Empfehlungen der Leopoldina: Kehrt schon bald die Normalität zurück?
Die Nationalakademie Leopoldina empfiehlt eine baldige Öffnung der Schulen, Apps zur Virenbekämpfung und schrittweise ein Ende des Shutdowns.
An Beratung mangelt es der Politik nicht. Ungezählte Wissenschaftler aus allen Disziplinen fühlen sich berufen, der Regierung Ratschläge zu erteilen. Und manche sind auch berufen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor Ostern das Augenmerk auf eine Stellungnahme aus einer Einrichtung gerichtet, die selten einmal im Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte stand. „Eine sehr wichtige Studie“, sagte Angela Merkel, werde für ihr weiteres Vorgehen die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften sein.
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Die Organisation ist auch unter dem Namen Deutsche Akademie der Naturforscher bekannt – oder kurz Leopoldina. Sie wurde 1652 gegründet, hat seit 1878 ihren Sitz in Halle und darf sich seit 2008 Nationale Akademie nennen. Politikberatung ist ausdrücklich eine ihrer Aufgaben. Seit Beginn der Coronakrise hat sie in jeweils neu zusammengestellten Arbeitsgruppen schon zwei Stellungnahmen abgegeben.
An der dritten, die am Ostermontag erschien, haben 26 Wissenschaftler vom Virologen bis zum Theologen mitgearbeitet. Auf 18 Seiten legen sie teils konkrete Empfehlungen für vorsichtige erste Schritte aus dem Shutdown vor, teils über den Tag hinaus reichende Erwägungen für den weiteren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der Pandemie. Ein echter Fahrplan ist das aber nicht. Die Forscher betonen selbst, dass sie der Politik die Entscheidungen nicht abnehmen können.
Schulen und Universitäten
Recht konkret sind die Vorschläge nur in einem Punkt: „Bildungsbereich schrittweise öffnen“, lautet die Empfehlung, und zwar „sobald wie möglich“. Denn die Krise führe zu einem „massiven Rückgang der Betreuungs-, Lehr- und Lernleistungen“ und verschärfe so auch die soziale Ungleichheit. Doch müssten auch hier die Risiken für erneute Ansteckungen minimiert werden.
Im Gegensatz zu dem, was manche erwartet hatten, plädieren die Forscher dafür, zügig die Grundschulen und die Sekundarstufe I wieder zu öffnen – also normalen Klassenunterricht für Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre an den Schulen wieder anzubieten. Die Rückkehr zur Normalität solle dagegen in den höheren Klassenstufen erst später erfolgen, da ältere Schüler besser mit digitalem oder analogem Fernunterricht klarkämen.
Den wartenden Abiturienten hilft die Stellungnahme der Leopoldina nur bedingt: „Wenn eben möglich, sollten Prüfungen durchgeführt werden“, heißt es in dem Papier. Zuletzt hatte es Appelle von Schülern und Eltern gegeben, auf Prüfungen zu verzichten und das Abitur auf Basis der bisherigen Ergebnisse der Oberstufenzeugnisse zu erteilen.
Die ganz Kleinen sollten nach Ansicht der Forscher weiterhin daheimbleiben. „Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber Infektionen weitergeben können, sollte der Betrieb in Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden.“ Bis zu den Sommerferien Notbetrieb – so lautet die Leopoldina-Empfehlung.
In jedem Fall sollten weiterhin Vorsichtsmaßnahmen gelten, um das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten. In Kitas und Grundschulen sollten die Gruppengrößen daher klein gehalten werden – fünf Kleinkinder pro Raum, an den Schulen maximal 15 Schüler.
Der Unterricht sollte daher auch zeitversetzt stattfinden und sich vorerst auf wichtige Fächer wie Deutsch und Mathematik konzentrieren. Als erstes sollte der Unterricht in den Abschlussklassen der Primarstufe beginnen, damit diese Schüler auf den Übergang zu weiterführenden Schulen vorbereitet werden können. Generell sollte es mit Rücksicht auf lernschwache Schüler auch Unterrichtsangebote, vor allem digital, in den Sommerferien geben.
Den Universitäten und Hochschulen empfehlen die Forscher, das Sommersemester als Online-Semester bis zum Ende im Juli fortzuführen.
Öffentliches Leben
Die Normalisierung des öffentlichen Lebens binden die Leopoldina-Forscher an drei Bedingungen: die Neuinfektionen müssen sich auf niedrigem Niveau stabilisieren, die nötigen klinischen Kapazitäten sind aufgebaut und die Schutzmaßnahmen – Handhygiene, Mundschutzmasken, Abstandhalten – werden eingehalten. Zudem solle das Identifizieren von Infizierten beschleunigt werden. Je länger der „Shutdown“ aber dauere, „umso weniger lassen sich gravierende ökonomische Folgen vermeiden“ – mit zahlreichen Insolvenzen und einer höheren Arbeitslosigkeit.
Die Forscher geben zu bedenken, dass viele Selbständige und kleine Familienunternehmen ihre Umsätze teilweise völlig eingebüßt hätten. Zunächst könnten, so die Empfehlung, der Einzelhandel und das Gastgewerbe wieder öffnen. Dienstliche und private Reisen sollten wieder möglich sein unter Einhaltung der Bedingungen. Zur Pflicht werden solle das Tragen von Mund-Nasen-Schutz „in bestimmten Bereichen wie dem öffentlichen Personenverkehr“. Wo räumliche Distanz möglich ist, sollten „nach und nach“ auch gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen wieder ermöglicht werden.
Wirtschaft und Finanzen
Bei den Empfehlungen für die Unterstützung der Wirtschaft durch staatliche Maßnahmen bietet das Leopoldina-Papier Bekanntes – kein Wunder, die beiden Ökonomen in der Arbeitsgruppe, der Wirtschaftsweise Lars Feld und Ifo-Institut-Chef Clemens Fuest, haben sich in den vergangenen Tagen schon häufiger dazu geäußert.
Sie regen nochmals Steuererleichterungen an, das Vorziehen der Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags wird gefordert, seine völlige Abschaffung – also auch für Topverdiener und Unternehmen – angeregt. Die von der Regierung für das spätere Jahr und das Wahljahr 2021 schon angekündigten Konjunkturmaßnahmen sollten sich vor allem am Ziel der Nachhaltigkeit orientieren und „grundsätzlich mit den Zielen des europäischen Green Deals vereinbar sein“.
Forschung als Kriseninstrument
Eine gezielte Forschungsstrategie ist für die Leopoldina-Wissenschaftler der Schlüssel, um verantwortungsvoll zwischen den Anforderungen für die Gesundheit und denen für Wirtschaft, Gesellschaft und den Einzelnen abwägen zu können. Der Shutdown sei teilweise aufgrund von Annahmen ohne ausreichende Datenbasis entschieden worden. Das liege einfach daran, dass viele wissenschaftliche Fragen ungeklärt seien. Die gewonnene Zeit müsse jetzt aber genutzt werden, um möglichst viel Wissen nachzuholen. Denn nur dann lässt sich nach Überzeugung der Forscher ein relativer „Normalzustand“ wieder erreichen, ohne dass vorher eine Impfung erfunden wird, die das Virus stoppt.
Notwendig wären dazu einerseits Studien über das generelle Verhalten des Virus, seine Ausbreitung und seine Gefährlichkeit. Dazu kommen sollten Verfahren und Methoden, um die Folgen von Lockerungsmaßnahmen möglichst zeitnah zu verfolgen und neue Ausbruchsherde schnell zu finden und zu isolieren.
In ihrer Stellungnahme legen die Forscher konkrete Fragestellungen vor, die dringend geklärt werden müssten. Bisher seien vor allem Personen auf Corona getestet worden, die Symptome aufwiesen. Das sei angesichts der knappen Test-Ressourcen verständlich, führe aber zu einer „verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens“ – Menschen, die die Krankheit unbemerkt durchgemacht haben, fielen ebenso durch diesen Rost wie die Personen, die in den ersten fünf bis sechs Tagen nach der Ansteckung zwar schon infektiös sind, aber selbst davon noch nichts merken.
Die Leopoldina plädiert jetzt für repräsentative Tests in großem Maßstab und in unterschiedlichen Regionen, wie sie das Robert-Koch-Institut auch schon angekündigt hat. Damit ließe sich feststellen, wie sich das Virus etwa in Familien oder anderen Gruppen verbreitet, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten und Erkrankten ist und wie viele Menschen bereits immun sind.
Für eine Exit-Strategie sind diese Immunen eine besonders interessante Gruppe. Zwar ist noch nicht abschließend geklärt, ob wirklich jeder, der die Krankheit überstanden hat, auf Dauer immun bleibt. Trotzdem könnten etwa Ärzte oder Pfleger leichteren Herzens mit Covid-Patienten umgehen.
Mehr Daten wünschen sich die Leopoldina-Forscher auch über die Verstorbenen: Wie alt waren sie, wie viele hatten welche Vorerkrankungen, welche Rolle spielte die Virus-Infektion bei ihrem Tod und welche möglicherweise andere schwere Krankheiten?
Dahinter steckt die Frage, wer als Risikopatient besonders auf sich achten muss. Eine generelle Isolierung solcher Personen – also etwa der Alten – lehnt die Expertengruppe allerdings aus ethischen Gründen ab. Sie weist zudem darauf hin, dass selbst dann, wenn sich das Risiko des Covid-Todes für den Einzelnen bei besserer Datenlage als eher gering erweisen sollte, das „systemische Risiko“ für das Gesundheitswesen trotzdem hoch bleiben könne – für die Anzahl der gleichzeitig notwendigen Intensivbetten ist es egal, was genau den Patienten in akute Lebensgefahr bringt. Dieses Risiko und nicht die individuelle Todesrate sei ja schließlich der Grund für den Shutdown.
Schließlich fordern die Fachleute neue Methoden der Echtzeit-Überwachung der Pandemie. Sie setzen dabei – neben ständigen repräsentativen Tests an zufällig ausgewählten Personengruppen – stark auf freiwillige „Datenspenden“ der Bürger etwa durch Smartphone-Apps oder Fitnesstracker. Ziel müsse es sein, „regional hochaufgelöste“ Daten zu erhalten, mit denen sich auf Bezirks- oder sogar Kreisebene der Fortgang der Epidemie verfolgen lasse. Denn nur mit solchen Daten lasse sich ein lokaler Wiederausbruch der Seuche rasch eingrenzen und eindämmen. Im Gegenzug könnten dann in Gebieten mit geringer Infektionstätigkeit Einschränkungen früher und stärker wieder aufgehoben werden.
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Als entscheidend für den Erfolg einer Exit-Strategie werten die Autoren aber auch die richtige Kommunikation: „Menschen können erheblich besser mit Risiken umgehen, wenn sie angemessen informiert werden.“ Und sie fordern, bei weiteren Maßnahmen stärker auf Fragen der Gerechtigkeit und Angemessenheit zu achten.
Unter großem Zeitdruck sei verständlicherweise manches sehr pauschal verfügt worden. Die Frage stelle sich aber zunehmend, „ob es nicht mildere Maßnahmen gleicher Effektivität gibt“. Gerade bei der Einschränkung von Grundrechten müsse man prüfen, ob sie weiter angemessen sind – oder nicht sogar mehr Schaden anrichten als nutzen.
Lob von CDU und FDP, Kritik von Linke und SPD
In ersten Reaktionen aus der Bundespolitik wurden die Forderungen der Leopoldina begrüßt. Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen schrieb über den Kurznachrichtendienst Twitter, Grundrechtseingriffe müssen immer wieder neu abgewogen werden. Er forderte erneut einer Rückkehr zur „verantwortungsvollen Normalität“.
Ähnlich äußerte sich auch Christian Lindner (FDP). Der Parteivorsitzende schrieb, man hätte inzwischen Mittel und Erkenntnisse, um den Gesundheitsschutz nach Ostern mit weniger Freiheitseinschränkungen zu gewährleisten.
Scharfe Kritik kommt dagegen von Linken-Parteichef Bernd Riexinger. Er twitterte, die Leopoldina empfehle die Entlastung der Reichen. „Unser Grundgesetzt sagt: Reichtum verpflichtet und das gilt besonders in der Krise!“
Versöhnlichere Töne schlug der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken. Das Gutachten sei überzeugend und zeige Wege aus dem Lockdown. Besonders freue ihn der klare Appell zum Klimaschutz. „Was nicht überzeugt: Soli-Abschaffung ausweiten & der Glaube an Corona-App.“
Auch die Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ lobte die Ansätze bezüglich des verbesserten Umweltschutzes. „Rückschritte im Klimaschutz können wir uns nicht leisten!“ schrieben die AktivistInnen auf Twitter.
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