Hilfe für Afrika: Was sagen eigentlich die Afrikaner?
"Ihr nutzt uns immer wieder aus", sagt der kenianische Musiker Ogada - und meint mit "ihr" den Westen. Ist das so? Denken viele Afrikaner so? Aufzeichnungen aus Kenia und Mozambique
Afrika? Der Sachbuchagent winkt ab. Das hat auf dem deutschen Markt keine Chance. Immer dieselben Themen: Armut, Naturkatastrophen, Gewalt. Das interessiert keinen. Außer, der Entwicklungshilfeminister persönlich schreibt. Dann findet sich ein Verlag. Oder ein Romanautor, der auf den Kilimandscharo steigt. Aber sonst?
Wie und was Afrikaner denken, dringt nur selten durch. Nicht mal dann, wenn es um ihren Kontinent geht. Beim G20-Gipfel, auf dem Afrika ein Schwerpunktthema ist und auf dem vieles entschieden wird, was die Menschen dort betrifft, war Südafrika das einzige afrikanische Land am Verhandlungstisch. Auch auf den vielen Konferenzen über Entwicklungspolitik, die ansonsten in diesem Sommer stattfinden, zum Beispiel auf der G20-Afrika-Partnerschafts-Konferenz, treten afrikanische Politiker nur als Zuhörer auf, die später die Programme aus Europa und den USA umsetzen dürfen.
Wieso ist das so? Liegt das an den Afrikanern oder an den Menschen im Westen, die von ihrem eher mitleidigen Afrikaelendsbild nicht abrücken wollen? Und was sagen eigentlich Afrikaner dazu?
Ein Freilichtnachtclub am Rande von Nairobis Geschäftsviertel. Er wird von Italienern betrieben, die auch mal in Berlin gelebt haben, was man sieht. Junge Menschen, schwarz und weiß, sitzen auf alten Autoreifen vor Tischen aus Europaletten, trinken Bier, essen Pizza, kauen das Rauschmittel Khat und rauchen Selbstgedrehte. Es ist eine kühle Nacht nach einem heißen Tag.
„Langweilig“, sagt George, „Europa ist doch langweilig.“ Dann fällt der Strom aus.
George ist Kenianer. Er arbeitet mit Journalisten aus der ganzen Welt, die in Ostafrika recherchieren. Er hilft Reportern, kennt die besten Wege zum Ziel und ein paar der kenianischen Sprachen. Und lästert gern über seine Kunden. Er findet sie wenig originell, weil sie immer die gleichen Geschichten suchen: die über Armut, Naturkatastrophen, Gewalt, Grausamkeit. Es gebe viel besseres zu erzählen, sagt er, Geschichten über das wahre Leben.
Als die Lichter in dem Nairobier Club wieder angehen, erzählt er eine: Im Frühjahr 2013 kamen Reporter aus aller Welt nach Kenia, ein neuer Präsident sollte gewählt werden, und fünf Jahre zuvor waren bei der Wahl Oppositionelle und Regierungsanhänger aufeinander losgegangen. Mehr als 1000 Menschen sind dabei gestorben. Aber 2013 war es ruhig, nirgends Hinweise auf Gewalt. Und dann sendete CNN einen Bericht, in dem ein Kenianer sagte, er und seine Leute bereiteten sich auf einen neuen Stammeskrieg vor.
Die Afrikaner spielen das Spiel mit
Ein Sprecher der kenianischen Regierung erklärte nach der Ausstrahlung, die Journalistin sei Betrügern aufgesessen, und forderte CNN auf, den Beitrag zu löschen, da er nicht nur falsch sei, sondern auch Gewalt anfachen könne. Der zuständige Redakteur widersprach öffentlich, die Reporterin habe ihre Quellen nach den üblichen journalistischen Standards geprüft.
Das CNN-Video kann man bis heute anschauen: Drei Männer mit weiß bemalten Gesichtern und Armen kriechen zwischen Büschen herum, halten aus Eisenstangen geschraubte Waffen in die Kamera, springen grunzend aufeinander herum. Einer trägt Langhaarperücke und Haarband.
Nach der Erzählung von George fällt es schwer, die drei Männer für Rebellen zu halten. Wieso fand die CNN-Reporterin ihren Auftritt glaubhaft? Wieso haben die Männer Rebell gespielt?
George sagt, das größte Problem sei die Erwartungshaltung der ausländischen Journalisten, die immer die blutigen und traurigen Geschichten suchten. Dazu komme der Konkurrenzkampf der zahlreichen kenianischen Kollegen um die wenigen Reporter aus dem Ausland. Das würde viele Kollegen korrumpieren. Um einen Auftrag zu bekommen, würden sie Geschichten zurechtbiegen, dramatisieren und manchmal auch erfinden, sagt George. Er kenne Slumbewohner, die auf Geheiß von grausamen voodoo-ähnlichen Praktiken erzählen, die sie sich ausgedacht haben.
Am 8. August sind in Kenia wieder Präsidentschaftswahlen. Das Auswärtige Amt hat eine Reisewarnung verhängt: Es könne zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen.
Ein Konzert des kenianischen Musikers Ayub Ogada in Nairobi. Er hockt auf einer kaum erhöhten Bühne, zupft die Saiten eines traditionellen Instruments und singt. Auf den Holzbrettern davor sitzen ein paar Leute, weiß und schwarz, sie rauchen. Zwischen Publikum und Bühne zwängen sich immer wieder Fotografen, sie sind aus Japan, USA und Europa. Das Konzert ist ein großes Ereignis für die internationalen Reporter in der Stadt.
Ogada ist international bekannt, sein Lied „Kothbiro“ lief 2016 bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro und in den Kinofilmen „Samsara“ und „Der ewige Gärtner“. In den 80er Jahren hat ein amerikanischer Unternehmer Ogada in einem Nairobier Club entdeckt, wo er E-Gitarre in einer Rockband spielte. Der Amerikaner schickte ihn mit dem traditionellen Saiteninstrument auf Tournee nach Europa, die Truppe hieß African Heritage Band. Ogada blieb in London und spielte in der U-Bahn das Saiteninstrument. Dort hörte ihn ein Mitarbeiter von Peter Gabriel, und lud ihn ein zu einem Weltmusik-Festival. Fast 20 Jahre lebte er insgesamt in Europa. Vor ein paar Jahren kehrte er nach Kenia zurück. Nach dem Konzert wollte ich von ihm wissen, wieso.
Der Westen als imperiale Sonne, um die Afrika kreist
Statt mir eine Antwort zu geben, lud er mich in sein Haus am Victoria-See ein. Ein paar Tage später kam ich dort vormittags an. Seine Frau öffnete die Tür und führte mich stumm ins Wohnzimmer. Ogada lag angezogen und bäuchlings auf dem Sofa. Auf dem Holztisch davor stand eine leere Wodkaflasche, daneben lagen mehrere an einer Ecke aufgerissene Plastiktütchen, in denen in Kenia illegal gebrannter, 60-prozentiger Schnaps verkauft wird. Seine Frau dirigierte mich mit einer Kopfbewegung zu einem Sessel neben dem Sofa.
Gegen ein Uhr mittags wachte Ogada auf. Er zündete sich eine Zigarette an, öffnete eine halbvolle Flasche Wodka, die auf dem Boden neben dem Sofa stand. Während er trank, sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ihr tut es immer wieder“, zischte er. „Ihr nutzt uns immer wieder aus.“ Ihr, die Europäer. Aber wieso hatte er mich dann zu sich nach Hause eingeladen?
Er lehnte sich vor, bis ich seinen Wodkaatem riechen konnte, klopfte mit den Knöcheln auf seinen Kopf und sagte, „das koloniale Denken will einfach nicht raus“. Klopf-klopf. Dann riss er ein Plastiktütchen auf, das er aus einer Ritze des Sofas gefischt hatte, trank es in einem Zug und ließ sich mit geschlossenen Augen zurückfallen. Ich ging.
Der Kolonialismus hat die Köpfe der Afrikaner in mentale Satelliten verwandelt, die um die imperiale Sonne kreisen. Das liegt daran, dass an den allermeisten Schulen noch immer nicht in den afrikanischen Muttersprachen unterrichtet wird, sondern in den früheren Kolonialsprachen.
So heißt es frei übersetzt im neuesten Buch des kenianischen Schriftsteller Ngugi wa Thiongo. Es ist die akademische Version von Klopf-klopf.
Je entwickelter die Länder, desto wütender die Menschen - auf den Westen
Auf einem Literaturfestival in Barcelona, wo er das Buch vorstellte, führte der mehrmalige Nobelpreis-Kandidat aus, dass die Menschen in Kenia wie in anderen Ländern deshalb nachhaltig und kollektiv verunsichert seien, viele sich minderwertig fühlten. Die Diskriminierung ihrer Muttersprache sei ein gewichtiger Grund dafür, dass so viele nicht daran glaubten, dass sie selber Ideen und Innovationen entwickeln können. Dass auch heute heranwachsende Afrikaner ihre Heimat nicht als Produktionsstätte von Wissen und Kultur betrachteten und deshalb nach Europa schielten.
Tatsächlich sind in Kenia die allermeisten hohen Beamten, Politiker und Intellektuellen in Europa oder in den USA ausgebildet worden. Noch immer wird in der Schule erst die Geschichte Englands gelehrt und dann die von Kenia.
Ngugi wa Thiongo selbst schrieb erst sein drittes Buch in seiner Muttersprache Kikuyu, im Jahr 1977, 13 Jahre nach der Unabhängigkeit. Er wurde dafür ins Gefängnis gesteckt. Kikuyu wurde, wie in der Kolonialzeit, mit aufständischem Gedankengut in Verbindung gebracht. Würden an afrikanischen Schulen endlich selbstbewusste Kinder erzogen, würden kaum noch Afrikaner nach Europa wollen, sagte er in Barcelona.
Kenia zählt zu den afrikanischen Ländern, die am meisten Zuwendungen von der Weltgemeinschaft erhalten haben. Fragt man einen beliebigen Kenianer, ob er schon Kontakt mit Entwicklungshelfern hatte, ist die Antwort „Ja“. Das internationale Engagement scheint bei den Kenianern auch die Wut auf die Kolonialzeit und die Europäer entfacht zu haben. Nicht nur Ayub Ogada reagiert allergisch auf Weiße.
In Mosambik ist das ganz anders. Dort grüßen die Menschen Weiße freundlich und sind zur Stelle, wenn ein Koffer getragen werden muss. Das Land gilt als eines der ärmsten Afrikas. Sehr viele Menschen leben noch ganz ohne Geld. Sie essen, was ihre Felder hergeben, und was sie darüber hinaus ernten, tauschen sie auf dem Markt gegen Kleidung, Werkzeug und Saatgut. Geld für Schuluniform und Bücher haben dort noch viel weniger Menschen als in Kenia. Seit weniger als 25 Jahren und nur zögerlich sind dort die Entwicklungshelfer am Werk. Das liegt vor allem daran, dass in Mosambik kurz nach der Unabhängigkeit 1975 ein Bürgerkrieg ausbrach, der bis 1992 dauerte und noch heute schwelt.
Richtlinien von Unternehmen wurden Gesetz
Die mosambikanischen Politiker haben dafür so schnell wie kaum woanders die Auflagen umgesetzt, die an die Zuwendungen der internationalen Entwicklungspolitik geknüpft sind, etwa an die Investitionen im Rahmen des G7-Programms „Neue Allianz für Ernährungssicherheit“. Die Mosambikaner haben die Richtlinien der Unternehmen zum Schutz von Saatgut sofort in Gesetze gegossen. Nur zertifizierte Händler dürfen seitdem die zertifizierten Samen verkaufen, das traditionelle Tauschen ist verboten. Dass die Bauern dadurch kriminalisiert werden, stört niemanden.
Die internationale Privatwirtschaft bekommt bei den aktuellen Programmen der Entwicklungspolitik überhaupt viel Macht, das ist auch beim Marshallplan von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller so. Der Deal: Die internationalen Politiker gewinnen globale Konzerne für Investitionen, die „reformorientierten afrikanischen Politiker“ tun alles, um den Investoren das Investieren in ihren Ländern leicht zu machen. Der historische Name Marshallplan ist natürlich irreführend. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner den Deutschen zwar Geld für den Aufbau gegeben, aber sie haben keine US-Firmen geschickt.
Alberto, ein 29 Jahre alter mosambikanischer Agronom mit kleinem Wohlstandsbäuchlein, ist einer der Gewinner der Entwicklungspolitik. Er hat einen gut bezahlten Job bei einer großen internationalen Saatgutfirma. Jetzt fährt er jeden Tag zu den Bauern auf die Felder und erklärt ihnen, dass verbessertes Saatgut die Ernten verdoppelt, dass die Bauern damit viel Geld verdienen, und dass sie so ihre Kinder in die Schule schicken können. Er erzählt nicht, dass das Saatgut sie in Abhängigkeit bringt. Weil es teuer ist, weil sie es jedes Jahr neu kaufen müssen, weil sie es nicht tauschen können. Weil die Pflänzchen aus den neuen Samen nur mit viel Dünger und Pestiziden wachsen, und weil auch sie bei zu viel Regen oder zu großer Dürre gar nichts abwerfen. Alberto ist überzeugt, dass er alles richtig macht. Er sagt, er mache Business, und da sei sein Ziel möglichst viel Gewinn. Das Gemeinwohl sei zweitrangig.
Warum die Schattenwirtschaft verteufeln? Vielleicht bringt sie was
Weist man die Bauern darauf hin, dass das neue Saatgut Abhängigkeiten schafft, werfen sie einem vor, man wolle sie doch bloß vom Fortschritt fernhalten. Klopf-klopf.
Ob die Bauern mit dem neuen Saatgut und den anderen Investitionen wirklich mehr Geld verdienen, überprüfen weder Alberto noch die Politiker, noch die Firmen. Mosambikaner, die schon an den Programmen teilnehmen, versichern, dass sie weniger Erträge haben, seit die internationalen Unternehmer im Land sind.
Felwine Sarr, ein senegalesischer Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, hat eine Zukunftsvision, die nennt er „Afrotopos“. Die Welt ist kaputt, schreibt Sarr sinngemäß, aber die Afrikaner haben das Potenzial, sie zu retten, mit ganz neuen Ideen, mit einer ganz anderen Sicht auf alles. Voraussetzung dafür, dass die Afrikaner Einfluss nehmen, sei aber, dass sie endlich ihre eigenen geistigen Ressourcen freilegen können, und aufhören, sich an europäischen Maßstäben zu messen. Zum Beispiel sei der große Anteil der Schattenwirtschaft in Afrika nicht zu verteufeln. Die Umverteilung des Wohlstands, die der Staat im Westen über Steuern vornimmt, finde in Afrika zum großen Teil eben informell statt, innerhalb der Großfamilien. Und das sei natürlich nur ein Beispiel. Wenn alle Afrikaner an sich glaubten, sagt Sarr, werde sich die Rolle des Kontinents wandeln.
Vielleicht müssen sich westliche Politiker gar nicht so sehr den Kopf zerbrechen, wie sie Afrika entwickeln könnten, vielleicht sollten sie sich vielmehr fragen, wie die westliche Dominanz abgebaut werden könnte.