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Bundeskanzlerin Angela Merkel sitzt mit den TV-Journalisten Tina Hassel und Rainald Becker vor einem Fernsehinterview mit der ARD im Kanzleramt.
© Jesco Denzel/Bundesregierung/Handout via REUTERS

Merkel verteidigt Impfstart: „Im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen“

Kanzlerin Merkel hat reichlich Probleme im Corona-Krisenmanagement. Sie wendet sich via ARD an die Menschen, mit ernüchternden und fragwürdigen Botschaften.

Angela Merkel ist sichtlich bemüht, die Dinge zu ordnen und herunterzudimmen, das fängt schon damit an, dass es gar keinen Impfgipfel gegeben habe. Sondern ein „Impfgespräch“.

Die Pandemie ist in einer ganz heiklen Phase, deshalb macht die Kanzlerin etwas, das sie nicht oft tut, sich einem Fernsehinterview zu stellen.

Die Kanzlerin hat zuletzt wiederholt feststellen müssen, dass das Krisenmanagement etwas entgleitet, vor allem die Kommunikation darüber. Und dass die Stimmung bei vielen Bürgern an einem Kipppunkt angelangt ist, das wird auch beim Koalitionspartner SPD zunehmend als Problem wahrgenommen. Daher verstärkt sie spürbar ihre Öffentlichkeitsoffensive, nach einem Auftritt in der Bundespressekonferenz und nun der Auftritt in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“ zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr. Letztlich hängt das Eindämmen entscheidend von der Disziplin der Bürger ab - und von deren Vertrauen in ihren Kurs.

In der vorab aufgezeichneten Sendung betont sie im Kanzleramt, was es für eine Riesenleistung sei, dass es schon ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie mehrere in der EU zugelassene Impfstoffe gebe. Sie hätte nicht darauf gewettet, dass wir das „so schnell hinbekommen.“

Aber man müsse noch einige Wochen mit den Knappheiten leben. „Wir können keinen starren Impfplan machen, wir müssen modellieren, anpassen“, versucht sie Erwartungen zu dämpfen, dass es für in Hotlines verzweifelnde Bürger rasch mehr Klarheit für Termine zum Impfen geben wird. Aber auch wenn es keine weiteren Zulassungen gebe, werde jeder Bürger, der sich impfen lassen wolle, wie versprochen bis Ende des Sommers, kalendarisch am 21. September, die erste Impfung bekommen haben. Das sei bewusst konservativ und vorsichtig gerechnet.

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Sie weiß, das Vertrauen ist ein fragiles Gut in dieser Krise, und die Werte für das Regierungshandeln sind zuletzt deutlich gesunken, mehr als die Hälfte der Bürger ist laut Umfragen unzufrieden. Aber dann sagt sie einen Satz, den viele nicht teilen. „Ich glaube, dass im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen ist.“

Kritik gibt es für diese Einschätzung von FDP-Chef Christian Lindner. „Mit dem Satz hat die Bundeskanzlerin sicherlich die große Zahl der Menschen in unserem Land nicht abgeholt“, sagt Lindner im Gespräch mit der „Bild“. „In den Augen der Bevölkerung läuft das Impfen nicht gut."

Merkel war es, die das Ansinnen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt hatte, im Juni 2020 den ganzen Bestellprozess der EU-Kommission zu übertragen.

Steht wegen der EU-Impfstoffbeschaffung in der Kritik: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Steht wegen der EU-Impfstoffbeschaffung in der Kritik: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
© AFP/POOL/Francisco Seco

Das wurde allgemein sehr begrüßt, um ein Gegeneinander der EU-Staaten im Kampf um die Impfstoffe zu vermeiden. Aber Eigeninteressen, etwa Frankreichs, Preis- und Mengenfragen führten zu Verzögerungen. Wichtige Wochen, die nun fehlen für schnellere Impfungen durch eine höhere Verfügbarkeit. Merkel gibt aber auch auf die Gretchenfrage eine klare Antwort: Hätte man mehr bekommen, wenn mehr bezahlt und mehr bestellt worden wäre? „Die Antwort war Nein“, sagt sie unter Verweis auf die Impfstoffhersteller, die an ihrem Impfgespräch teilgenommen haben. In der Bundesregierung sehen das einige ganz anders, es gebe sehr wohl einen Zusammenhang zwischen höheren Bestellmengen, also Absatzgarantien unabhängig von einer Zulassung, und einer dadurch automatisch höheren Produktion. Und wenn nichts schief gelaufen sei, wirft das hektische Nachsteuern Brüssels Fragen auf. FDP-Chef Lindner verweist bei "Bild" darauf, dass zeitgleich zur Ausstrahlung des Interviews ein Brief von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen veröffentlicht worden sei, in dem sie bei den Mitgliedsstaaten um mehr Geld werbe, um die Produktionskapazitäten zu erweitern.

Merkel wird in der ARD auch gefragt, warum plötzlich Serbien sogar schneller impfe? Sie ist wie immer tief in den Details drin, hier gibt es andere Gründe: „Serbien impft mit chinesischem Impfstoff“. Nun zeigt anscheinend auch der russische Sputnik-V-Impfstoff eine gute Wirkung. Jeder der eine Zulassung habe, sei in der EU willkommen, sagt Merkel.

Der EU-Bestellprozess hat Merkel zufolge auch länger gedauert, weil es um komplizierte Haftungsfragen gegangen sei. Wenn etwas schiefgehe, könne nicht die Politik die ganze Haftung übernehmen. „Wir kämpfen um Vertrauen für diese Impfstoffe.“ Es ist eine Erklär- und Verteidigungskanzlerin, die zu erleben ist.

Und die keine zu großen Hoffnungen machen will. Man müsse jetzt erst einmal bis Anfang kommender Woche wissen, welchen Prozentsatz nimmt die Mutation ein, „die sehr viel aggressiver ist“. Sie wisse, dass bei vielen Bürgern die Nerven blank liegen, das sei eine lange Strecke. Aber jeder Tag zähle - „Ich weiß nicht, wo wir nächste Woche Montag oder Dienstag stehen“, sagt sie.

[Lesen Sie hier mehr zum Thema Impfen: Unheilbar krank, aber keine Impfpriorität :„Wir werden ignoriert und vergessen“ (T+)]

Immerhin seien rund rund 50 Landkreise wieder unter 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. Auf die Frage, ob es Lockerungen sogar erst gebe, wenn genug Impfstoff da ist, betont Merkel: „Nein, das kann man nicht sagen.“ Das Risiko sei derzeit vor allem, dass die Mutationen einen „Strich durch die Rechnung machen“.

Und eine Hiobsbotschaft kommt da aus Großbritannien. Die dort entdeckte Sars-CoV-2-Variante B117 hat sich offenbar weiterentwickelt. Eine zusätzliche Mutation mindert die Schutzwirkung des Covid-19-Impfstoffs von Biontech ein Stück weit, zeigen erste Experimente britischer Forscher. Einige der Mutationen (etwa “N501Y”) tragen offenbar dazu bei, dass das Virus ansteckender ist, etwa 35 bis 50 Prozent, verschiedenen Schätzungen und Berechnungen zufolge. Das gehäufte Auftreten von B117 führte zu starken, exponentiellen Anstiegen von Neuinfektionen in England, Irland und jüngst Portugal, wo nur noch rigorose Lockdown-Maßnahmen die Welle stoppen konnten.

Merkel: Noch eine Weile durchhalten

Zwar sind die Infektionszahlen in Deutschland zuletzt gesunken und der Druck wächst massiv, zumindest Schulen und Kitas wieder zu öffnen. Aber Merkel versucht immer wieder öffentlich die Bürger zu mehr Vorsicht zu ermahnen. Sie bitte alle Bürgerinnen und Bürger, „noch eine Weile durchzuhalten“.  Zur Debatte, ob nur Geimpfte Vorrang für Reisen oder die Rückkehr anderer Grundrechte bekommen sollen, betont sie, dass noch nicht klar sei, ob trotzdem eine Ansteckung anderer Personen erfolgen kann.

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Sie räumt ein, es werde Klagen geben, das gehöre zum Rechtsstaat. Merkel bleibt sehr im Vagen, zur Frage, ob Ostern gefeiert werden kann, sagt sie lediglich, sie könne den Menschen in Aussicht stellen, wenn sie sich an die Regeln halten, „dann wird es besser werden“. Je geringer die Infektionszahlen, desto mehr kann man sich wieder leisten. Lockerungen werden sich „sicherlich nicht an einem Datum orientieren“ können, sondern „an Werten“, stellte die Kanzlerin klar. Entsprechend werde auch eine Öffnungsperspektive von Bund und Ländern entwickelt.

Die Kanzlerin betreibt Erwartungsmanagement ziemlich weit unten. Auch wegen der Probleme mit der Impfstoffbeschaffung und vor allem wegen der grassierenden Mutationen wird eine weitgehende Verlängerung des Lockdowns über Mitte Februar hinaus wahrscheinlicher, am 10. Februar wollen Bund und Länder Entscheidungen treffen.

Da die Baustellen mannigfaltig sind, wird es am Mittwoch auch einen Koalitionsausschuss geben. Denn wegen der hohen Krisenkosten zeichnet sich auch ab, dass Finanzminister Olaf Scholz (SPD) noch einmal ein Aussetzen der Schuldenbremse für 2020 vorschlagen könnte. Da bis März die Eckwerte des Haushalts 2022 und die Finanzplanung der Folgejahre vorgelegt werden muss, muss die große Koalition auch hier schwierige Fragen lösen.

Und die SPD-Führung macht Druck etwa für die  Einführung eines monatlichen Corona-Zuschlags für Hartz-IV-Bezieher. Die Corona-Pandemie treffe besonders Menschen, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen seien. „Zu den Sorgen um die Gesundheit und erheblichen psychosozialen Belastungen kommen finanzielle Mehrausgaben, die aus dem schmalen Budget kaum geleistet werden können“, sagt Parteichefin Saskia Esken. Auch in der Koalition waren zuletzt, nicht nur im Impfstreit, Risse deutlich spürbar.

Merkel stehen schwere letzte acht Monate im Amt bevor – wenn tatsächlich genau fünf Tage vor der Bundestagwahl die letzten Impfwilligen den ersten Piks bekommen haben, könnte das ihrer Abschlussbilanz nochmal einen guten Schlusspunkt verschaffen.
Korrektur: In einer früheren Version hieß es, dass die Aufzeichnung im ARD-Hauptstadtstudio stattgefunden habe. Sie fand aber im Kanzleramt statt.

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