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Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, plädiert für die Abschaffung des Hartz-IV-Systems.
© Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Debatte um Hartz IV: Das "solidarische Grundeinkommen" ist Etikettenschwindel

Die derzeitige Diskussion um eine Alternative zu Hartz IV ist notwendig, schreibt der Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen. Doch die Idee von einem solidarischen Grundeinkommen hat Haken. Ein Gastbeitrag.

In Deutschland wird zum ersten Mal seit langer Zeit wieder intensiv über Hartz IV und die Zukunft der sozialen Sicherung diskutiert. Das ist dringend nötig, denn das bestehende System verstärkt verdeckte Armut, Abhängigkeit und Scham. Der Koalitionsvertrag enthält allerdings nichts, was einen Systemwechsel auch nur beschreibt. Die Ungleichzeitigkeit ist eine weitere Bestätigung, dass diese Groko zwar alles Mögliche vereinbart, aber nicht die wesentlichen Debatten geführt hat.

Wir Grünen haben die Hartz-IV-Gesetze mit beschlossen. Und sie von Anfang an kritisch begleitet und immer wieder Korrekturen gefordert. Gerade deshalb stehen wir jetzt in der Pflicht, aus der Opposition heraus Konzepte für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts vorzulegen.

Die Probleme und Herausforderungen von 2018 sind andere als 2002. Lebenswege werden fragiler, ganze Branchen brechen weg, Arbeitsplätze werden ins Ausland verlagert oder durch digitale Maschinen ersetzt. Es gibt inzwischen zahllose, oft prekäre Arbeitsformen. Das gewerkschaftliche Tarifsystem erreicht viele Menschen nicht mehr. Aber auch die, die eine feste Anstellung haben, sind von unverdienter Kündigung und Kurzarbeit bedroht. Und was ist mit dem Kioskbetreiber, der Zeitungszustellerin oder dem freien Werbetexter, die alle fleißig, aber immer auch von Abstiegsängsten bedroht sind? Und immer mehr alte Menschen leben von Hartz IV, weil die Rente nicht reicht. Diese Angst vor Abstieg und Armut frisst die Seele auf und das Grundvertrauen in die Gesellschaft gleich mit.

In unserem Grundsatzprogramm heißt es, dass im Mittelpunkt unserer Politik der Mensch in seiner Würde und Freiheit steht. Ein Satz wie ein Ausrufezeichen! Der Mensch in seiner Würde und Freiheit, nicht in seiner Funktionsfähigkeit als Marktteilnehmer. Ziel ist, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, die Teilhabe garantiert. Dafür müssen die Menschen vor Armut geschützt werden und Anreize zur Arbeit haben. Möglichst wenige sollen Anträge auf soziale Sicherung stellen müssen, das muss verständlich, unbürokratisch und individualisiert sein.

Da beginnt aber das Problem. Hartz IV ist all das nicht, und wenn man es reformiert, verstrickt man sich in Widersprüche. Höhere Regelsätze beispielsweise, die vor Armut schützen, führen dazu, dass viel mehr Menschen, vor allem Erwerbstätige, die sehr geringe Löhne erhalten, plötzlich von Hartz IV abhängig sein werden und bürokratisch an zig Stellen nachweisen müssen, welchen Bedarf sie haben. Zuverdienst wird abgezogen, sodass es sich finanziell lohnen kann, nicht zu arbeiten – was für ein Widersinn.

Michael Müller von der SPD hat nun den neuen Begriff eines „solidarischen Grundeinkommens“ in die Debatte eingebracht, als angeblich großen Reformschritt. Es hat nur mehrere Haken: Der Vorschlag ist nicht neu und es ist kein Grundeinkommen. Eher ist es ein geförderter staatlicher Arbeitsmarkt, der der Wirtschaft Konkurrenz macht und nebenbei das Ehrenamt zu einem staatlich subventionierten Job macht – was absehbar jedes Ehrenamt schreddern wird. Das Hartz-IV-System soll unverändert bestehen bleiben, wie der neue Finanzminister Olaf Scholz klargemacht hat. Das hilft weder den Rentnern, noch jenen, die für niedrige Löhne schuften oder in instabilen Arbeitsverhältnissen stehen. Faktisch ist das Etikettenschwindel.

Wir brauchen dagegen eine neue Garantiesicherung, die in allen Lebenslagen Schutz bietet. Am einfachsten ist das in den Lebensphasen, in denen wir nicht in Konkurrenz zur Erwerbsarbeit stehen, im Alter über eine Garantierente, während der Bildung, wenn Kinder klein sind. Aber wir können da nicht Halt machen. Wir werden darüber reden müssen, auch für die Erwerbstätigen ein neues, existenzsicherndes Garantiesystem zu schaffen, das Demütigung durch Ermutigung ersetzt und Anreize für Erwerbsarbeit schafft. Diese Debatte muss jetzt beginnen. Man kann sie nicht führen, ohne über die Löhne, öffentliche Einrichtungen, Kitas, Schulen, Schwimmbäder, Busse und Kantinen zu diskutieren. Wie immer das neue System aussehen wird, es darf sicher nicht mehr Hartz heißen.

Der Autor ist Parteivorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen.

Robert Habeck

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