zum Hauptinhalt
Ursula von der Leyen während einer Videokonferenz im Rahmen des Weltwirtschaftsforums (WEF).
© European Union/XinHua/dpa

Wachsende Kritik: Ist Ursula von der Leyens nächster großer Fehler einer zu viel?

Die Kommissionspräsidentin steht wegen des schleppenden Impfstarts aus Deutschland unter Feuer. Auch in Brüssel hat sie mit Problemen zu kämpfen.

In dieser Woche wird Ursula von der Leyen sich in der Plenarsitzung des Europaparlaments erklären. Das Hinterherhinken der EU bei den Impfungen gegenüber den USA und Großbritannien, die Abläufe bei den Vakzin-Bestellungen im vergangenen Jahr, die Produktionsengpässe der Hersteller in der EU - all das werden voraussichtlich Fragen sein, denen sich die Präsidentin der EU-Kommission wird stellen müssen.   

Dass nicht alles rund gelaufen ist in der entscheidenden Phase der Bestellungen im vergangenen Jahr, ist ein häufig vorgebrachter Vorwurf. Vor allem seit der Hersteller Astrazeneca einen enormen Ausfall bei den Lieferungen bekanntgab, ist die Enttäuschung in der Öffentlichkeit groß.

Drastisch war die Wortwahl, zu der Vizekanzler Olaf Scholz im Corona-Kabinett griff. Dort hatte der SPD-Kanzlerkandidat gepoltert, die Impfstoffbestellung durch die EU-Kommission sei "scheiße gelaufen".   

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Man kann nicht unbedingt sagen, dass derartige Äußerungen aus Berlin in Brüssel ein politisches Erdbeben auslösen. "Man darf die Debatte in Deutschland nicht mit der europäischen Debatte verwechseln", heißt es in EU-Diplomatenkreisen.

Beim Treffen der Botschafter der 27 EU-Staaten gab es in der zurückliegenden Woche kein einziges Land, aus dem Kritik an der Impfstrategie der EU zu hören war. Vor allem kleinere Staaten wie Griechenland, Slowenien, Kroatien und Malta sind froh, dass seit Ende des vergangenen Jahres überhaupt Impfstoff zur Verfügung steht.  

Von der Leyen: Man hätte früher über Produktion nachdenken müssen

Dennoch weiß von der Leyen, dass sie zur Rechenschaft verpflichtet ist - zumal beim Impftempo wohl auch in den kommenden Wochen immer wieder einmal der Vergleich mit den USA und Großbritannien gezogen werden wird.

Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung"  gab sie daher jüngst selbstkritisch zu, dass man im vergangenen Jahr neben der Frage der Impfstoff-Entwicklung parallel auch über die "Herausforderungen der Massenproduktion" hätte nachdenken müssen. "Neue Lieferketten aufbauen, die Fertigung hochfahren: Das hätten wir früher machen können", sagte sie.   

Auch die schwerfälligen Entscheidungsabläufe innerhalb der EU hält die Kommissionschefin für kritikwürdig. Der Hintergrund: Die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson schloss bereits im Mai 2020 einen Vertrag mit Astrazeneca ab, die EU erst im folgenden August. Von der Leyen sagte nun: "Natürlich, ein Land kann ein Schnellboot sein, und die EU ist mehr ein Tanker."  

Damit richtete sie den Blick auf ein Problem bei der Impfstoffbestellung, für das ihre Kommission nicht allein verantwortlich ist. Denn einerseits drängte die Kommissionschefin im vergangenen Jahr darauf, dass die Brüsseler Behörde die Versorgung sämtlicher EU-Staaten mit Vakzinen sicherstellen müsse. Aber im so genannten Brüsseler Lenkungsausschuss, der anschließend eingerichtet wurde, redeten auch sämtliche EU-Staaten mit. Und dabei ging viel Zeit ins Land. 

Das gilt insbesondere für die Bestellung von mRNA-Impfstoffen wie das Vakzin von Biontech/Pfizer: Während Deutschland sich für eine schnelle Bestellung einsetzte, waren andere Länder anfangs zurückhaltend. Bedenken gegen einen groß angelegten Einsatz von mRNA-Impfstoffen, die vergleichsweise teuer sind, kamen unter anderem aus Bulgarien und Polen. 

SPD in Brüssel gegen Untersuchungsausschuss

Aus der Sicht von Tiemo Wölken, des gesundheitspolitischen Sprechers der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, muss vor der "Aufarbeitung der Fehler" bei der Impfstoffbestellung zunächst einmal die Versorgung der Europäer mit Impfstoff sichergestellt werden.

"Es wäre derzeit fehl am Platz, den Rücktritt von Frau von der Leyen zu betreiben", sagte er dem Tagesspiegel. Die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, wie er bei den Liberalen im Europaparlament erwogen worden war, hält Wölken "nicht für das richtige Mittel". 

 Ursula von der Leyen - hier 2019 in Brüssel - war die Kandidatin Frankreichs und Deutschlands.
Ursula von der Leyen - hier 2019 in Brüssel - war die Kandidatin Frankreichs und Deutschlands.
© Kenzo TRIBOUILLARD / AFP

Auch der Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, der Rumäne Dacian Ciolos, verzichtete in der zurückliegenden Woche nach einem Gespräch mit der Kommissionschefin darauf, die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zu erheben.

Er forderte lediglich, dass sämtliche Verträge der EU mit den Pharmakonzernen über die Lieferung der Vakzine veröffentlicht werden müssten. Bislang ist der Öffentlichkeit nur die Abmachung mit Astrazeneca - teilweise geschwärzt - zugänglich. 

 Die Kommissionschefin galt nicht als Wunschkandidatin des EU-Parlaments

Aus dem Schneider ist von der Leyen in Brüssel damit allerdings noch nicht. Auffällig ist, dass sich auch in ihrer eigenen Parteienfamilie, der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), die Solidaritätsbekundungen für die CDU-Politikerin in Grenzen halten. Zwar verteidigte der EVP-Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), jüngst die Idee der gemeinsamen europäischen Impfstrategie "voll und ganz".

Aber auch in der EVP hat von der Leyen immer noch mit dem Makel zu kämpfen, dass sie 2019 nach der Europawahl bei der Besetzung des Brüsseler Spitzenpostens nicht als Wunschkandidatin des EU-Parlaments galt. Statt dessen waren es in erster Linie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewesen, die ihr zu dem Chefposten verholfen hatten. 

Einsame Entscheidungen der Behördenchefin

Vor diesem Hintergrund wird auch jeder Fauxpas von der Leyens in Brüssel ganz besonders kritisch beäugt. So standen denn auch in der EU-Hauptstadt in den letzten Tagen weniger die Versäumnisse bei der Beschaffung der Impfstoffe im Fokus, sondern der Führungsstil von der Leyens.

Zwar ging es im weiteren Sinne auch um die Vakzine und den Hickhack mit Großbritannien in Sachen Astrazeneca. Aber der eigentliche Grund der Aufregung lag darin, dass die Kommission zwischenzeitlich Impfstoff-Exportkontrollen zwischen Irland und Nordirland erwogen hatte.

Das Thema ist sensibel, denn schon während der Brexit-Verhandlungen hatten Kontrollen auf der Grünen Insel als Tabu gegolten. Der Vorwurf an von der Leyen lautet nun, die Export-Kontrollen für Impfstoffe erwogen zu haben, ohne den irischen Premierminister Micheal Martin nach seiner Meinung gefragt zu haben.  

Anschließend bedauerte von der Leyen den Schnitzer. Dennoch trifft sie der Vorwurf, in der Brüsseler Behörde allzu oft einsame Entscheidungen zu treffen und sich nicht genügend mit den übrigen Kolleginnen und Kollegen im Kommissarskollegium abzusprechen.

Von der Leyen, die in Brüssel geboren wurde, konnte es im vergangenen Jahr auch als großen persönlichen Erfolg verbuchen, dass sich die Europäer in der Krise auf einen Corona-Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro einigten. Aber jetzt, in der Debatte über die Versäumnisse bei der Vakzin-Beschaffung, werden wieder alte Vorbehalte laut.

Einer lautet, dass sie sich zu oft in ihren "Elfenbeinturm" im Brüsseler Berlaymont-Gebäude zurückziehe und dort ohne allzu große Einbindung der übrigen Kommissare agiere. Am Mittwoch, wenn sie vor dem Europaparlament spricht, wird sie in jedem Fall den "Elfenbeinturm" verlassen.

Zur Startseite