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Was würde Karl Marx angesichts der aktuellen Krise sagen?
© akg-images / RIA Nowosti

Wirtschaft in der Krise: Ist euer Kapitalismus noch zu retten?

Wäre die Welt ohne den Kapitalismus ärmer, funktioniert keine Wirtschaftsordnung besser? Oder ist der Neoliberalismus der größte Irrtum der Geschichte? Ein Pro und Contra.

JA

Keine Wirtschaftsordnung funktioniert besser als der Kapitalismus, meint Ursula Weidenfeld. Ohne ihn wäre die Welt ärmer, ungleicher und ungerechter. Das heißt nicht, dass das System völlig ohne Fehler ist.

NEIN

Der Neoliberalismus ist der größte Irrtum in der Geschichte des ökonomischen Denkens, meint Rudolf Hickel. Um die Perversion des Systems zu beheben, muss der Kapitalismus zugunsten der Politik entmachtet werden.

1. Pro von Ursula Weidenfeld

Zugegeben, es ist nicht leicht, in diesen Tagen den Kapitalismus zu verteidigen. Schon gar nicht dann, wenn man gleichzeitig auch den Neoliberalismus verteidigen will. Kapitalismus und Neoliberalismus gelten vielen als Schlüsselbegriffe des derzeitigen ökonomischen Desasters. Menschen campieren vor der Wall Street und der Zentrale der Europäischen Zentralbank, um den Kapitalismus abzuschaffen. Sie protestieren gegen den Neoliberalismus, als sei der an allem schuld.

Die Wut kann man nachvollziehen, manchmal sogar teilen. Es ist kaum zu ertragen, dass ein Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft in der Krise in sein Gegenteil verkehrt wird. Jetzt müssen die Schwachen für die Starken aufkommen. Andersherum wäre es richtig.

Doch: Bisher hat keine Wirtschaftsordnung gezeigt, dass sie besser funktioniert als die Marktwirtschaft. Nur ein System, das auf Eigentum und der Freiheit beruht, nach Gewinn streben zu dürfen, wird den Bedürfnissen der Menschen nach Wohlstand und Fortschritt gerecht. Nicht nur der Zusammenbruch der kommunistischen und sozialistischen Systeme am Ende des 20. Jahrhunderts ist ein Beweis dafür. In vielen Teilen der Welt wird der Kapitalismus als Weg großer Teile der Bevölkerung aus Armut und Elend gesehen und gefördert. Weltweit ist der Kapitalismus auf dem Vormarsch. Er hat nicht nur im vergangenen Jahrhundert dafür gesorgt, dass der Wohlstand wuchs. Er tut es auch in diesem Jahrhundert. Ohne den Kapitalismus, ohne wirtschaftliche Freiheit und Freihandel, ohne das Kreditwesen, wäre die Welt heute ärmer, ungleicher, ungerechter. Schon deshalb sollten alle ein Interesse daran haben, den Kapitalismus zu retten.

In den klassischen Ländern des Kapitalismus wächst dennoch die Kritik. Teilweise zu Recht. Es war ein Fehler, die Finanzmärkte sich selbst zu überlassen. Marktwirtschaften funktionieren nur dann dauerhaft gut, wenn sie einen klaren Ordnungsrahmen haben. Das war die Überzeugung der neoliberalen Ökonomen, die der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland ihr Fundament gaben. Das hat in Deutschland lange funktioniert. Die Ökonomen und Notenbanker der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts glaubten jedoch fest an die unbedingte Vernunft der Marktteilnehmer. Wer etwas kaufe oder verkaufe, verhalte sich stets rational, nahm man an (und die Autorin dieses Artikels stellt hier ausdrücklich fest, dass auch sie der Meinung war, Deregulierung sei in aller Regel eine gute Sache). Deshalb habe der Markt am Ende immer recht.

Das war falsch. Lesen Sie auf Seite 2, wo der Fehler im System liegt.

Bei der schnellen Deregulierung der Finanzmärkte haben die Akteure übersehen, dass sie Risiken und Haftung entkoppelt haben. „Kein Risiko ohne Haftung“, das war einer der wichtigsten Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, die der Freiburger Ökonom Walter Eucken formuliert hat. Dieser Grundsatz wurde erheblich verletzt, als die Banken beginnen konnten, Wertpapiere, Optionen und Derivate zu handeln, ohne auch das volle Risiko in die Bücher nehmen zu müssen. Der Finanzmarkt hat nicht recht behalten. Wenn etwas an der Kapitalismuskritik richtig ist, dann das: Der Kapitalismus braucht keinen schwachen, er braucht einen starken Staat. Einen, der den Ordnungsrahmen definiert – und auch durchsetzt.

Mehr Regulierung ist aber auch heute noch nicht automatisch besser als wenig Regulierung. Der Immobilienmarkt der USA ist ein stark regulierter Sektor der amerikanischen Wirtschaft. Ausgerechnet hier aber ist die Spekulationsblase entstanden, die die Weltwirtschaft an den Abgrund geführt hat. Ausgerechnet die Eigenheimpolitik der US-Regierung hat den Startschuss für eine Entwicklung gegeben, bei der am Ende auch Obdachlosen ein eigenes Häuschen im Grünen in Aussicht gestellt wurde. Ausgerechnet die am stärksten regulierten Banken in Deutschland, die Landesbanken, sind heute in besonders kritischem Zustand. Jetzt wird darüber nachgedacht, Investmentbanken und richtige Banken zwangsläufig zu trennen. Die Lehman Brothers Bank war ein reines Investmenthaus. Das Pleitebankhaus Northern Rock löste in England einen Bankrun aus – und war doch nur ein simpler Immobilienfinanzierer. Gesetze alleine helfen gar nichts. Es müssen gute Gesetze sein.

In marktwirtschaftlichen Systemen gibt es Krisen und Rückschläge. Die muss und wird es immer geben. Sie sind schmerzhaft, verursachen Armut und Leid, aber sie haben meist auch eine gute Funktion: Sie verbreiten Innovationen. Ohne Überinvestition hätte es im 19. Jahrhundert keine schnelle Verbreitung der Eisenbahnen gegeben, im 20. Jahrhundert hätte sich das Internet nicht so schnell entwickeln können. Überinvestition ist das freundliche Wort für Spekulationsblasen. Viele Menschen verlieren viel Geld, wenn diese Blasen platzen. Doch die Güter, die mit dieser Spekulation geschaffen wurden, bleiben da. Auf die Dauer schaffen manche von ihnen Fortschritt, neuen Wohlstand und damit Arbeitsplätze. Manche bleiben Investitionsruinen. Doch wollte man Krisen und Fehlinvestitionen verbieten, würde der Fortschritt sterben. Das hat man in den sozialistischen Ländern der Welt beobachten können – wie auch die Tatsache, dass der Verzicht auf Freiheit, Eigentum und Unternehmertum zu wirtschaftlicher Armut und politischer Unterdrückung führt.

Wer nach einem starken Staat verlangt, sollte sich bewusst machen: Wer ist denn dieser Staat? Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Völlig atemberaubend ist das Zutrauen der Kapitalismuskritiker zum Staat. Der Staat soll am besten das Eigentum an den Banken wieder übernehmen, manche finden auch, dass er die Produktionsmittel gleich mit vergesellschaften soll. Wirklich? Der Staat? Wer ist denn der Staat? Sollen das dieselben Politiker sein, die in den Meinungsumfragen im Ansehen nur noch knapp von Hedgefonds-Managern rangieren? Die Deutschen verachten ihre Politiker – völlig zu Unrecht – aber sie trauen ihnen zu, auf die Dauer bessere Manager, Banker und Investoren zu sein als die kapitalistischen Unternehmer. Das ist eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung.

Und verkehrt ist sie dazu. In Deutschland waren es bis auf die Commerzbank – ja gerade nicht die privaten Banken, die in die Bredouille gekommen sind. Es waren die Staatsbanken. In den Aufsichtsgremien von IKB, WestLB. LBBW, BayernLB und HSH Nordbank saßen keine renditeversessenen Hedgefonds- Manager, sondern dieselben Politiker, die heute über die Finanzkrise und die gierigen Banker stöhnen. Sie haben zugesehen, wie die staatlichen Landesbanken sich an den Abgrund spekuliert haben, so dass sie gerettet werden mussten. Sie haben den Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann beschimpft, weil der eine 25-Prozent-Rendite auf das Eigenkapital erwirtschaften wollte. Und intern haben sie dieselbe Rendite von ihren Landesbanken verlangt, um ein bisschen mehr Geld zum Ausgeben im Landeshaushalt zu haben. In der neuen Zuspitzung der Krise machen die Staatsbanken wieder eine besonders schwache Figur: Vor allem die staatliche HRE und Häuser wie die landeseigene LBBW sind angeblich von großen Verlusten bedroht, wenn es für Griechenland tatsächlich einen Schuldenschnitt geben sollte.

Ist es vernünftig, ausgerechnet jetzt der Politik mehr Weitsicht zuzutrauen? Sicher nicht.

Europa hat zwar eine Bankenkrise, das stimmt. Aber Europa hat noch viel mehr eine Schuldenkrise der öffentlichen Haushalte. Seit dem vergangenen Jahrhundert, besonders aber seit 2008, haben sich die Länder Europas (die USA übrigens nicht weniger) rasant verschuldet. Unter die Leute gebracht haben diese Schulden die Banken. Damit sie das auch zuverlässig tun, haben Staatsschulden einen besonderen Status in der Kreditwelt bekommen: Gibt eine Bank einem Unternehmen einen Kredit, muss sie dafür eigenes Kapital zurücklegen - damit sie nicht selbst bankrott geht, wenn der Kredit platzt. Das kostet Geld, deshalb sind Kredite für die Realwirtschaft auch relativ teuer. Gibt eine Bank aber einem Staat Kredit, muss sie dafür nichts zurücklegen. Deshalb zahlen Staaten meist nur einen günstigen Zins. Wenn das politische Spitzenpersonal Europas an diesem Wochenende und in der kommenden Woche verlangt, die Banken an die Kandare zu nehmen und ihr Eigenkapital schnell aufzustocken, dann ist das nicht nur eine Zumutung für die privaten Banken. Es ist auch eine Bankrotterklärung der Politik. Der unmäßige Hang der staatlichen Steuerer, alles in die Hand zu nehmen, zu gestalten und dafür überall Kredit nachzufragen, ist der Ursprung und nicht die dauerhafte Rettungsstrategie zur Heilung der europäischen Misere. Das hat mit Kapitalismus nicht viel zu tun. Eher mit Staatswirtschaft.

Erst wenn beide Bereiche in Ordnung gebracht sind – die Staatshaushalte und die Banken – wird wieder Ruhe einkehren. In beiden Bereichen müssen jetzt Politiker das Steuer übernehmen und dabei über sich selbst hinauswachsen. Sie haben die hässliche Aufgabe, ihr Volk davon zu überzeugen, dass Staatsschulden nichts anderes sind als vergesellschaftete Extras, die das Leben der Bürger zwar ein bisschen komfortabler, die Straßen ein bisschen glatter und die Opern ein bisschen heller leuchten machen. Denn leider ist es eben nicht „der Staat“, der über seine Verhältnisse lebt, ohne dafür die entsprechenden Steuereinnahmen zu haben. Es sind die Bürger, die freien Eintritt verlangen. Es waren nicht nur die Banken, die sich bedient haben. Es waren auch die Bürger.

Es ist höchste Zeit, den Kapitalismus zu rehabilitieren. Hochnäsige Spitzenbeamte werden die Chefetagen der Banken und das Börsenparkett nicht besser managen als arrogante Finanzmanager. Sie werden kein bisschen besser, moralischer oder umsichtiger handeln als die Privatwirtschaft. Doch sie werden weniger erfolgreich sein. Das aber kann und sollte sich ein Land nicht leisten, das inzwischen für 211 Milliarden Euro oder noch mehr im Wort steht. Wenn wir den Kapitalismus nicht verteidigen, verbessern und arbeitsfähig halten, wird der Euro nicht zu retten sein.

Lesen Sie auf Seite 4 das Contra von Rudolf Hickel

NEIN

Der Neoliberalismus ist der größte Irrtum in der Geschichte des ökonomischen Denkens, meint Rudolf Hickel. Um die Perversionen des Systems zu beheben, muss der Kapitalismus zugunsten der Politik entmachtet werden.

Seit seiner historischen Durchsetzung gilt: Kapitalismus und Krise sind die zwei Seiten einer Medaille. Der Grund ist einfach. Die Triebkraft bei der Nutzung der Marktkräfte ist das einzelwirtschaftlich unternehmerische Ziel, den Gewinn auf das eingesetzte Kapital, die Profitrate, hochzutreiben. Bei den durch diese Produktionsweise erzeugten Ergebnissen wird auf gesellschaftlich politische Zielsetzungen keine Rücksicht genommen. Die profitwirtschaftlich dominierte Unternehmenswirtschaft versucht, die damit erzeugten sozialen, beschäftigungsbezogenen und ökologischen Risiken zugunsten einer bornierten, rein betriebswirtschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung zu externalisieren. Auf die immer wieder gestellte Frage, ob dieser Kapitalismus wegen seines Zerstörungspotenzials noch zu retten sei, ist in einem mühseligen Lernprozess unter mehreren Möglichkeiten eine konsensualisierbare Antwort gefunden worden. Effizienz und Wohlstand sind auf der Basis der kapitalistischen Märkte nur zu erzielen, wenn das ökonomische System unter dem Primat der Politik in eine gesellschaftliche Ordnung eingebunden wird. Aus der „Anatomie des Marktversagens“ (Francis Bator, 1958) leitet sich die Agenda demokratischer, legitimierter Politik ab. Dazu gehört die Bereitstellung öffentlicher Güter, wie es im Bereich der Bildung schon Adam Smith in seinem Standardwerk von 1776 begründet hat. Die durch die profitwirtschaftliche Produktion erzeugten sozialen Risiken für die Lohnarbeiter, ihre finanzielle Basis zu verlieren, verlangen einen handlungsfähigen Sozialstaat. Die Entdeckung der sozialen Marktwirtschaft in den 1950er Jahren, die heute nur noch in Sonntagsreden beschworen wird, lässt grüßen. Die sich im Zusammenspiel der einzelwirtschaftlichen Rationalität oftmals einstellende gesamtwirtschaftliche Irrationalität verlangt eine Steuerungspolitik gegen die systemimmanente Erzeugung von Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit. Nachdem diese einzelwirtschaftliche Renditeökonomie durch die Externalisierung ökologischer Kosten die Umwelt bedrohlich belastet hat, steht heute das Ziel „ökologische Nachhaltigkeit“ oben auf der Agenda staatlichen Handelns.

Man sollte meinen, dieses ordnende Konzept der Rettung des Kapitalismus durch eine auf die Ursachen der Krisenerzeugung ausgerichtete Politik sei eine Selbstverständlichkeit. Davon kann (leider) keine Rede sein. Allein schon wegen der Begrenzung des Dogmas vom machtvollen „unternehmerischen Investitionsmonopol“ (Erich Preiser) ist dieses Rettungskonzept immer wieder attackiert, ja zu Fall gebracht worden. Dabei wird ein grundlegendes Demokratiedefizit deutlich. Die heutige Marktwirtschaft hat mit der in den Lehrbüchern beschworenen Wettbewerbsidylle, der sich die Unternehmen unterordnen, schon lange nichts mehr zu tun. Vielmehr dominiert die monopolistische Konkurrenz. Vermachtete Unternehmen passen sich nicht an die Marktvorgaben an. Vielmehr wird nicht nur mit der Marktmacht strategisches Verhalten durchgesetzt. Auch auf die Politik wird auf vielen Ebenen Einfluss genommen. Das Primat der Ökonomie gegenüber der Politik dominiert. Verstärkt durch einen massiven Lobbyismus gelingt es den marktbeherrschenden Unternehmen, Einfluss auf die parlamentarische Gesetzgebung zu nehmen. Die heutigen Rettungsprogramme für die Banken tragen die Handschrift der Bankenbosse.

Lesen Sie auf der nächsten Seite mehr über den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus

Sicherlich, die Geschichte zum Verhältnis von Ökonomie und Politik ist durch unterschiedliche Epochen gekennzeichnet. Beispielsweise war der Einfluss der Politik auf die Wirtschaft in den 50er und 60er Jahren durchaus erkennbar. Das hat sich in der jüngsten Etappe, die politisch Mitte der 80er Jahre einsetzte, grundlegend verändert. Ökonomisch wird die damals einsetzende Entwicklung ökonomisch mit der Überschrift Neoklassik und politisch mit dem heutigen Kampfbegriff Neoliberalismus umschrieben. Nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch der zutiefst undemokratischen Staaten des real existierenden Sozialismus ist die machtvoll durch die Wirtschaft vorangetriebene Strategie einer weitgehenden Entfesselung der kapitalistischen Marktkräfte durchgesetzt worden. Dazu gehören in Deutschland die schrittweise Demontage des Sozialstaats durch den Abbau der gesetzlich garantierten Existenzsicherung im Alter, der Umbau des Gesundheitssystems sowie die Öffnung des Niedriglohnsektors im Rahmen der Agenda 2010. Diese Angriffe auf die soziale Säule der Marktwirtschaft sind bekannt. Ein Novum stellt jedoch die umfassende Deregulierung der Finanzmärkte dar. Durchgesetzt wurde ein finanzmarktgetriebener Kapitalismus, der in eine extrem bedrohliche weltweite Systemkrise gemündet ist. Ja, wenn nicht schleunigst eine umfassende Politik der Regulierung der Finanzmärkte durchgesetzt wird, dann ist dieser entfesselte Kapitalismus nicht mehr zu retten. Und das hieße erst einmal, immer schneller wiederkehrende Krisen mit generellen Wohlstandsverlusten und vor allem massive Belastung für die vom Arbeitseinkommen Abhängigen. Am Ende droht auch die demokratische Basis gefährdet zu werden.

Den Startschuss für die heute drohende Kernschmelze auf den Finanzmärkten hat am 20. Oktober 1986 Maggi Thatcher mit dem peinlichen Imperativ losgelassen: „Lasst uns die Regeln, die den Erfolg bremsen, wegwerfen.“ Gefolgt ist der „Big Bang“, mit dem eine Aufhebung wichtiger Regulierungen am Finanzplatz London ausgelöst wurde. Bill Clinton folgte 1994 mit der Aufhebung der Regulierungen für USA-Banken: „Die neuen Regeln machen uns wirtschaftlich stärker und effizienter, sie sind gut für die Verbraucher.“ Die aus der Erkenntnis der Fehlentwicklungen in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er mit dem Glass-Steagall-Act 1933 vorgenommene Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investmentbanken ist nachfolgend aufgehoben worden. Die Folge war eine explosionsartige Ausweitung der Produktion von fiktivem Geld durch Geld ohne Bezug zur realen Wirtschaft. Wenn auch zögerlich, 2003 öffnete in Deutschland die sozial-grüne Koalition die Schleusen durch die Zulassung von völlig unkontrollierten Kreditverbriefungen (Derivate) sowie von Hedgefonds.

Die Entfesselung der Finanzmärkte im Dienste der Finanzindustrie hat zu folgenden Fehlentwicklungen geführt: – Völlig überdimensionierte Finanzmärkte haben sich von der werteschöpfenden Wirtschaft entkoppelt. Schnell erzielbare und hohe Renditen auf den Finanzmärkten anstatt Ausgaben in die Binnenwirtschaft haben die relative Entkoppelung verursacht. – Die hochspekulativen Geschäfte auf den Finanzmärkten sind explodiert. Das Volumen der Finanztransaktionen ist in 2010 fünfundsiebzigfach höher ausgefallen als die Weltproduktion. Das sind vor allem Spekulationsgeschäfte, die nichts mehr mit der Absicherung von Geschäften gegen Risiken in der realen Ökonomie zu tun haben. Bei der kaum noch durchschaubaren Mehrfachverpackung von Krediten in strukturierte Produkte haben dann noch die Ratingagenturen mit Bestnoten das Unheil verschärft.

– Zu Spekulationszwecken sind neue Finanzprodukte geschaffen worden. Die hochgelobten Finanzinnovationen sollten sich schnell als „toxische Produkte“ erweisen. All diese Produkte haben nichts mit der realen Wertschöpfung zu tun. Es ist das aus Geld geschaffene fiktive Geld durch unverantwortliche Finanzalchemisten.

Schließlich ist der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman-Brothers nur eine Chiffre für den schon 2007 sichtbar gewordenen Absturz dieser hochspekulativen Finanzmärkte. Bankenfeiertage, als Vorbote von Bankenzusammenbrüchen, drohten. Die in Deutschland zumindest kurzfristig gelungene Rettung vor dem Zusammenbruch der Produktions- und Bankenwirtschaft zeigt, dass selbst in der Ära der Globalisierung politisches Gegensteuern erfolgreich sein kann. Noch wenige Wochen zuvor verpönte Konjunkturprogramme, ein Rettungsprogramm für die Banken und die Kurzarbeitergeldregeln haben den Absturz vermieden. Die Lehre ist klar: Es lohnt sich, diese Politik dauerhaft sicherzustellen.

Lesen Sie auf den nächsten Seite, wie der Kapitalismus zu retten ist

Spätestens die jüngste Finanzmarktkrise zeigt, dass der Neoliberalismus gescheitert ist. Robert Shiller von der Yale-Universität stellt treffsicher fest: „Es handelt sich um den größten Irrtum in der Geschichte des ökonomischen Denkens.“ Diese Erkenntnis sollte sich die vorherrschende Beratungsökonomik stellen. Denn auch der „Rat der fünf Weisen“ hat sich noch im November 2008 blamiert. Für das Krisenjahr 2009 mit einem Absturz der Produktion um fünf Prozent wurde eine kleine Wachstumsdelle vorhergesagt. Wenn in den Makromodellen der Finanzsektor als höchst effizient und stabil erfasst wird, dann muss man sich über die peinlichen Fehlurteile zur ökonomischen Entwicklung nicht wundern.

Aus dem durch eine schwere Krise sichtbar gewordenen Zusammenbruch des Dogmas von den segensreichen Wirkungen entfesselter Märkte folgt: Die kapitalistische Marktwirtschaft muss zugunsten des Vorrangs der Politik entmachtet werden. Im Mittelpunkt stehen harte Regulierungen der Finanzmärkte. Die Idee, die dienenden Funktionen der Geschäftsbanken gegenüber dem hochriskanten Investmentbanking abzuschotten, ist wichtig. Entscheidend ist jedoch die Kontrolle, die Begrenzung, ja das Verbot der gefährlichsten Spekulationsinstrumente. Es geht darum, den Investmentbankern diese Geschäftsfelder zu entreißen. Dazu gehört die Einschränkung des von Kunden unabhängigen Eigenhandels, den die Banken zur Profiterzielung nutzen. Auch sind ungedeckte Leerverkäufe von Aktien und Anleihen schlichtweg zu verbieten. Schließlich dürfen künftig nur noch die Hälfte der Kredite verpackt werden, und für die andere Hälfte ist hartes Eigenkapital bei den Banken zu bilden. Darüber hinaus muss die Abwanderung von Investment- und Hedgefonds in „Schattenbanken“ durch Genehmigung und Kontrolle ihrer Geschäftspolitik verhindert werden.

Der Kapitalismus ist nur durch Schrumpfen und Regulierungen zu retten. Die krisentreibenden Exzesse sind zu verbieten, weil sie die Gesamtwirtschaft und Gesellschaft belasten. Finanzmärkte sollten auf ihre dienende Funktion zurückgeschraubt werden. Der ordnende Staat hat für streng einzuhaltende Spielregeln des Wirtschaftens zu sorgen. Sicherlich hat die um sich greifende Gier die Fehlentwicklung vorangetrieben. Sie ist ein zutiefst moralisches Problem. Dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Diskurses über Ethik und Moral. Aktuell ist es wichtig, der Entfaltung von Gier durch Spielregeln auf den Finanzmärkten den Boden zu entziehen. Im Kern ist die Kapitalismusrettung durch Schrumpfen und Regulierungen eine Frage der Macht. Da bisher nicht viel von den Versprechungen umgesetzt worden ist, werden die Krisen immer schneller kommen und heftiger ausfallen. Auch deshalb muss Politik in Deutschland, in der EU und auf der Ebene der G20-Gruppe die Macht der Banken und Megafonds in die Schranken weisen. Dazu dient vor allem eine umfassende Demokratisierung. Die parlamentarische Demokratie braucht die Stärkung durch die Demokratisierung der Wirtschaft. Ein wichtiges Instrument ist der Ausbau der Mitbestimmung. Nur so lässt sich die über die Interessen der Finanzmärkte gesteuerte Politik durchbrechen. Demokratie darf vor den Banken nicht haltmachen.

Aufklärung über das Krisenpotenzial eines entfesselten Kapitalismus samt den belastenden Folgen sowie die Konzepte zu einer sozialen und ökologisch nachhaltigen Wirtschaft sind dringend erforderlich. Hier stehen die betriebswirtschaftlichen Studiengänge in der Pflicht. Techniken ohne sozialen und politischen Sinn und Verstand herrschen vor. Der organisierte Verzicht auf die Diskussion von Wirtschaftsethik und Moral bei der Präsentation von Modellen zur Renditeoptimierung ist ein Skandal, der den Betroffenen sowie der Gesellschaft teuer zu stehen kommt. Der heutigen Generation der Studierenden in Sachen Techniken der Renditeoptimierung im Kapitalismus droht die Reduktion auf den seelenlosen und therapieverdächtigen „homo oeconomicus“. Wo bleibt der Aufstand für den Bildungsauftrag zum Nutzen der Betroffenen und der Gesellschaft?

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