Chaotische Maskenbestellungen: Jens Spahn muss sich vor dem Kartellamt verantworten
Ernst & Young wurde mit der aus dem Ruder gelaufenen Schutzmasken-Beschaffung beauftragt – ohne Ausschreibung. Nun entscheidet das Kartellamt, ob das rechtmäßig war.
Aufträge an Wirtschaftsberatungsgesellschaften gehören im politischen Geschäft zum Alltag für die verantwortlichen Minister. Die politische Karriere der heutigen EU-Kommissionspräsidentin und ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) scheiterte fast an einem um McKinsey gruppierten Beraterheer in Verteidigungsministerium und Bundeswehr.
Und in der gerade immer weiter hochkochenden Wirecard-Affäre spielen die Wirtschaftsberater von Ernst & Young (EY) offenbar eine zentrale Rolle, über die womöglich bald in einem Untersuchungsausschuss gesprochen wird. Nicht unwahrscheinlich, dass dabei auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgeladen werden könnte, der seinerzeit als parlamentarischer Staatssekretär unter Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) FinTech-Beauftragter des Ministeriums war.
Doch Ernst & Young könnte Spahn auch vorher schon Kopfschmerzen bereiten: Dann nämlich, wenn das Bundeskartellamt entscheidet, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) EY rechtswidrig damit beauftragt hat, ein aus dem Ruder gelaufenes Open-House-Verfahren zur Beschaffung von Atemschutzmasken und Schutzausrüstungen zu managen.
Spätestens Anfang September wird, wie der Tagesspiegel Background erfuhr, von der 2. Vergabekammer des Kartellamts über den Fall entschieden. Spahn hat sich für das Verfahren eine renommierte Vergaberechts-Kanzlei an die Seite geholt.
Mindestens 30 weitere Verfahren anhängig
Und es ist bei weitem nicht der einzige Prozess im Zusammenhang mit dem Open-House-Verfahren: Vor dem Landgericht Bonn sind derzeit mindestens 30 Verfahren anhängig. Derweil verhandelt EY mit einem alten politischen Bekannten und CDU-Politiker über einen – millionenschweren – außergerichtlichen Vergleich für mehrere Mandanten, wie der Redaktion vorliegende Korrespondenzen belegen.
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Ende März wurde das Open-House-Verfahren im BMG ausgearbeitet. Ziel war es, im Zuge der Corona-Krise möglichst schnell an Atemschutzmasken und Schutzausrüstungen zu kommen. Der Bund verpflichtete sich auf diese Weise, mit allen Anbietern, die ein Angebot machten, einen Vertrag zu schließen und Masken abzukaufen. Wegen des überdurchschnittlichen Abnahmepreises – 4,50 Euro für FFP-2- und 60 Cent für OP-Masken – meldeten sich jedoch weit mehr Händler, als vom BMG offenbar erwartet, es wurden über 700 Verträge geschlossen.
Als Partner agierte die Fiege Logistik, ein Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen, das mit der Annahme der Masken nach übereinstimmenden Berichten völlig überfordert war. Später kam deswegen als weiterer Lieferant im Open-House-Verfahren noch die Stölting Sales & Service GmbH hinzu, ebenfalls ansässig in NRW.
Als sich Ende April abzeichnete, dass Fiege nicht, wie vertraglich vereinbart, die Masken bis zum 30. April abnimmt, der im Open-House-Verfahren festgelegte späteste Liefertermin von den Lieferanten also nicht bedient werden konnte, begannen die ersten Anwälte mit ihrer Arbeit. Sie verlangen vom BMG Abnahme und anschließende Bezahlung der Ware, berichten aber unisono, vom Ministerium keinerlei Antworten zu bekommen.
Es geht dabei um Auftragsvolumen im Milliardenbereich. Das BMG beruft sich darauf, dass etwa ein Fünftel der gelieferten Masken wegen mangelhafter Qualität nicht angenommen würden. Lieferanten beklagen, dass sie nicht die Möglichkeit erhielten, vorgeblich mangelhafte Ware zurückzunehmen und auch keine Prüfberichte zu Gesicht bekämen.
Im Mai übernahm EY die „operative Betriebsführung“ für das BMG im Open-House-Verfahren, schrieb allerdings schon vorher Mails in der Angelegenheit. Bereits im Juni bestätigte das BMG dem Tagesspiegel Background, dass der Auftrag an EY nicht ausgeschrieben worden war. Ob dies geltendem Recht entsprach, wird nun das Bundeskartellamt prüfen.
Vor einem Monat reichte eine Anwaltskanzlei zusammen mit einer Steuerberatungsgesellschaft eine sogenannte Verfahrensrüge wegen der EY-Vergabe beim BMG ein. Das Vertragsverhältnis mit EY, so die Forderung, sollte „unverzüglich“ beendet, die Vergabe erneut ausgeschrieben werden. Als das BMG das in einem Schreiben Ende Juni erwartungsgemäß ablehnte (Schriftverkehr liegt vor), stellte der Anwalt Mitte Juli einen Antrag auf ein Nachprüfungsverfahren bei der 2. Vergabekammer des Bundes, also beim Bundeskartellamt.
In der ersten Antwort des BMG bat das Ministerium dann für die Stellungnahme um eine Fristverlängerung, die am Freitag ablief. Außerdem wurden vom Ministerium Vertreter für das Verfahren benannt: die Kanzlei „Müller-Wrede & Partner Rechtsanwälte“. 18 Anwälte werden in dem Schreiben aufgelistet, als erster der profilierte Vergaberechtler Malte Müller-Wrede.
Geld zu knapp bemessen
Aufhorchen lässt auch eine andere Information in dem Schreiben des BMG. Demnach wurde EY am 7. April dieses Jahres mit Rechtsberatungsleistungen beauftragt. Das war einen Tag, bevor die Bewerbungsfrist für Händler im Open-House-Verfahren endete, die Angebotsflut dem Ministerium aber sicher schon bekannt war. 29.000 Stunden haben insgesamt 112 EY-Anwälte bislang für das Open-House-Verfahren gearbeitet, wie aus der dem Tagesspiegel Background vorliegenden Antwort von BMG-Staatssekretärin Sabine Weiss (CDU) auf eine Kleine Anfrage des Linken-Fraktionsvize im Bundestag, Fabio de Masi, hervorgeht. 9,5 Millionen Euro seien für den Auftrag vorgesehen, der noch bis 15. November laufe.
Diese Summe dürfte äußerst knapp bemessen sein: Schon jetzt läge bei den geleisteten Arbeitsstunden der Stundenlohn bei Ausschöpfung der 9,5 Millionen Euro unter dem durchschnittlichen Stundensatz von Fachanwälten. Und es ist noch nicht einmal die Hälfte der Vertragslaufzeit und sicher auch nicht der anwaltlichen Arbeit abgeleistet.
Aus der Antwort auf die Kleine Anfrage geht zudem hervor, dass neben EY und weiteren Rechtsanwaltskanzleien (zum Beispiel wieder Müller-Wrede) unter anderem auch die Wirtschaftsberatungskanzlei Dentons Europe LLP und die Wegweiser GmbH, ein Kommunikationsdienstleister aus Berlin, vom BMG in der Open-House-Angelegenheit beauftragt wurden. EY selbst sei seit 2015 mittlerweile drei Mal ohne Ausschreibung vom BMG berücksichtigt worden.
Die Verfahrensrüge beim Kartellamt wurde vom Hanauer Rechtsanwalt Harald Nickel eingereicht. Er wisse, dass er aus dem Verfahren wahrscheinlich keinen wirtschaftlichen Gewinn ziehen werde. „Mir als Vergaberechtler geht es insbesondere um Klärung, wann der Bund rechtlich und politisch gehalten ist, sich an Pflichten und Prinzipien gesetzlich vorgeschriebener Formen der Vergabe zu halten“, erklärt er auf Anfrage. „Gleich wie mein aktuelles Verfahren ausgeht, es schärft vielleicht das Bewusstsein, dass die Einhaltung der gesetzlichen Grundprinzipien den Steuerzahler und gewollten Wettbewerb vor möglichem Missbrauch schützen soll und schützt.“
Das BMG bestätigt, dass es inzwischen seine Stellungnahme beim Kartellamt abgegeben habe, die mündliche Anhörung ist nun für Mitte August terminiert. Bis spätestens 2. September wolle man entschieden haben, wie aus einem vorliegenden Schreiben des Kartellamts hervorgeht.
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Dort äußert man sich auf Anfrage nicht zu dem Verfahren, erläutert nur Grundsätzliches. „Im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens können die Vergabekammern auch die Unwirksamkeit eines bereits geschlossenen Vertrages feststellen, wenn der Auftraggeber den Auftrag ohne öffentliche Ausschreibung vergeben hat, ohne dass dies aufgrund eines Gesetzes gestattet ist.“ Sollte die Vergabekammer entscheiden, dass der EY-Auftrag zu Unrecht vergeben wurde, dürfte das Vertragsverhältnis also nicht wirksam sein.
Die Preise für die bis dahin erbrachten Leistungen, so die Einschätzung von Rechtsanwalt Nickel, müssten neu bestimmt werden. Die Beauftragung beruht in ihrer jetzigen Form auf Modalitäten anderer EY-Aufträge, die das BMG in der Vergangenheit erteilt hat. Das bestätigte das Ministerium auch Mitte Juni in seinem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages, der der Redaktion vorliegt.
Mehr Geld eingeplant als bereitsteht
Aus dem Bericht wird auch ersichtlich, dass das BMG ursprünglich sehr viel mehr Geld für das Open-House-Verfahren eingeplant hatte als jetzt bereitsteht. Am 20. April schrieb Bettina Hagedorn (SPD), Staatssekretärin im Finanzministerium, an den Vorsitzenden des Haushaltsausschuss, dass man die am 15. April vom BMG für das Open-House-Verfahren beantragten zusätzlichen 5,5 Milliarden Euro bereitstellen werde (Brief liegt vor).
Weitere knapp drei Milliarden seien für andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie kurzfristig und, wegen der Notlage, ebenfalls ohne Konsultierung des Haushaltsausschusses genehmigt worden. Im BMG-Bericht an den Ausschuss heißt es dann später aber, dass für die Open-House-Beschaffung nur noch 946 Millionen Euro eingeplant seien, von denen man bislang 409 Millionen ausgegeben habe.
Zahlen, die vor allem bei jenen für Aufregung sorgen dürften, die seit Monaten auf Nachricht von EY oder dem BMG warten, wann denn nun die ausstehenden Zahlungen oder Begründungen für die Nicht-Annahme der Ware geliefert werden. „Die Reduzierung ergibt sich aus der Differenz zwischen Zuschlägen im Zuge des Open House-Verfahrens und der tatsächlich gelieferten Menge“, erklärt das Ministerium dazu Tagesspiegel Background.
In der Zurückweisung von gelieferten Masken sieht das BMG jedenfalls deutliches Sparpotenzial, das EY ausschöpfen könne. In der Antwort auf die Kleine Anfrage von de Masi werden „Einsparungen durch Abweisung bzw. Rückgabe von minderwertiger Ware“ genannt. „Zum 30. Juni 2020 wurden durch Rücktritte Einsparungen im Wert von rund 550 Millionen Euro erzielt. Durch die systematische Prüfung von Rechnungen der Auftragnehmer konnte zudem eine Vielzahl der Rechnungen zugunsten des Bundes korrigiert werden.“
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Die abschließende juristische Bewertung dürfte aber in den allermeisten Fällen noch ausstehen. So erklärt das Landgericht Bonn auf Anfrage, dass – Stand Mitte letzter Woche – 30 Klagen gegen das BMG im Zusammenhang mit dem Open-House-Verfahren vorlägen. Eine Woche vorher waren es noch 20. Die Klagen landen dabei in Bonn, weil das BMG hier offiziell seinen Hauptsitz hat.
Rolf Bietmann unterhält auch in Bonn einen seiner vielen Standorte seiner Rechtsanwaltskanzlei, sucht aber erst einmal eine Lösung in Berlin, wo er gerade Open-House-Vertragspartner gegen das BMG vertritt. Bietmann ist ein profilierter Wirtschaftsjurist und dürfte Spahn auch persönlich bekannt sein: Wie der Minister kommt der langjährige Kölner Lokalpolitiker Bietmann aus dem NRW-Landesverband der CDU.
Von 2002 bis 2005 saß er im Bundestag, zog dort also gemeinsam mit Spahn ein. Für ein Gespräch ist Bietmann aus Urlaubsgründen derzeit zwar nicht zu erreichen, der Redaktion liegt aber ein Schreiben des Professors an die Ernst & Young Law GmbH vor. In diesem bietet der Anwalt im Namen eines Mandanten dem BMG einen Vergleich an.
Bietmann schildert in dem Brief die gängige Erfahrung sehr vieler Open-House-Vertragspartner. Sein Mandant habe Millionen Masken wie vertraglich vereinbart beschafft. Dann aber habe am 30. April die mittlerweile zwischengeschaltete Firma Stölting die Nachricht erreicht, dass Fiege Logistik keinen Lieferslot bereitstellen könne, die Masken also noch weiter beim Lieferanten gelagert werden müssten. Eine spätere Lieferung sei gescheitert, weil Fiege mit dem Verfahren „überfordert“ gewesen sei. Später habe man eine Teilmenge der Lieferung angenommen, um später vom Vertrag zurückzutreten – „ohne Rechtsgrundlage“, so Bietmann.
25-Prozent-Schadenersatz-Vergleich als Lösung?
Der Anwalt schlägt dem BMG nun zwei Wege zu einem Vergleich vor: Entweder könne dieses die vereinbarte Menge an Masken abnehmen, zu einem noch zu verhandelnden Preisnachlass. Alternativ könne man aber auch auf die Lieferung verzichten, wenn es im Gegenzug eine Schadenersatzleistung gebe. Und zwar in Höhe von mindestens 25 Prozent des im Vertrag vereinbarten Preises.
Bietmann bezieht sich in seinem Schreiben auf ein Gespräch, dass er zuvor mit der führenden Open-House-Beauftragten bei EY geführt habe. Es spricht also einiges dafür, dass der 25-Prozent-Schadenersatz-Vergleich einer sein könnte, mit dem sich EY und damit das BMG gerade anfreunden und der dann auch anderen Lieferanten angeboten werden könnte.
Je nachdem, wie viele Händler sich juristische Hilfe holen und welche Summen bei ihnen ausstehen, könnten bei diesen Vergleichen schnell dreistellige Millionenbeträge zusammenkommen – ohne, dass der Bund dafür auch nur eine Maske erhielte.
Für Karsten Klein wäre das die schlechteste denkbare Lösung. Klein sitzt für die FDP im Haushaltsausschuss des Bundestags, zudem ist er für seine Fraktion Berichterstatter der Haushaltspläne des BMG. „Insgesamt betrachtet scheint sich das Open House-Verfahren nicht bewährt zu haben“, sagt er. Setze man ursprünglich veranschlagte und letztlich ausgegebene Mittel in Relation, „scheint zwischen Aufwand und Ertrag eine unverhältnismäßig große Lücke zu klaffen“, so Klein. „Unbedingt zu berücksichtigen sind hierbei auch die juristischen Auseinandersetzungen sowie die Beratungskosten.“
Klein plädiert dafür, „nicht fristgerecht an das BMG gelieferte Schutzausrüstung, die den qualitativen Anforderungen genügt, in die Nationale Reserve zu überführen“. Diese Reserve wurde vor einigen Monaten von Minister Spahn angekündigt, bis Ende 2021 sollen hier 3,6 Milliarden Masken vorrätig sein. Beim BMG wird Kleins Vorschlag zumindest nicht abgelehnt. „Inwieweit auch persönliche Schutzausrüstung aus dem OH-Verfahren eingehen wird, wird die Entwicklung der Nachfrage in den nächsten Wochen zeigen“, erklärt eine Sprecherin dazu.
Zum Vergleichsangebot der Kanzlei Bietmann äußert sich das Ministerium indes nicht, wegen des „laufenden Verfahrens“. Und ob die Ernst & Young Law GmbH die Vertretung des BMG bei den Verfahren vor dem Landgericht Bonn übernehme, sei zum jetzigen Zeitpunkt „noch nicht entschieden“.