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Möglicherweise sind im ukrainischen Mariupol chemische Waffen zum Einsatz gekommen.
© dpa/Victor/XinHua

„Chemische Waffen passen leider in Putins Kalkül“: Ist die nächste Eskalationsstufe im Ukraine-Krieg erreicht?

Großbritannien und die USA untersuchen einen möglichen Chemiewaffeneinsatz. Damit, dass Russland solche Waffen nutzt, rechnen Experten seit Wochen.

Ob Russland in der praktisch vollständig zerstörten Hafenstadt Mariupol nun auch Giftgas eingesetzt hat, bleibt vorerst unklar. Die Nachricht hatte das ultranationalistische ukrainische Asow-Regiment verbreitet, das unter anderem in Mariupol kämpft.

Bestätigungen fehlen aber bisher. Die Vize-Verteidigungsministerin der Ukraine, Hanna Maliar, sagte, es könne sich bei dem Kampfstoff um Phosphor-Munition gehandelt haben. Man werde die Sache untersuchen.
Die russische Seite dementierte. Die Separatistenmilizen in der ostukrainischen Region Donezk, die ebenfalls in Mariupol sind, bestritten den Einsatz nach Angaben eines ihrer Kommandeure, wie die russische Agentur Interfax meldete. Großbritannien und die USA zeigten sich allerdings besorgt und kündigten eigene Untersuchungen an.

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Sollte sich der Einsatz von Chemiewaffen bestätigen, werde der Westen reagieren, sagte der für die Streitkräfte zuständige Minister in London, James Heappey: Es lägen dafür „alle Optionen auf dem Tisch“.

Im Syrienkrieg wird Giftgas seit 2012 als Waffe verwendet

Bereits im Syrien-Krieg, in dem Moskau das Assad-Regime unterstützt, wird seit 2012 Giftgas als Waffe verwendet. Den Befehl dazu gab aber Damaskus. Die Regierung Putin deckte den völkerrechtswidrigen Einsatz jedoch und verhinderte zusammen mit China Sanktionen gegen Assad, obwohl eine internationale Kommission den Nachweis erbracht hatte, dass das Regime die verbotenen Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung richtete.
Damit, dass Russland chemische Waffen einsetzen könnte, rechne er bereits seit Wochen, sagt der Politologe und Militärexperte Frank Sauer, der an der Bundeswehr-Universität in München lehrt: „Natürlich verfügt Russland über chemische Waffen und hat sie auch bereits eingesetzt“, sagt er dem Tagesspiegel. „Das lehren uns die Fälle Skripal und Nawalny.“

Sergej Skripal, ein früherer russischer Offizier, und seine Tochter Julia entgingen im März 2018 nur knapp dem Tod, nachdem sie mit dem Nervengift Nowitschok angegriffen worden waren.

Der Putin-Kritiker Alexej Nawalny wurde 2020 wegen desselben Gifts in der Berliner Charité behandelt. Ob allerdings am Montag in Mariupol chemische Waffen zum Einsatz gekommen seien, hält Sauer nicht für sicher.

„Die Symptomatik ist zumindest untypisch.“ Für die Prüfung brauche es Rückstände und eine gerichtsmedizinische Untersuchung. Das sei in Mariupol derzeit kaum möglich.

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Das Asow-Regiment hatte am Montagabend berichtet, ein unbemanntes Luftfahrzeug, also wohl eine Drohne, habe eine „giftige Substanz“ auf ukrainische Soldaten und Zivilisten geworfen, die Atem- und neurologische Probleme verursacht habe, „aber ohne katastrophale Folgen“. Der Einsatz von Chemiewaffen sei eine Eskalationsstufe, die zum Kriegsbild der nächsten Wochen passen würde, meint Sauer. „Der Kampf um den Donbass wird ein ‚Abnutzungskrieg‘, und ich befürchte, dass auch die Zivilbevölkerung weiter terrorisiert werden wird.

„Chemische Waffen passen leider in Putins Kalkül“

Chemische Waffen passen leider in Putins Kalkül. Natürlich würde danach wieder so getan, als sei Russland es nicht selbst gewesen, sondern separatistische Volksgruppen, Standardsätze und Nebelkerzen, die wir seit Jahren aus dem Kreml vernehmen.“
Ob mit dem Einsatz von Chemie-Waffen die sogenannte „rote Linie“ überschritten sei, vermag er nicht zu beurteilen. „Die Nato ist sehr stabil in ihrer Haltung, nur die eigenen Allianzmitglieder zu verteidigen.

Aber möglicherweise würden einzelne Länder tätig werden wollen.“ Auch für Länder wie Indien und China könnte sich die Einstellung zu dem russischen Angriffskrieg durch den Einsatz chemischer Waffen womöglich ändern.

Auch Hanna Notte, Russland-Expertin und Wissenschaftlerin am James Martin Center for Nonproliferation Studies, kann sich den Einsatz chemischer Waffen in den kommenden Wochen durchaus vorstellen. „Zwar hat Russland 2017 vor der OVCW, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, erklärt, alle seine chemischen Waffen zerstört zu haben, daran bestehen aber berechtigte Zweifel. Das Dossier dazu ist geschlossen und es ist schwierig , es wieder zu öffnen.

Wir gehen aber davon aus, dass es Nowitschok-Bestände gibt.“ Ob Chemiewaffen zum Einsatz kommen werden hänge davon ab, ob Russland in den kommenden Wochen einen militärischen Sinn darin sehen werde.

„Für einen Zermürbungskrieg und um Angst und Schrecken verbreiten zu wollen, sind das die geeigneten Waffen.“

Die Hemmschwelle für einen solchen Einsatz hält Notte für gering. „Die Konsequenzen, die für Russland daraus resultieren würden, wären überschaubar. Die Nato hat die Ukraine durch Lieferung von Schutzausrüstung in die Situation versetzt, sich zu schützen, mehr nicht.“

Alle Schritte würden mit Vorsicht kalkuliert werden, um eine nukleare Eskalation zu verhindern. „Auch die Giftgasanschläge in Syrien sind bislang kaum geahndet worden, weil wirkliche Sanktionen immer durch Russland blockiert worden sind, das ist eine Art Präzedenzfall.

Und alles, was Inspekteure der OVCW bei einem Einsatz in Donbas machen würden, würde seitens Russlands diskreditiert werden.“ Auch habe sich die westliche Politik durch die Vorfälle in Syrien nicht wirklich geändert.

Die Propagandamaschine in Russland sei gut geölt, sagt Notte. „Im Staatsfernsehen würde weiter alles der ukrainischen Seite in die Schuhe geschoben werden, das stieß auch bislang auf nährhaften Boden.“

Sie ist sich sicher: „Russland würde einen Dreh finden, trotzdem gut dazustehen, sowohl national als auch bei den Ländern, die Russland zumindest noch neutral gegenüberstehen.“
Möglicherweise sei Russland überrascht darüber, wie geeint die Nato sich verhalten habe und auch über die starken wirtschaftlichen Sanktionen. „Aber Russland weiß um die militärische Risikoaversion. Und das ist ein großer Trumpf.“

Der Völkerrechtler Barry de Vries, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Gießen und assoziierter Wissenschaftler der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, verweist wie Sauer auf die Schwierigkeiten, einen Angriff mit Chemiewaffen festzustellen.

Sollte es sich aber, wie von der Kiewer Regierung angedeutet, in Mariupol um weißen Phosphor handeln, sei die Situation eine andere: „Diese Substanz wird im Allgemeinen nicht als Chemiewaffe eingestuft“, sagt de Vries, der Spezialist für Rüstungskontrollrecht ist, dem Tagesspiegel.

Für Einsatz der Waffen gibt es bislang keinen Beweise

Zwar seien sowohl die Ukraine wie auch Russland Vertragsparteien des Chemiewaffenübereinkommens, das nicht nur den Einsatz von Chemiewaffen, sondern auch deren Entwicklung, Herstellung und Lagerung verbietet.

Aber: „Die russischen Streitkräfte haben bisher eine besorgniserregende Missachtung des humanitären Völkerrechts an den Tag gelegt und scheinen gezielt Zivilisten und zivile Objekte anzugreifen, um Terror auszulösen; chemische Waffen könnten also durchaus eingesetzt werden, um die ukrainische Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Doch dafür gebe es bisher eben keinen Beweis.

Für eine massive Antwort gegen Russland brauche es ohnehin keinen Chemiewaffeneinsatz als Begründung: „Schon jetzt dürfen Drittstaaten der Ukraine im Wege der Selbstverteidigung beistehen.“

Bisher habe man sich aber politisch dagegen entschieden und es erscheine fraglich, dass sich das ändern werde: „Die wahrscheinlichste Antwort wird die Fortsetzung und vielleicht die Ausweitung der Bereitstellung von militärischem Material an die Ukraine und die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland sein.“

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