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Mit einer Schweigeaktion soll auf das Schicksal der missbrauchten "Kinder von Lügde" aufmerksam gemacht werden.
© Christophe Gateau/dpa

Kindesmissbrauch: Kein Gewaltopfer ist einsamer und ohnmächtiger als ein Kind

112 Kinder starben im vergangenen Jahr durch ihre Eltern. Und die Kleinsten stehen in der Hierarchie der Opfer ganz unten. Ein Zwischenruf.

Ein Zwischenruf von Harald Martenstein

Im Jahr 2019 sind in Deutschland von Tausenden misshandelten Kindern 112 totgeschlagen oder langsam zu Tode gefoltert worden. 93 von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Was mögen die letzten, qualvollen Gedanken dieser Kinder gewesen sein, mit vier, mit fünf?

Sie werden bis zum letzten Atemzug darauf gehofft haben, dass die Menschen ihnen zu Hilfe kommen, die sie lieben, denen sie vertrauen, die Mittelpunkt ihres kleinen Universums sind. Aber oft sind es genau sie, ihre Eltern, die ihnen das antun oder die sie als Sexspielzeug verkauft haben.

In, je nach Statistik, bis zu 20 Prozent der Fälle von sexuellem Missbrauch sind Frauen Mittäterinnen. Von den misshandelten Kindern sind 55 Prozent Jungen.

Schwer, die richtigen Worte zu finden

Weder „Pädophilie“ noch „sexualisierte Gewalt“ sind wirklich die richtigen Worte. Manche Pädophile kämpfen ihr Leben lang erfolgreich gegen einen Trieb, für den sie nichts können und der oft gerade deshalb da ist, weil ihnen einst das Gleiche widerfahren ist.

Manche Täter sind vielleicht gar nicht pädophil, der Tatverdächtige im Mordfall Madeleine hatte zahlreiche Affären mit Frauen. Es geht oft um das Machtgefühl, das einer genießen will.

Ohnmacht kann Menschen zu Tätern machen, ein Wunsch nach Rache, man wiederholt ein Spiel, das man kennt, aber jetzt mit vertauschten Rollen, jetzt als Stärkerer, als Rächer seiner selbst. Oft spielt Sex gar keine Rolle, höchstens eine indirekte, oft geht es nur um Befriedigung durch Gewalt.

Zum Schmerz kommt die Scham

Kein Gewaltopfer ist einsamer und ohnmächtiger als ein Kind. Es wird niemals vergessen, was es erlebt hat, aber das weiß es noch nicht. Das gequälte Kind wächst mit dem Bewusstsein auf, dass es normal ist, gequält zu werden, so ist das Leben, es kennt kein anderes. Es fühlt sich schuldig, weil es sich bestraft fühlt von denen, die es liebt, aber wofür, dafür, dass es lebt? Zum Schmerz kommt die Scham. Das kleine Kind kann nicht weglaufen, nicht telefonieren, es ist ganz und gar Objekt.

Es gibt für das kleine Kind kein Haus, in das es alleine flüchten könnte, es gibt keinen Hashtag, der die Täter weltweit anprangert, es gibt nicht die Möglichkeit, an die Solidarität anderer Kinder zu appellieren.

Es wird keine Großdemonstrationen geben, wenn es stirbt, denn es gibt kein politisches Anliegen, für das die eine oder die andere Partei seinen Tod nutzen könnte. Niemand wird eine Straße nach ihm benennen oder ein Denkmal fordern, als Mahnung an die Nachwelt.

Es werden keine Titelseiten erscheinen, mit den Fotos und den Namen der Opfer. Auch in der Hierarchie der Opfer bleibt dieses Kind das, was es sein kurzes Leben lang war, ganz unten. 112 kleine Särge, zu denen Namen gehören, die nichts bedeuten und morgen vergessen sind.

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