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Mit breiter Brust: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
© Michael Kappeler/dpa

Finanzreform für Krankenkassen: Jens Spahns größte Kraftprobe

Jens Spahn geht keinem Konflikt aus dem Weg. Die Finanzreform der Kassen soll sein Meisterstück werden. Doch dafür muss er sich auch mit den Ländern anlegen.

„Sie werden ihn Arnold nennen“, witzelt ein führender Ärztefunktionär. Die Idee, den CDU-Politiker Jens Spahn mit dem einstigen Mister Universum zu assoziieren, kommt nicht von ungefähr – und sie ist nicht nur auf seine massive Statur gemünzt. Denn mit seinem Plan, den Finanzausgleich der gesetzlichen Krankenkassen komplett neu zu regeln, hat sich der bislang keineswegs untätige und Kraftproben geradezu suchende Gesundheitsminister jetzt eine Herkulesaufgabe aufgeladen, die sein Meisterstück werden könnte. Wenn sie ihm denn gelingt.

Es geht um mehr als 220 Milliarden Euro - im Jahr

Um nur mal die Dimension klarzumachen: Bei dem Projekt geht es um die Neuverteilung von nicht weniger als 220 Milliarden Euro im Jahr. Es handelt es sich dabei um die Beiträge von Arbeitnehmern und Beschäftigten zur gesetzlichen Krankenversicherung. Über den Gesundheitsfonds fließt diese Riesensumme – aufgehübscht mit weiteren 14 Milliarden aus Steuern – nach festgelegten Regeln über den sogenannten Gesundheitsfonds an die 108 gesetzlichen Kassen im Land.

Ebendiese Verteilungsregeln hat sich Muskelmann Spahn nun vorgeknöpft – nachdem er vor nicht mal zwei Wochen erst ein kiloschweres und heftig umstrittenes 400-Seiten Gesetz zur besseren Versorgung von Kassenpatienten durch den Bundestag gebracht hat. Sein neues Vorhaben hat als Entwurf – bisher – nur 108 Seiten. Doch um es durchzubekommen, muss sich der Minister diesmal nicht nur mit mächtigen Lobbyisten des Gesundheitssystems, sondern mit noch mächtigeren Bundesländern anlegen. Pikanterweise sind es vor allem unionsregierte. Erst war wenigen Tagen haben ihm seine Ministerkollegen aus Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg, die schon was läuten hörten, einen Warnbrief geschickt. Spahn hat ihn, kraftstrotzend, ignoriert.

Ärger über Kassenbenachteiligung und Manipulationen

Worum also geht es und warum wirft sich der Minister in eine derartige Schlacht mit ungewissem Ausgang? Seit Jahren klagen Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen dass der im Jahr 2009 eingeführte Risikostrukturausgleich die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) bevorteilt – und dadurch den Wettbewerb im System massiv beeinträchtigt.

Die AOKen sehen das naturgemäß anders, doch es ist Fakt, dass sie seit der Reform finanziell deutlich besser dastehen als ihre Mitbewerber. Gleichzeitig wurden Vorwürfe laut, dass einige Kassen – insbesondere aus dem AOK-Lager – bei den Krankheitsdiagnosen ihrer Versicherten besonders „kreativ“ geworden sind und entsprechenden Druck auf Ärzte ausgeübt haben. An diesen Diagnosen nämlich orientieren sich auch die Zuweisungen aus dem Fonds: Je kränker ihre Versicherten auf dem Papier, desto mehr Geld erhalten die Versicherer.

Dass es so nicht so bleiben konnte, war allen in der Branche klar. Auch den politischen Experten: Im Koalitionsvertrag findet sich der Vorsatz, den bisher an Alter, Geschlecht und Krankheiten der Versicherten orientierten Risikoausgleich „mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulation schützen“ zu wollen.

Vom Vollausgleich für alle Krankheiten bis zum Risikopool

Spahn geht das jetzt mit verschiedenen Maßnahmen an. Er weitet die Zahl der Krankheiten, die für den Finanzausgleich relevant sind, von bisher 80 auf alle 360 überhaupt kodierbaren Diagnosen aus. Er plant einen „Risikopool“ für Kassenversicherte mit besonders schwere Krankheiten, deren Jahrestherapie mehr als 100.000 Euro verschlingt. Er will auch regionale Unterschiede – etwa den Anteil von ambulant Pflegebedürftigen – in den Ausgleich einfließen lassen. Er möchte Kassen, die bei Vorsorge und Impfungen besonders aktiv sind, finanziell belohnen. Und er sieht bei der Geldverteilung auch eine „Manipulationsbremse“ vor: Wenn bestimmte Krankheitsdiagnosen auffällig ansteigen, sollen sie künftig aus dem Finanzausgleich fallen.

Das alles mag aus Gerechtigkeitsgründen geboten sein oder mehr Gleichmacherei bedeuten: Die Fachmeinungen gehen auseinander. Doch Spahn wäre nicht Spahn, wenn er es dabei beließe. Er will jetzt auch, wenn er schon mal dabei ist, „vollständige Wahlfreiheit“ für die Versicherten. Bislang, so argumentiert er, stünden von den zehn größten Krankenkassen nur vier bundesweit zum Beitritt offen. "Es ist nur schwer zu vermitteln, warum einem gesetzlich Versicherten attraktive Zusatzleistungen, bestimmte Wahltarife oder günstigere Beiträge verwehrt werden, nur weil er scheinbar am falschen Ort wohnt", schrieb Spahn in einem Gastbeitrag im "Handelsblatt".

Ortskrankenkassen sollen sich bundesweit öffnen

Konkret bedeutet das: Die elf AOKen, die bisher nur regional zugänglich sind, sollen sich bundesweit für alle öffnen. Dadurch wäre der Rosinenpickerei durch günstige Versorgungsstrukturen in bestimmten Regionen ein Riegel vorgeschoben. Für manchen Wechselwilligen könnte sich das lohnen. Denn in ihrer Beitragshöhe unterscheiden sich die AOKen ganz erheblich. Während sie in Bayern und Rheinland/Hamburg stolze 1,1 Prozent als Zusatzbeitrag nehmen, verlangt beispielsweise die AOK Sachsen-Anhalt nur 0,3 Prozent.

Zweiter Vorteil aus Spahns Sicht: Die AOKen könnten bei einer bundesweiten Öffnung nicht länger von Landesaufsichten profitieren, die sie im Zweifelsfall lieber verhätscheln als an die Kandare nehmen. Sie unterlägen dann, wie alle anderen gesetzlichen Kassen auch, dem Bundesversicherungsamt. Es gehe auch darum, "Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlichen Aufsichtshandelns" zu beseitigen, bringt es der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, auf den Punkt.

Länder fürchten Machtverlust

Mit alldem verbunden wäre ein Machtverlust der Länder – gegen den diese heftig protestieren. Ihr Land lehne "eine bundesweite Öffnung aller landesunmittelbaren Krankenkassen stritk ab", erklärte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) umgehend. Ihre Begründung: "Bei nur noch bundesweiten Krankenkassen und dem Wegfall starker regionaler Träger wie zum Beispiel der AOK Bayern ist eine Vernachlässigung der Region als Ort von zielgerichteten Leistungen und flächendeckendem Service im Gesundheitssystem zu befürchten."

Die Grünen-Expertin Maria Klein-Schmeink nennt den AOK-Vorstoß des Ministers denn auch „gezielte Provokation“. Und der Chef des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, Franz Knieps, erkennt darin einen „typischen Spahn“. Was der Minister vorlege, stehe so nicht im Koalitionsvertrag.

Doch Spahn sieht sich in großer Tradition. Mit den legendären Beschlüssen von Lahnstein ermöglichte die Politik den gesetzlich Versicherten 1992 erstmals freie Kassenwahl, erinnert er. Die Reform gilt als Meilenstein der deutschen Sozialgeschichte. Nun, so findet der Gesundheitsminister, sei in Sachen Wettbewerb und bessere Versorgung der nächste Schritt fällig. Und zwar unter ihm.

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