Ursachen des Rechtspopulismus: „Demokratie funktioniert nur, wenn sie sich stets erneuert“
Worin liegen die Wurzeln des Rechtspopulismus? Ein Gespräch mit der Historikerin Christina Morina über Bürgerbewegte und neue Formen der Beteiligung.
Frau Morina, Sie haben mit drei anderen Historikern das Buch „Zur rechten Zeit“ geschrieben. Warum sollte man die Vorgeschichte rechtspopulistischer und rechtsextremer deutscher Bewegungen kennen?
Es gibt sozialwissenschaftliche Untersuchungen und kluge Artikel zum Aufstieg der AfD. Aber es reicht nicht aus, nur die Gegenwart zu analysieren. Denn die Geschichte der bundesdeutschen Demokratie war immer auch die Geschichte ihrer Herausforderung von rechts – übrigens auch durch gewalttätige, terroristische rechtsextreme Akteure und Organisationen. Wer sich das vor Augen führt, ist weniger anfällig für Alarmismus. Zugleich erkennt man die Traditionslinien dieser Kräfte, und zwar in beiden deutschen Staaten, die im vereinigten Deutschland zusammengekommen sind. Willy Brandt konnte sich das so freilich nicht vorstellen, als er sagte: Nun wächst zusammen, was zusammengehört.
Lassen sich aus der Kenntnis der Geschichte Handlungsempfehlungen ableiten?
Nicht direkt. Aber wir können lernen, dass es stets unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen gilt und welche tieferliegenden, länger zurückreichenden Ursachen es für heutige Entwicklungen gibt. Da zeigt sich beim Aufkommen der AfD als politischer Kraft rechts von der Union, dass sich westdeutsch geprägte Rechtskonservative und ostdeutsche „Heimatfreunde“ rund um Pegida zusammengefunden haben, als vermeintlich bürgerliche Bewegung des „nationalen Widerstands“. Es gibt Synergieeffekte zwischen West- und Ostdeutschland, die das Vordringen der AfD – und mit ihr rechtsradikaler und völkischer Ideen – bis weit in die Mitte der Gesellschaft ermöglichten. Der Aufstieg der Partei ist nicht zu verstehen, wenn man diesen nicht als deutschdeutsche Geschichte begreift.
Warum ist die AfD in den neuen Ländern so erfolgreich?
Ein Grund ist: Viele Menschen im Osten haben 1989 eine einschneidende Selbstermächtigungserfahrung gemacht. Sie gingen als souveräne Bürgerinnen und Bürger mit dem Slogan „Wir sind das Volk“ auf die Straße – und haben gewonnen. An diese Erfolgsgeschichte knüpft die AfD an, nun aber mit völkischen Tönen, nach dem Motto: Wir hier unten wollen mitmachen; wir können etwas bewirken, wenn wir auf die Straße gehen. Wir sind Heimatfreunde, wir sind Bürgerbewegte, wir verteidigen das Abendland. Die Rechtspopulisten bedienen sich bürgerbewegungsartiger Aktionsformen, etwa denen von Mahnwachen oder Demonstrationen. Aber das sind weder die ersten noch die effektivsten Mittel einer repräsentativen Demokratie. Ein zweiter Grund: Für viele im Osten brachte die Wende einen totalen Umbruch, mental, materiell, politisch. Lange hat die Linke diese Erfahrungen repräsentiert, war eine Art Regionalpartei Ost, nun hat die AfD das zum Teil übernommen.
Wie verhält es sich mit der Dynamik, die den Erfolg von Rechtspopulisten nicht nur in Deutschland ermöglicht hat, sondern in vielen Ländern der westlichen Welt?
In gewisser Weise empfinde ich schon die deutsch-deutsche Perspektive als eine transnationale Herausforderung. Wir haben immer noch zwei unterschiedliche politische Kulturen, die in einem Spannungsverhältnis stehen. Aber natürlich berücksichtigen wir auch den globalen Rahmen in unserem Buch, schon allein deshalb, weil sich rechte Bewegungen und Parteien heute über Grenzen hinweg vernetzen und oft von Entwicklungen in anderen Ländern profitieren wollen. Manchmal gibt es da auch erfreuliche Rückschläge: Der Brexit etwa führt offenbar dazu, dass in anderen europäischen Ländern die Zustimmung zur EU wieder steigt.
Was heißt das für Deutschland?
Zu lange glaubte man nach dem Ende des Kalten Krieges an den Sieg der repräsentativen Demokratie. Viele gingen 1989/90 davon aus, dass sich das westliche Modell nun für immer durchgesetzt hat. Dabei hatte natürlich auch die altbundesdeutsche Demokratie ihre wunden Punkte, gerade was Repräsentativität und Bürgerbeteiligung angeht. Deshalb entstanden ja Kräfte wie die Außerparlamentarische Opposition (APO) und neue soziale Bewegungen, aus denen etwa die Grünen als politische Partei hervorgingen. Demokratie funktioniert nur, wenn sie sich stets verbessert und erneuert. Gerade in Zeiten globaler Krisen, die auch die deutsche Gesellschaft vor allem seit der Jahrtausendwende prägen. Dennoch dachte man hier lange, die Herausforderung durch die Politisierung von Menschen, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen, betreffe nur andere Länder. Das war ein Irrtum, wie wir heute wissen.
Sehen Sie nun Bemühungen um eine Reform demokratischer Repräsentation in Deutschland?
Der Einzug der AfD in den Bundestag hat viele wachgerüttelt. Allerdings sind wir noch nicht fertig mit dem Versuch zu verstehen, was da passiert ist. Ein Beispiel: Gerade was die Erinnerungs- und Gedenkorte für die Verbrechen des Nationalsozialismus angeht, versucht die AfD, über ihre Mitglieder in den Ausschüssen der Parlamente massiv in die bisherige Gedenkkultur einzugreifen, sie will eine „Wende um 180 Grad“. Nach und nach wird erst deutlich, wie groß die Herausforderung ist. Deshalb müssen wir an den Grundsätzen unseres Gemeinwesens arbeiten, es in seinen Fundamenten nicht nur verteidigen, sondern verfeinern und weiterdenken. Nicht nur, um die Tradition eines selbstkritischen Umgangs mit der Geschichte zu erhalten, sondern gerade mit Blick auf die Zukunft.
Wo gibt’s da Ansätze?
Etwa bei der Wahlrechtsreform, die zum Ziel hat, dass der Bundestag kleiner wird.
Die ist gerade wieder gescheitert. Geht es dabei nicht mehr um Funktionalität als um Legitimität?
Es geht um Fragen der wirksamen Interessenvertretung und damit natürlich um Legitimität. Eine noch grundsätzlichere Frage ist etwa die des Wahlrechts. Wer soll wählen dürfen, nur Bürger mit deutschem Pass oder nicht auch einige der acht Millionen hier dauerhaft lebenden Menschen? Auch bei der Parität von Frauen und Männern geht es um Legitimität. Funktion ist immer auch eine Frage von Legitimität und anders herum.
Sie gehen von der These aus, dass sich viele Deutsche gern politisch betätigen würden, aber außerhalb der Parteien nicht genügend Möglichkeiten dafür finden.
Eines der meistdiskutierten Themen in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zwischen 1992 und 1994 waren die plebiszitären Elemente. Die Machterfahrung vom Herbst 89, dass man als einfacher Bürger mit anderen Geschichte schreiben konnte, wollten einige Mitglieder der Kommission gerne in das vereinigte Deutschland hinüberretten. Sie dachten über Instrumente für mehr Bürgerbeteiligung nach. Viele der über 800.000 Bürgereingaben an die Kommission sprachen sich für plebiszitäre Elemente aus. Diese Impulse wurden nicht aufgenommen. Ich bin keine Anhängerin etwa von bundesweiten Volksbegehren. Aber den Wunsch nach mehr Beteiligung sollte die Demokratie aufnehmen und in neue Partizipationsformen übersetzen. Gerade weil die Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie groß ist und der Ruf nach technokratischen und autoritären Lösungen immer lauter wird.
Sind Bemühungen um solche Reformen nur die Antwort auf die AfD oder würden sich die Fragen auch ohne diese Partei stellen?
Solche Bemühungen sind Dauerherausforderungen. Der Aufstieg der Rechtspopulisten sollte uns aber grundsätzlicher darüber nachdenken lassen, warum diese beispielsweise von vielen Nichtwählern gewählt werden. Oder wie Partizipation in einer Mediendemokratie funktioniert, in einer Öffentlichkeit, die sich fundamental von der in der Bonner und der frühen Berliner Republik unterscheidet.
Worin besteht der Unterschied?
Die klassische bürgerliche Öffentlichkeit ist Geschichte. Dank der sozialen Netzwerke findet der Informations- und Meinungsaustausch heute auf völlig andere Weise statt. Wir wissen aber, dass eine aufgeklärte Bürgerschaft, die zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden weiß, für das Funktionieren einer liberalen Demokratie unerlässlich ist. Trotzdem tolerieren wir die Ausbreitung einer Meinungsunkultur, die auf Fakten wenig gibt und von Empörung, Zuspitzung und Polarisierung lebt. Darüber sollten wir nachdenken: Wie schützen und stärken wir Räume für eine sachliche, problemorientierte, plurale Berichterstattung und öffentliche Gesprächskultur? Es ist übrigens ja nicht die erste Medienrevolution der Menschheitsgeschichte, auch hier kann der historische Blick aufschlussreich sein.