„Mitte-Studie“: Jeder zweite Deutsche hat Vorbehalte gegenüber Asylsuchenden
Seit 2002 erforschen Wissenschaftler für die Friedrich-Ebert-Stiftung „menschenfeindliche Einstellungen“ in der Gesellschaft. Drei Gruppen fallen besonders auf.
Es gibt gute und schlechte Nachrichten. So ist es immer, wenn die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) alle zwei Jahre die Ergebnisse ihrer repräsentativen „Mitte-Studien“ vorstellt. Seit 2002 gehen Wissenschaftler dabei Fragen wie diesen nach: Wie weit sind rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Gesellschaft verbreitet? Wie viele Menschen lehnen Juden und Muslime ab oder verachten Homosexuelle und andere Minderheiten? Für die aktuellen Zahlen haben Wissenschaftler von der Universität Bielefeld fast 2000 Menschen befragt. Die Antworten fallen auch in diesem Jahr gemischt aus.
Jeder Zweite spricht negativ über Asylbewerber
Zuerst die schlechte Nachricht: Insgesamt sei die „Zustimmung zu menschenfeindlichen Vorurteilen in den letzten fünf Jahren nahezu unverändert“, heißt es in der Studie. Vor allem die Ablehnung von Zugewanderten, Muslimen und Juden sei seit 2014 stabil. „Negative Einstellungen gegenüber Asylsuchenden haben sogar zugenommen: Jede zweite befragte Person stimmt negativen Meinungen gegenüber Asylsuchenden zu.“ Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist rückläufig, die Ablehnung ist es nicht. Sie ist von 49,5 Prozent vor zwei Jahren auf aktuell 54,1 Prozent gestiegen. „Wenn die Zuwanderung zurückgeht, bleibt das Vorurteil“, sagt Andreas Zick von der Universität Bielefeld.
Im Alltag am meisten zu spüren bekämen die rechten Einstellungen solche Gruppen, die in der „öffentlichen Debatte als nicht zugehörig angesehen werden“, sagt Zick. Die Studie zeigt, dass die Abwertung von Sinti und Roma mit 26 Prozent sowie fremden- und muslimfeindliche Einstellungen mit je 19 Prozent relativ stark sind. „Und auch der klassische Antisemitismus mit seinen Verschwörungsmythen ist mit fast sechs Prozent stabil verbreitet“, erklären die Forscher. „Modernen Formen des Antisemitismus, die sich auf Israel beziehen, stimmten erneut 24 Prozent der Befragten zu.“
Drei Gruppen fallen besonders auf: AfD-Wähler, Gewerkschaftsmitglieder und junge Menschen. Die Anhänger der AfD zeigten eine „deutlich häufigere Zustimmung zu menschenfeindlichen Einstellungen“. Gewerkschaftsangehörige stimmten zu 16 Prozent rechtsextremen Aussagen zu, während das nur für neun Prozent der Nicht-Gewerkschaftsmitglieder gelte. Die Jüngeren in der Gesellschaft seien in der Vergangenheit „weniger menschenfeindlich und rechtsextrem eingestellt“ gewesen als Ältere. Doch das ändere sich jetzt. Die Jungen „ziehen bei einer Reihe von Abwertungen und Dimensionen rechtsextremer Einstellungen nach“.
Rechtspopulismus ist normaler geworden
Im Schnitt befindet sich die Zustimmung zu offen rechtsextremen Aussagen allerdings auf relativ niedrigem Niveau: „Lediglich zwei bis drei Prozent der Befragten äußern sich klar rechtsextrem.“ Dabei habe sich der Osten dem Westen wieder angeglichen – während vor zwei Jahren rechtsextremes Gedankengut mit 5,9 Prozent im Vergleich zum Westen (2,3 Prozent) mehr als doppelt so häufig war.
Anders sieht es bei den „weicheren rechtspopulistischen Einstellungen“ aus. Die hätten seit 2014 zwar nicht zugenommen, zeigt die FES-Studie. Aber: „Rechtspopulistische Einstellungen sind stabil und das heißt, sie sind in der Mitte normaler geworden.“ Im Osten ist das häufiger zu beobachten als im Westen – so liegt etwa die Ablehnung von Asylsuchenden im Westen bei 51 Prozent, in den ostdeutschen Ländern bei 63 Prozent. Die verstärkte Tendenz zum Rechtspopulismus in Ostdeutschland erklärt Zick mit einem weit verbreiteten „Gefühl der Machtlosigkeit“. Hinzukomme eine im Osten häufig „gefühlte Benachteiligung“, sagt Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein. Die reale wirtschaftliche Situation des Einzelnen spiele eine untergeordnete Rolle bei der Frage, ob jemand zum Anhänger von AfD und Co werde.
Auch „neurechte“ Einstellungen finden mittlerweile deutlichen Zuspruch in der Gesellschaft. „Der offene, harte Rechtsextremismus wird durch moderne Formen abgelöst, darin steckt aber das alte völkische Denken“, sagt Küpper. Laut der FES-Studie glaubten Neurechte an das „Leitbild eines vorherrschenden einheitlichen ‚deutschen Volks‘ und rufen zum Widerstand gegen Politik und Eliten auf“. Gut ein Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu „Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit“. Ein Viertel glaubt, Deutschland werde vom Islam unterwandert, 55 Prozent vertreten die Ansicht, es gebe hierzulande ein „Meinungsdiktat“.
Entwarnen will Zick deshab nicht. Die Mitte sei insgesamt nach rechts gerückt, extrem rechte Ansichten hätten sich verfestigt. „Wir haben eine Stabilisierung“, sagt Zick, „eine Verkrustung.“ In der Studie heißt es: „Wenn rechtsextreme Einstellungen in der Mitte geteilt werden, geht der historisch gewachsene demokratische Kern der Mitte verloren.“ Es drohe der Verlust der gesellschaftlichen Mitte – und damit der „ausgleichenden Kraft in der Demokratie“, wie Zick sagt.
Von Verschwörungstheorien bis zur Gewalt
Zum ersten Mal untersucht die „Mitte-Studie“ auch die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Die finden teils hohen Zuspruch in der Gesellschaft. Fast ein Viertel der Befragten meint, Politik und Medien steckten unter eine Decke. 46 Prozent glauben sogar an „geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben“. Die Anhänger solcher Thesen zeigten eine „höhere Gewaltbereitschaft gegen andere“, heißt es in der Untersuchung. Jonas Rees von der Universität Bielefeld sagt: „Wenn Verschwörungstheorien sogar Gewalt legitimieren, dann können sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie als solche gefährden.“
Trotz der „Verhärtung von menschenfeindlichen und antidemokratischen Meinungen“, die von den verantwortlichen Wissenschaftlern diagnostiziert wird, betonen die Forscher auch „positive Entwicklungen“: „Mehr als 80 Prozent der Befragten finden es gut, wenn Menschen sich gegen die Hetze gegen Minderheiten einsetzen und sie fordern eine vielfältige Gesellschaft.“ 86 Prozent der Befragten stehen klar hinter der Demokratie.
„Wenn ein Großteil der Befragten die Demokratie und ihre Werte befürwortet, ist das zunächst ein gutes Zeichen“, sagt Wilhelm Berghan von der Universität Bielefeld. „Allerdings zeigt gleichzeitig die Hälfte der Befragten beispielsweise Menschenfeindlichkeit gegenüber Asylsuchenden und bis zu einem Drittel illiberale Demokratievorstellungen. Ein Teil der Bevölkerung wir den eigenen Werten nicht gerecht.“
Andreas Zick, der Direktor des Instituts in Bielefeld, das die Studie durchgeführt hat, fordert mehr Demokratiebildung. Menschenfeindliche Meinungen dürften nicht verharmlost werden, es brauche mehr Anstrengungen, um Vorurteile in der Gesellschaft abzubauen: „Lippenbekenntnisse zur Demokratie werden nach der Studie nicht reichen.“
Paul Starzmann