Ein Jahr nach dem #aufschrei: Mehr Möpse im „Stern“
Der Aufschrei nach dem "Stern"-Bericht über Rainer Brüderles Frauenbild war gewaltig. Das Magazin, das sich vor einem Jahr am lautesten über alltäglichen Sexismus empörte, provoziert nun selbst einen kleinen #aufschrei.
Ein Jahr ist es her, da gab sich der „Stern“ schwer empört und betroffen – über „Brüderle und die anderen schamlosen Böcke in Nadelstreifen“. Der FDP-Spitzenkandidat hatte einer jungen Reporterin des Magazins zu später Stunde an einer Hotelbar auf den Busen geschaut und in Bezug auf ihre Münchner Herkunft gesagt, sie könne auch ein Dirndl ausfüllen. Die groß aufgemachte Geschichte löste eine heftige Debatte aus, bei Twitter berichteten zehntausende Frauen unter dem Hashtag #aufschrei von ähnlichen Erfahrungen. Überall schien Sexismus zu herrschen, offener und versteckter, nur an einem Ort nicht: beim „Stern“.
Die Initiatorin von #aufschrei, Anne Wizorek, hat vor ein paar Tagen im Tagesspiegel aus einer Untersuchung zitiert, wonach ein Viertel der Deutschen aufgrund der Sexismusdebatte ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht reflektiert hätte. Doch ausgerechnet beim „Stern“ selbst scheint die Freude am eigenen „Herrenwitz“ – so war der Artikel über Brüderle damals überschrieben – wieder aufgeflammt zu sein.
Einige Redakteure, auch aus der Führungsetage, zeigen wenig Hemmung, jüngeren Damen ihren selbstsicheren Charme aufzudrängen. Dabei verrutscht manchem Herren, dessen Lebensalter sich mit Volldampf dem von Brüderle und anderen schamlosen Böcken nähert, dann auch schon mal der Blick eine Etage tiefer. Eben so fühlte sich beim vergangenen Bundespresseball eine recht junge Redakteurin eines anderen Verlages begutachtet. Sie verteilte zu später Stunde die gerade angelieferte Ballzeitung und machte gleich Bekanntschaft mit dem, was der „Stern“ damals meinte, als die Redakteure Franziska Reich und Andreas Hoidn-Borchers beschrieben, woran der „alltägliche und allnächtliche Sexismus“ zu erkennen sei: „Ein bisschen Gockelei, ein taxierender Blick, ein unangenehmes Kompliment. Einfach ein bisschen zu viel chauvinistische Nähe.“ Die Redakteurin erzählt die Situation so: Ein altgedienter und lebenserfahrener „Stern“-Mann habe ihr, der drei Jahrzehnte jüngeren, ihm unbekannten Kollegin tiefen Blickes zugeraunt: „Da will man ja glatt die Zeitung wegwerfen und die Frau behalten!“
Der „Stern“-Mann sagt, später danach gefragt, er könne sich an einen solchen Satz wirklich nicht erinnern und sei erschrocken, weil er sich um einen anderen Umgang mit Kolleginnen bemühe.
Ähnlich direkt, wenngleich etwas drastischer, geht es bei der Investigativ-Elite des Magazins zu. So hatte kürzlich der Leiter der Recherche-Abteilung des „Stern“ einer Berliner Rechtsanwältin per E-Mail einige Fragen geschickt. Die Antwortmail der Anwältin wurde beim „Stern“ an mehrere Kollegen weitergeleitet, darunter eine Justiziarin von Gruner und Jahr. Einer der Enthüllungsreporter quittierte die Auskünfte der Rechtsanwältin daraufhin schriftlich, ebenfalls per Mail und an den gesamten Verteiler, mit der Bemerkung: „Mehr Möpse und mehr Text. Was will man mehr?“
Möglicherweise freute er sich über seinen Herrenwitz, vielleicht wollte er ihn schnell verbreiten, bevor jemand anderes einen ähnlichen Einfall hat. Jedenfalls vergaß der Großautor, der ansonsten seinen Lesern auch schon mal erklärt, dass er sie für asozial hält, die Mailadresse der Rechtsanwältin aus dem Verteiler zu nehmen. Auf diese Weise bekamen sowohl die hauseigene Justiziarin wie auch die externe Juristin einen passablen Eindruck in die Arbeitsatmosphäre des Magazins, das sich als Speerspitze im Kampf gegen Sexismus geriert.
Der Brüderle-Text der „Stern“-Autoren, die derart verhaltensauffälligen Männern damals einen „Testosteroneinschuss wie bei einem Pubertisten“ attestierten, endet übrigens so: „Es ist eine Frage des Respekts, den man sich gegenseitig entgegenbringen sollte, egal welchen Alters, egal welchen Geschlechts. Es geht um ein Mehr an Zivilisation.“
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