Afrika: Jung, dynamisch, afrikanisch sucht...
Afrikas Jugend wächst - und der Slogan ihrer Bewegungen lautet oft: Ignoriert uns auf eigene Gefahr. Angst braucht deshalb keiner zu bekommen, aber die Welt muss die Augen aufmachen. Ein Essay
Der Jugend Afrikas Perspektiven zu geben, das ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Allein die Größe der afrikanischen Jugendpopulation müsste uns zu dem Schluss bringen, dass hier eine Macht heranwächst, mit der zu rechnen ist, im Guten wie im Schlechten. Ich glaube „Macht“ ist genau die richtige strategische Kategorie, mit der wir auf diese globale Herausforderung blicken sollten, genauso, wie wir auch den Aufstieg Chinas oder die Digitalisierung als Machtfaktor in der Weltpolitik begreifen.
In Afrika leben schon heute über 1,2 Milliarden Menschen. Innerhalb der nächsten 30 Jahre wird sich diese Zahl verdoppeln. Dann wird der Anteil der Afrikaner an der Weltbevölkerung bei über 20 Prozent liegen. Wir Europäer werden nur noch etwa fünf Prozent der Menschheit stellen. Auf unserem Nachbarkontinent sind schon heute die Hälfte aller Menschen jünger als 18 Jahre. In Deutschland liegt das Median-Alter bei etwa 47.
Die gegenwärtige Zeit der Unruhe und der Konflikte in der Weltpolitik, die Debatten um Migration, Terrorismus, Demokratie usw., sie geben uns eine Vorahnung dessen, was diese gigantischen demographischen Umbrüche für das globale Zusammenleben bedeuten – kulturell, ökonomisch, politisch.
Nun wäre es ein leichtes, den Teufel an die Wand zu malen: Afrikas Jugend als tickende Zeitbombe, die entschärft werden muss. Es wäre ein leichtes, Afrikas Jugend darüber zu definieren, wie sie im Verhältnis zu uns, den Europäern steht, und damit in erster Linie die Gefahr einer nie dagewesenen Massenwanderung zu beschwören. Natürlich müssen wir mit großer Ernsthaftigkeit von den Risiken sprechen, die eine perspektivlose afrikanische Jugend für die Zukunft Afrikas, für die Zukunft Europas, und, ja, für den Weltfrieden darstellt. Vor allem aber sollten wir lernen, die afrikanische Jugend aus sich selbst heraus zu verstehen, mit ihren berechtigten Sorgen und Frustrationen, aber auch mit ihren Träumen und Potenzialen.
Die Fragen afrikanischer Identität sind universeller, als wir ahnen
Wo immer ich kann, treffe ich junge Menschen aus Afrika, um ihnen zuzuhören. Ich habe zum Beispiel vergangenes Jahr am Rande der Berlinale einen Rapper getroffen, so einen echten, mit weiten Hosen, Pudelmütze und Kette. Er heißt Thiat. Auf der Berlinale hatte ein Dokumentarfilm über ihn und seine Hip-Hop-Gruppe Premiere. Die Rapper hatten mit ihrer Protestbewegung 2011/2012 im Senegal dazu beigetragen, dass Präsident Wade, der entgegen der Verfassung für eine dritte Amtszeit gewählt werden wollte, vom Volk abgewählt wurde. Der wichtigste Slogan der Protestbewegung war „Meine Wählerkarte ist meine Waffe.“ Wer sich mit Thiat unterhält, der trifft auf einen klugen, zornigen, kreativen jungen Mann, der nicht einfach hohle Forderungen an die Politik stellt, sondern der eine klare politische Philosophie des bürgerschaftlichen Engagements hat; der deutlich macht, dass ohne Eigenverantwortung und ohne Gemeinsinn der Menschen kein neuer Senegal, kein neues Afrika zu bauen ist.
Thiats Geschichte steht für Ungeduld und Furchtlosigkeit, wie sie seit jeher Schatz der Jugend überall auf der Erde sind. Sie verdeutlicht aber auch die ambivalente Realität der afrikanischen Jugend: die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen über Kunst und Kultur, die Frustration über mangelnde wirtschaftliche Perspektiven, der Kampf darum, als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen zu werden. Lassen Sie mich auf diese drei Dinge etwas näher eingehen.
Es herrscht eine seltsame Asymmetrie
Jugend braucht Identität; und der Suchprozess, der sich in Afrika beobachten lässt, in seinen Filmen und Büchern und Liedern und Kunstwerken, er gehört zum Spannendsten, was die Kultur in diesem Jahrzehnt hervorbringt. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Fragen afrikanischer Identität, die darin verhandelt werden, sehr viel universeller sind, als wir ahnen; vielleicht liegt das daran, dass das fragile Verhältnis zwischen lokaler Verwurzelung und globaler Konsumkultur, dass die Spannung zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Realität, wie sie junge Afrikaner erleben, etwas Grundsätzliches aussagen über unsere Gegenwart, in der die Ambivalenz der Globalisierung uns alle verwirrt. Mich beschleicht dabei das Gefühl, dass in diesen kulturellen Fragen eine seltsame Asymmetrie herrscht: Zwar dominiert der Westen mit seiner Popkultur und seinen Konsummustern den Weltmarkt, und Afrika tut sich noch schwer damit, dem auf globaler Ebene etwas entgegenzusetzen. Andererseits wird genau diese Asymmetrie von den Afrikanern viel besser durchschaut als von uns. So arbeiten junge afrikanische Künstler oft mit einer viel größeren kosmopolitischen Beweglichkeit als so mancher Europäer, der verunsichert darüber ist, dass sein Eurozentrismus nicht mehr die Welt erklärt.
Warum ist das wichtig? Erstens wissen wir längst, dass Afrikas Transformation nur aus sich selbst heraus kommen wird, nicht aus unserem Sendungsbewusstsein oder unseren Belehrungen, und deshalb ist der Suchprozess besonders der afrikanischen Jugend unverzichtbar. Zweitens sollten wir Europäer das auch deshalb mit Neugier verfolgen, weil unsere eigene Kultur und unser eigener Suchprozess, was eigentlich europäische Identität ausmacht - was Heimat ist! - von dem afrikanischen Blick auf uns nur profitieren kann. Und drittens müssen wir die neue globale Realität verstehen: dass nämlich in Afrika eine Generation heranwächst, die ihre eigene Situation nicht mehr mit der ihrer Eltern vergleicht, sondern deren Ambitionen sich an jenem Wohlstand in den Industrieländern orientieren, der zum globalen Maßstab geworden ist. Diese Wahrnehmung hat ganz reale Auswirkungen auf Migrationsmuster, auf Konsumverhalten, auf Lebensentscheidungen der wachsenden afrikanischen Jugendbevölkerung.
Ich frage mich: Investieren wir genug?
Selbst wer den Wohlstand der Industrieländer nicht zum Maßstab macht, muss erkennen, dass die Jugend Afrikas uns vor eine ökonomische Aufgabe in einem nie gekannten Ausmaß stellt. Der IWF hat berechnet, dass bis zum Jahr 2030 jährlich 18 Mio. Jobs geschaffen werden müssten, um die wachsende Jugendbevölkerung auf dem Arbeitsmarkt zu absorbieren. Diese historische Herausforderung verlangt neues Denken - in Afrika, in Europa und in der Weltgemeinschaft.
In Afrika müssen sich die Volkswirtschaften dringend diversifizieren, müssen massiv Industrialisierung und Dienstleistungen gefördert werden. Aber allein dadurch wird sich das Job-Problem nicht lösen lassen. Deshalb müssen zweitens die Jobs im informellen Sektor, vor allem in der familienbetriebenen Landwirtschaft, deutlich produktiver gemacht werden, damit das Einkommen wirklich zum Leben reicht. Und drittens darf man nicht einfach Jobs für die Jugend schaffen, sondern muss die Jugend selbst zum Jobmotor machen: also Entrepreneurship fördern, Start-ups, große und kleine.
Je mehr junge, kreative und wagnisbereite Afrikaner ich treffe, desto mehr bin ich überzeugt: Es ist möglich, dass Afrika ein Kontinent des Wachstums, der Arbeitsplätze und der Lebensperspektiven wird! Das kann gelingen, wenn Europa und die internationale Staatengemeinschaft die Afrikaner dabei unterstützen, den Geist der afrikanischen Jugend zur echten transformativen Kraft auf dem Kontinent zu machen.
Gelingt es nicht, den hunderten Millionen afrikanischer Jugendlichen eine echte Perspektive zu bieten, dann ist das Risiko neuer massiver Instabilitäten in Afrika real, die auch den Rest der Welt nicht unberührt lassen werden. Schon heute zeigen uns ja Terrorgruppen wie Boko Haram in Nigeria oder Al-Shabaab in Somalia, dass es nicht schwer ist, frustrierte junge Menschen für ideologisch oder religiös aufgeladene Gewaltorgien zu gewinnen. Al-Shaabab heißt auf Arabisch übrigens wörtlich: die Jugend.
In Nigeria müssen Politiker mindestens 30 Jahre alt sein
Machen wir uns nichts vor: Die wirtschaftlichen Chancen für viele afrikanische Jugendliche werden auch bei der besten Wirtschaftspolitik nur mittel- bis langfristig besser. Umso wichtiger sind auch andere Formen der gesellschaftlichen Beteiligung. Auf keinem anderen Kontinent ist der Altersabstand zwischen Regierenden und Regierten so groß. Und die Hürden für junge Menschen, sich politisch zu engagieren, sind teilweise absurd hoch. 70 Prozent aller Nigerianer sind unter 30 Jahre alt, aber es gibt keinen einzigen Parlamentarier aus dieser Altersgruppe. Und das ist kein Zufall. Das Mindestalter für eine Kandidatur für das nigerianische Abgeordnetenhaus liegt bei 30 Jahren. Das Beispiel zeigt: Wenn 70 Prozent der Bevölkerung per Gesetz davon ausgeschlossen werden, überhaupt für ein politisches Amt zu kandidieren, dann ist die Frage nach der politischen Partizipation der Jugend eine Grundfrage der Demokratie, und damit auch für die Zukunft Afrikas: denn wer hat denn das größte Interesse daran, die richtigen Weichen für die Zukunft des Kontinents zu stellen, wenn nicht jene, die diese Zukunft selbst noch erleben werden?
In Nigeria regt sich übrigens seit einiger Zeit erfolgreich Widerstand - unter dem Hashtag #nottooyoungtorun machen sich junge Leute für ein Absenken des passiven Wahlalters stark; ein dementsprechendes Gesetz hat die erste Abstimmungshürde genommen.
Ihr Motto: Ignoriert uns auf eigene Gefahr!
Die große Mehrheit der politischen Bewegungen junger Leute in Afrika ist ausdrücklich friedlich. Doch wir sollten uns keine Illusionen machen. Ein Slogan von vielen Jugendbewegungen heißt: „Ignore us at your own peril."
Es gibt eine Debatte, ob die große Jugendbevölkerung in Afrika nicht auch eine demographische Dividende sein könnte, wie sie Europa im 19. Jahrhundert erlebte und wovon auch Asien im 20. Jahrhundert profitierte. Natürlich kann es die demographische Dividende geben. Aber: Eine Dividende ist das Ergebnis einer vorhergehenden Investition. Ich frage mich: Investieren wir genug? Um es ganz klar zu sagen: Die Hauptverantwortung für die Zukunft Afrikas liegt bei den Afrikanern selbst. Und dennoch kommen wir um die Frage nicht herum, und ich entlehne die Metapher von Thiat: welche Waffe gibt eigentlich Deutschland und Europa der afrikanischen Jugend in die Hand? Haben wir verstanden, dass die Aufgabe, den jungen Afrikanern Perspektiven zu geben, so gigantisch ist, dass wir sie selbst auch als politische Priorität annehmen müssen? Bieten wir erstens mehr jungen Leuten aus Afrika die Möglichkeit, für eine Zeit zu uns nach Deutschland und Europa zu kommen, zu lernen, zu studieren, zu forschen! Die europäischen Austauschprogramme sollten massiv ausgebaut und die Stipendienmöglichkeiten hochfahren werden.
Nehmen wir zweitens die Modernisierung der afrikanischen Volkswirtschaften als Großaufgabe für die Weltwirtschaft ernst! Wir brauchen Handels- und Finanzstrukturen, die es den Afrikanern ermöglichen, die reichen Rohstoffvorkommen Afrikas selbst zu verarbeiten, und die es afrikanischen Firmen leichter machen, sich in internationale Wertschöpfungsketten einzuklinken. Überprüfen wir die globalen Rahmenbedingungen, also unsere Handelspolitik, unsere Agrarpolitik und auch die internationale Steuerpolitik konsequent daraufhin, ob sie zu Arbeit und Einkommen in Afrika beiträgt. Die wirtschaftliche Transformation Afrikas wird ohne Strukturwandel in den Industrieländern nicht zu bewältigen sein.
Und drittens, arbeiten wir an einer produktiven Asymmetrie zwischen Afrika und Europa! Ich habe da eine Vision: dass die reichen, alternden Gesellschaften des Nordens nachhaltige finanzielle Brücken bauen zu den armen, jungen Gesellschaften des Südens, dass also die Ersparnisse der einen eine echte Dividende finden mit Realinvestitionen bei den anderen. Das könnte zum Verständnis eines neuen globalen Generationenvertrages führen. Ich bin mir sicher, dass Afrika vorankommen wird. Aber es wird schneller und besser vorankommen, wenn wir unseren Nachbarkontinent dabei unterstützen. Nicht aus Mitleid, nicht aus Angst, sondern weil wir, die alternden Gesellschaften des Nordens, dringend diesen jungen Partner im Süden brauchen.
Der Autor ist Bundespräsident a. D.
Der Beitrag ist die gekürzte Fassung einer Rede, gehalten bei der Else Kröner-Fresenius-Stiftung in Berlin am 9. November 2017. Die Langfassung steht unter www.horstkoehler.de
Horst Köhler