Dennoch: Eine Bundeskanzlerin als „Mutti“ zu betiteln oder eine Verteidigungsministerin „Flinten-Uschi“ oder „Raketen-Ursel“ zu nennen, ist sexistisch. Ursula von der Leyen (CDU) wurde auch immer wieder auf Bildern gezeigt, auf denen die neue Verteidigungsministerin auf einer Rakete ritt. Harald Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, qualifizierte sie ab, sie habe keine Ahnung vom Militär und führe die Bundeswehr wie eine Hausfrau. Dabei ist die fachfremde Besetzung von Ministerien durchaus üblich.
In Frankreich beschrieben im Mai 17 ehemalige Ministerinnen Erfahrungen mit sexistischer Diskriminierung und drohten, künftig gegen Fehlverhalten männlicher Kollegen offensiv vorzugehen. Auch Hillary Clinton muss sich im aktuellen US-Wahlkampf viel gefallen lassen: Ihr Kontrahent Donald Trump versucht, sie als körperlich schwach darzustellen.
Sind auch Männer von Sexismus betroffen?
Wie auch nicht? Vorurteile gegenüber einem Geschlecht bedingen weitere gegenüber dem anderen. Es existiert also auch Sexismus gegenüber Männern und es gibt tradierte, veraltete Stereotypien von Männlichkeit. Nicht zuletzt die Wehrpflicht lässt sich, wo sie allein für junge Männer gilt, diskriminierend nennen. Das Diktum des geschassten Harvard-Präsidenten basierte auf einem Vorurteil nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch einem gegenüber Männern, die er als weniger musisch, sensibel, sozial klassifizierte – was für Männer wie Mozart, Flaubert oder Gandhi kaum taugt.
Kein Zweifel besteht daran, dass auch Männer und gerade männliche Kinder und Jugendliche unter der Dämonisierung oder Erniedrigung von Frauen leiden: Wenn die von ihnen geliebten Mütter, Schwestern, Freundinnen als „schlecht“, „unrein“ und „minderwertig“ dargestellt werden, verlieren sie Vertrauen und Nähe. Für die Art der Darstellung sorgen in der Regel beide Geschlechter, Väter wie Mütter. Denn beide können in tradierten Rollenklischees gefangen sein – anders hätten sich sexistische Vorurteile nicht über die Generationen stabilisieren können.
Wie gravierend sind die Folgen?
Sexismus widerspricht dem Grundgesetz, Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und Artikel 3, Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Sexistische Grundannahmen können das Potenzial von Menschen massiv einschränken. Vorurteile und Stereotypien können Individuen entwürdigen, hemmen, erniedrigen, ihre Rechte und Freiheiten vereiteln. Sie richten damit psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden an. Denn Sexismus ist die Grundlage für Gewalt, vor allem gegen Frauen – und Gewalt gegen Frauen hat weltweit Folgekosten, die mehrstellige Milliardensummen betragen, wie eine UN-Studie zu globalen und regionalen Folgen von Gewalt gegen Frauen feststellt.
Wenn die Teilnehmerin einer mehrheitlich von Männern besuchten Tagung von männlichen Teilnehmern für die Hostess gehalten wird, die den Kaffee bringen soll, kann sie sich darüber amüsieren, falsch eingeschätzt worden zu sein. Hält die Frau dann einen exzellenten Vortrag, ohne dass die Kollegen im Saal es anerkennen können, hat das negative Folgen für ihren beruflichen Weg – und auch für die betroffene Forschung oder den Geschäftsbereich. Die gesellschaftlichen Kosten dafür sind hoch. Wo aus sexistischen Gründen auf das Potenzial von Frauen verzichtet wird, geht der gesamten Gesellschaft alles verloren, was diese Frauen leisten könnten – ökonomisch, politisch, kulturell, sozial.
Wo Frauen als Objekte, als Dinge behandelt und verhandelt werden, sei es durch sexuelle Gewalt oder durch Diskriminierung, da sind ihre Würde und Selbstachtung bedroht. Es werden ihnen physische wie psychische Verletzungen zugefügt, die nicht zuletzt enorme Folgekosten wiederum für die Wirtschaft und auch für das Gesundheitssystem entfalten. Das Unglück, das Männer, Frauen und Kinder durch eine eigentlich überholte, schlecht funktionierende, nur noch symbolische Ordnung ertragen müssen, ist da noch gar nicht eingerechnet.