Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland: Ist die EU-Kommission von allen guten Geistern verlassen?
Die spinnen, die Brüsseler! Mit dem Vertragsverletzungsverfahren schürt die EU-Kommission die Ressentiments gegen ein vermeintlich übergriffiges Europa. Ein Kommentar.
Ist die EU-Kommission von allen guten Geistern verlassen? Weil ihr ein Urteil der Bundesverfassungsrichter übel aufstößt, das schwere und gut begründete Bedenken gegen das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) formuliert, will sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten.
Dieses Vorgehen ist brandgefährlich. Die Kommission schürt so die Ressentiments gegen die Übergriffigkeit der Brüsseler Institutionen, die sie doch eigentlich unter Kontrolle bekommen möchte. Die Kommission lässt sich von der Befürchtung leiten, wenn das deutsche Verfassungsgericht Zweifel am Vorrang des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht äußere und sich damit durchsetze, werden Polen und Ungarn dem Beispiel folgen. Das ist zwar nachvollziehbar, aber dem lässt sich anders entgegentreten. Wenn zwei etwas ähnliches tun, ist es noch lange nicht das Gleiche.
Eine gute Absicht ist keine ausreichende Begründung für ein fragwürdiges Vorgehen. Wie soll die Bundesregierung als Adressatin des Vertragsverletzungsverfahrens denn nun, bitte, vorgehen? Dem Bundesverfassungsgericht vorgeben, dass es sich dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterzuordnen habe? Das verbietet schon die Gewaltenteilung. Die Justiz entscheidet unabhängig von der Exekutive.
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Auch das Ergebnis, das die EU-Kommission anstrebt, den generellen Vorrang europäischer Gerichtsbarkeit vor nationaler Gerichtsbarkeit, sollte auf Stirnrunzeln stoßen. Diesen absoluten Vorrang kann es im jetzigen Zustand der europäischen Integration nicht geben, weil die Zuständigkeiten aufgeteilt sind zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten. Vorrang europäischen Rechts auf Gebieten, die in die Kompetenz der EU fallen – ja. Soweit aber die Kompetenzen der Nationen und ihrer Institutionen sowie der von ihnen vollzogenen Rechtsakte berührt sind, sind nationale Verfassungen weiter maßgeblich.
Die Karlsruher Richter haben in ihrem Urteil zu den EZB-Anleihekäufen aufgelistet, wo sie die juristischen Lücken sehen. „Schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ nannten sie die Begründung, mit der der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Anleihekäufe billigte.
Die weitere Integration in der EU ist wünschenswert. Aber sie muss, wenn sie langfristig Bestand haben soll, rechtskonform erfolgen. Und sich auf den weitgehenden Konsens der Bürgerinnen und Bürger stützen. Wer möchte, dass die EU ihre Rechte und Zuständigkeiten erweitert, sollte sich für eine entsprechende Änderung der Europäischen Verträge einsetzen. Das Problem besteht freilich darin, dass die dafür nötige Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten nicht zu erwarten ist.
Die Brüsseler Institutionen haben in dieser misslichen Lage eine Tendenz, ihre Zuständigkeiten über die vertraglich festgelegten Kompetenzen hinaus ausweiten zu wollen. Das ist bedenklich. Die nationalen Verfassungsgerichte werden in diesem Machtkampf gebraucht, zum Schutz der nationalen Kompetenzen.
Die EU ist am Ende nur so stark wie ihr Rückhalt unter den Bürgerinnen und Bürgern. Die hängen mehrheitlich an ihren Nationalstaaten. Ein Vertragsverletzungsverfahren, das im Kern darauf abzielt, einer angesehenen nationalen Institution wie dem Bundesverfassungsgericht zu verbieten, in Fragen, die die nationale Ebene und die EU-Ebene betreffen, die Stimme zu erheben, wirkt arrogant und übergriffig. Die Kommission schadet damit dem Ziel, die Bereitschaft zu weiteren Integrationsschritten zu stärken.