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Geflüchtete bei Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien 2016 (Archivbild).
© Stoyan Nenov/REUTERS

70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention: Jeder Geflüchtete verdient Unterstützung

Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Geflüchteten. Der Pianist Igor Levit fordert daher einen aggressiven Humanismus. Ein Gastbeitrag.

Igor Levit ist Pianist und Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Georg Diez ist Journalist und Autor. Beide besuchten 2016 zusammen das Flüchtlingslager Idomeni.

Flucht, das Nachdenken darüber, die Recherchen vor Ort, haben uns beide verändert, wütend gemacht, politisiert.

Als wir zusammen vor fünf Jahren, im Sommer 2016, das Flüchtlingslager von Idomeni besuchten, an der Grenze von Griechenland und Mazedonien, da trafen wir Menschen, denen der Weg abgeschnitten war und damit das genommen wurde, was sie antrieb – die Hoffnung, woanders, nach vorne, in der Zukunft ein besseres Leben zu finden, für sich und für ihre Kinder.

Seither hat sich die Lage „normalisiert“ – das heißt, dass das Sterben im Mittelmeer hingenommen wird von dieser Gesellschaft, dass es eine Übereinkunft des Wegschauens gibt, Schuld, für jeden Toten.

Statt Hilfe gibt es Kriminalisierung

Das heißt auch, dass die Verantwortung, die dieses Europa hat, dass die Werte, auf die es sich so gern bezieht - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nicht für alle gelten, sondern vor allem für die, die hier geboren sind.

Das ist in vielem das Gegenteil der Humanität, die Europa von anderen einfordert. In Idomeni, an dem Tag, als das Lager geräumt wurde, sahen wir, wie politisches Handeln durch polizeistaatliche Maßnahmen ersetzt wurde. Statt Hilfe gab es Kriminalisierung.

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Die Angst und die Verstörtheit der Menschen, die weiterwollten, weil es ein Zurück nicht gab, nicht geben konnte – es war eine Lektion aus Europa, das sich - Generationen vom eigenen zerstörerischen Krieg entrückt - unfähig zeigt, sein Erbe anzutreten, seine Verantwortung zu übernehmen.

Wir sehen, dass es in dieser Gesellschaft viele Menschen gibt, die sich für Geflüchtete einsetzen, mutig im Alltag, mutig auf See, weil es eigentlich selbstverständlich ist, diese Hilfe, weil es uns zu Menschen macht.

Wir sehen dieses Potenzial für eine offene Gesellschaft, die sich nicht abschottet, weil die Freiheit, die an den Grenzen verraten wird, auch im Inneren nicht zu retten ist – es gibt nicht Menschenrechte nur für einige.

Wir sehen aber auch, dass sich Teile dieser Gesellschaft gegen diese Menschlichkeit immunisiert haben – dazu gehören vor allem einige Parteien und leider viele Medien, die einen Rechtsruck befördert haben, eine Verschiebung dessen, wofür diese Gesellschaft steht oder stehen sollte, wenn sie ihre eigenen Versprechen ernst nehmen würde.

Das Wandgemälde eines Frankfurter Künstlerkollektivs mit den Portraits aller Mordopfer von Hanau.
Das Wandgemälde eines Frankfurter Künstlerkollektivs mit den Portraits aller Mordopfer von Hanau.
© imago images/Ralph Peters

Aus Ressentiment wurde Rassismus – oder umgekehrt. Die Ausgrenzung war immer da, selbst wenn das Dableiben gelang. Das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland hat es immer noch schwer. Es wäre eine Möglichkeit, einen Schritt näher am Morgen zu sein. Die Chance auf eine veränderte und umfassend menschliche Gesellschaft im 21. Jahrhundert wird so jedenfalls vertan.

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Triumph, sie muss auch für Klimaflüchtlinge gelten

Die UN-Flüchtlingskonvention wurde 1951 geboren aus dem Geist oder richtiger: dem Schrecken des Krieges, sie ist ein großer Schritt, ein Triumph, ein Ergebnis europäischer Geschichte. 70 Jahre später aber muss sich der Blick wenden, nicht nach hinten, sondern nach vorne, nicht nach innen, sondern nach außen.

Er muss sich auf die Herausforderungen der Zukunft beziehen, weil Flucht eine Realität ist und mehr und mehr sein wird, wenn durch die menschengemachte Klimakatastrophe Millionen von Menschen und mehr in Bewegung sind, voller Hoffnung, voller Angst, von Not und Notwendigkeit getrieben.

Das 21. Jahrhundert wird also das Jahrhundert der Geflüchteten sein, deshalb muss das Denken, das Handeln, das Verständnis von Staat und Nation, müssen die Institutionen und Werte dieser neuen Realität angepasst werden – nicht durch Rückgriff auf alte Konzepte, sondern durch neue Ideen, durch einen auch aggressiven Humanismus, der darauf beharrt, dass der Mensch eine Verpflichtung hat, sich selbst und allen anderen gegenüber.

Jede Flucht ist ein Akt der Freiheit, den es zu stützen gilt 

Wir vertreten deshalb eine Position der radikalen Menschlichkeit, das heißt eine Sicht, die unmittelbar vom Einzelnen ausgeht – jede Geschichte gilt, jede Biografie zählt. Das heißt auch, dass jede Entscheidung respektiert werden muss, wenn jemand aufbricht, einen Weg, eine Reise beginnt. Es stellt sich nicht die Frage nach dem Motiv - sei es Vertreibung, Verfolgung, Armut, Hungersnot; die Anwesenheit allein setzt ihn oder sie ins Recht.

Damit sollte auch das Verständnis von Asyl, eine schwache, ausgehöhlte Position, verändert werden. Es muss den Schutz geben, wo er nötig ist. Vor allem muss es aber es Offenheit und Respekt geben. So gesehen ist es eine Position der Stärke, aus der heraus der oder die Einzelne die Reise beginnt – es ist ein Akt der Freiheit, selbst wenn er im Zwang geschieht. Diese Freiheit gilt es zu sehen, zu stärken, zu stützen, mit allen Mitteln, die wir haben.

Wir leben in einer Welt, in der es Freiheit für Waren und Güter gibt, aber nicht für Menschen, die von einem Ort zum anderen wollen. Das dürfen wir nicht hinnehmen.

Igor Levit, Georg Diez

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