Scheitert die Coronahilfe der EU vor Gericht?: „Das Finanzpaket wird der EU um die Ohren fliegen“
Europarechtler der Humboldt-Uni erheben gravierende Bedenken gegen die Coronahilfen der EU. Sie warnen vor erfolgreichen Klagen beim Verfassungsgericht.
Es ist zweifelhaft, ob die Coronahilfen der EU je fließen werden. Das ganze Finanzpaket sei juristisch bedenklich, sagen zwei Europarechtler. Dies gelte unabhängig vom Ausgang des Streits mit Polen und Ungarn um den Rechtsstaatsmechanismus.
Die Haupteinwände von Matthias Ruffert, Professor für Europarecht an der Humboldt-Universität, und Malte Symann, der zum Thema „Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht“ promoviert hat und Rechtsanwalt in der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ist:
- Die EU benutzt eine für diesen Zweck fragwürdige Vertragsklausel, die für Katastrophenhilfe einzelner Länder gedacht ist. Sie will einen Großteil der Gelder dann aber für andere Zwecke verwenden.
- Sie nimmt hohe Kredite auf, ohne die Rückzahlung verbindlich zu regeln. Das verstößt gegen Haushaltsrecht.
- Der vorgesehene Mechanismus läuft auf eine verbotene „monetäre Staatsfinanzierung“ hinaus.
- Der Bundestag will den deutschen Anteil mit einfacher Mehrheit beschließen. Dabei sei eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, weil de facto ein neuer Finanzausgleich eingeführt werde. Das sei "eine Einladung zu einer Verfassungsbeschwerde" in Karlsruhe.
Seit einem Dreivierteljahr verhandelt die EU, wie sie ihren Mitgliedern mit einem Finanzpaket aus der Coronakrise helfen kann. Abgesehen von der Vetodrohung Polens und Ungarns, die nun mit einem Kompromiss überwenden werden soll: Wie beurteilen Sie als Europarechtler die Chancen, dass die Hilfen bald fließen?
Ruffert: Ich sehe hohe Risiken, dass das Finanzpaket einer Rechtskontrolle nicht standhält. Der Rechtsstaats-Mechanismus war und ist dabei noch das geringere Risiko. Ich habe europarechtliche Bedenken gegen die Konstruktion des Finanzpakets. Und ich fürchte, dass die Art, wie der Bundestag über den deutschen Anteil beschließen möchte, zu Klagen beim Bundesverfassungsgericht führt, die eventuell Erfolg haben.
Sie fürchten also: Das Finanzpaket wird der EU um die Ohren fliegen?
Ruffert: Wenn Sie das so ausdrücken möchten: Ja.
Bleiben wir zunächst bei Polen und Ungarn. Beide argwöhnen, die Bindung der EU-Gelder an die Rechtsstaatlichkeit sei politisch motiviert und richte sich allein gegen sie. Hat die EU einen klaren Katalog, was einen Rechtsstaat ausmacht, ähnlich den Stabilitätskriterien im Euroraum, wo man objektiv feststellen kann, ob ein Land zu hoch verschuldet ist?
Symann: Man kann Rechtsstaatlichkeit nicht mathematisch präzise messen wie ein Budgetdefizit. Aber wir haben in der EU gemeinsame Kriterien zur Rechtsstaatlichkeit entwickelt, zum Beispiel in der Grundrechtecharta. Besonders wichtig ist der allgemein anerkannte Grundsatz, dass die Justiz unabhängig sein muss. Der EuGH (Europäische Gerichtshof) hat hierzu Kriterien festgelegt, die sich auch in der neuen Sanktionsverordnung wiederfinden.
Die Unabhängigkeit der Richter ist ein abstrakter Grundsatz. Die 27 EU-Staaten haben jedoch unterschiedliche Rechtstraditionen und manche nicht mal ein Verfassungsgericht. Herrscht in Europa Einigkeit, wie eine unabhängige Justiz organisiert sein muss?
Ruffert: Der EuGH hat die richterliche Unabhängigkeit in mehreren Urteilen durchdekliniert. Dazu gehören: Keine Einflussnahme von außen und die Äquidistanz zu den Prozessparteien. Der EuGH möchte, wenn es Konflikte gibt, von den Richtern ganz genau hören, wo politische Einflussnahme bis in die konkrete Entscheidung eingreift. In den polnischen Fällen konnte das relativ leicht gezeigt werden.
Symann: Polen und Ungarn haben beispielsweise das Pensionsalter amtierender Richter herabgesetzt und dadurch etliche Richter entlassen, um neue, mutmaßlich linientreuere, Richter ernennen zu können.
Trugen diese Fälle zur Glaubwürdigkeit eines gravierenden Verstoßes gegen den Rechtsstaat bei, wenn es am Ende nur um Details wie die Höhe des Pensionsalters und die gleiche Altersgrenze für Frauen und Männer ging? Polen und Ungarn haben ihre Gesetze angepasst. Das Problem politischer Richterberufung aber bleibt.
Ruffert: Es geht um Grundsätzliches: Die neuen Pensionsregeln dürfen nicht auf amtierende Richter angewandt werden, um sie aus dem Verkehr zu ziehen, sondern erst auf die, die nach Beginn der neuen Regelung ins Amt kommen.
Sie beide sagen: Wir haben klare Hinweise, dass die Unabhängigkeit der Richter in Polen und Ungarn stärker bedroht ist als in anderen EU-Staaten?
Ruffert: Ja.
Symann: Sicher.
Und doch tut sich die EU schwer, Polen und Ungarn zur Rechtsstaatlichkeit zu zwingen. Warum?
Symann: Es gibt verschiedene Verfahren, dagegen vorzugehen. Bei dem nach Artikel 7 EU-Vertrag müssen sich alle außer dem betroffenen Land einig sein, um Sanktionen zu verhängen. Aber Polen und Ungarn schützen sich gegenseitig. Die Kommission nutzt nun verstärkt das Vertragsverletzungsverfahren und konnte in einigen Verfahren bereits Erfolge erzielen. Trotzdem bleibt in der Gesamtschau die Rechtsstaatlichkeit in beiden Mitgliedstaaten weiter akut gefährdet.
Die Dynamik hatte dazu geführt, dass Polen und Ungarn mit ihrem Veto gegen das Finanzpaket wegen der Rechtsstaatklausel drohten. Der Streit soll nun mit einem Kompromiss gelöst werden, den wir aber noch nicht kennen. Was ist Ihr Maßstab, wie weit die EU nachgeben darf?
Symann: Die EU kann nicht zurückweichen. Dafür ist der Druck aus der Kommission, aus mehreren Mitgliedstaaten und aus dem Parlament zu stark.
Ruffert: Das sehe ich ebenso. Polen erfahre ich trotz allem als europafreundlich und damit letztlich zum Kompromiss bereit; aus Ungarn kommen sehr harte Worte.
Manche haben als Ausweg vorgeschlagen, das Finanzpaket dann eben zu 25 statt zu 27 zu verabschieden. Ginge das europarechtlich?
Ruffert: Dann ändern sich die rechtlichen Voraussetzungen. Nutzt man die Option einer verstärkten Zusammenarbeit, müssen die beteiligten Länder die Kosten tragen, nicht der gemeinsame EU-Haushalt. Man braucht also ein neues Vehikel, über das diese Gelder fließen: einen Fonds oder ein Sondervermögen. Wie will man das organisieren, ohne dass die Schuldenlast der bereits hoch verschuldeten Länder steigt? Die Europarechtler, die sich dazu bisher geäußert haben, sagen: Das kriegt man nicht hin. Schon die bisherige Konstruktion mit allen 27 ist rechtlich fragwürdig.
Was sind Ihre Einwände?
Ruffert: Ich habe dreierlei Bedenken. Erstens wegen der Rechtsgrundlage. Artikel 122 ist gedacht für Versorgungsschwierigkeiten mit bestimmten Waren oder für Katastrophen in einem Einzelstaat, der deshalb Hilfen der EU benötigt. Nun könnte man sagen: Wir haben es nicht nur in einem Staat, sondern in allen Staaten mit der Corona-Katastrophe zu tun. Das Finanzpaket soll aber nicht allein Corona-Folgen bekämpfen, sondern hat weitergehende Ziele: Digitalisierung, Kampf gegen den Klimawandel. Das passt nicht zu Artikel 122.
Zweitens sind keine überzeugenden Konditionen zur Vergabe der Mittel vorgesehen. Die Empfängerländer lehnen das teilweise auch ab. Drittens sollen die Gelder für die Coronahilfe aus Krediten kommen und als „sonstige Einnahmen“ großteils in Form von Zuschüssen an die Hilfsbedürftigen gehen. Die Rückzahlung soll erst 2028 beginnen, dann aber aus dem EU-Haushalt, den die Mitgliedstaaten finanzieren. Das widerspricht dem geltenden Haushaltsrecht. Die sonstigen Einnahmen machen heute etwas über ein Prozent des EU-Haushalts aus. Jetzt sollen sie, sogar als Kredite, ein Mehrfaches des EU-Haushalts betragen. So kann das nicht funktionieren.
Wie ginge es?
Ruffert: Man müsste offenlegen, was gemeint ist: Man will hunderte Milliarden Euro, die nicht da sind, verteilen. Jemand muss diese hohen Kredite aufnehmen, nämlich die EU. Denn sonst sind die beteiligten Staaten die Kreditnehmer. Das soll aber nicht sein, weil viele schon hoch verschuldet sind. Eigentlich müssten Nettozahler wie Deutschland, Dänemark, Finnland, die Niederlande, Schweden die Kredite aufnehmen, weil sie noch Luft haben, und in den EU-Haushalt einspeisen. Würde man das so ehrlich sagen, könnte das einige Nettozahler-Regierungen politisch in Schwierigkeiten bringen.
Wie bewerten Sie das Vorgehen?
Ruffert: Es hat etwas von einer riskanten Luftbuchung. Wer kauft denn diese Anleihen? Die EZB könnte das tun und Hauptgläubigerin der EU werden. Das wäre dann monetäre Staatsfinanzierung: Der Staat (oder die EU) druckt sich das Geld, das er braucht. Genau das darf eigentlich nicht sein.
Und was wäre das Denkmodell für die Zukunft, falls das Veto Polens und Ungarns jetzt durch eine politische Lösung überwunden wird, aber es bei einem ähnlichen Projekt zu Streit kommt?
Symann: Die intergouvernementale Kooperation einiger Mitgliedstaaten wäre eventuell eine Alternative, etwa im Rahmen des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus). Solche Kredithilfen in der Eurozone hat man zu Beginn der Coronakrise vorgeschlagen. Der ESM umfasst nur Euro-Staaten, Ungarn und Polen wären also nicht dabei. Aber Nettozahler wie Dänemark und Schweden wären auch nicht dabei – was diese Staaten vermutlich freuen dürfte, aber vermutlich zu höheren Kosten etwa für Deutschland und die Niederlande führen würde. Zudem müsste man eine Lösung für die hilfsbedürftigen Nicht-Euro-Staaten wie Bulgarien und Rumänien finden.
Bei diesen Alternativen sind zwei Hauptprobleme die Zeit und die bereits hohe Verschuldung der Länder, die Hilfe brauchen.. Man müsste einen neuen Mechanismus schaffen und verhandeln, wer wieviel zahlt und wer wieviel bekommt. Das hat beim letzten Mal viele Monate gedauert. Ist das ein praktikables Verfahren für Soforthilfe?
Ruffert: Die EU ist von ihrer Konstruktion her kein Finanzausgleichsmechanismus. Man darf von der EU nicht etwas erwarten, wozu man sie vorher bewusst nicht ausgestattet hat. Nach der Finanzkrise hat die EZB den Laden de facto am Laufen gehalten. Aber auch das ist rechtlich hoch problematisch, wie wir an den Karlsruher Urteilen sehen.
Wenn der ganze Ansatz rechtlich hochproblematisch ist, liegt es nahe, dass jemand klagt. Die Regierungen, die das Finanzpaket ausgehandelt haben, werden es wohl nicht tun. Wer kann klagen?
Ruffert: Ich bin mir nicht so sicher, dass kein EU-Land klagt, zum Beispiel nach einem Regierungswechsel. In Finnland ist bereits der Finanzminister über den Streit um die Coronahilfen gestürzt. Auch in den Niederlanden ist das Paket nicht beliebt.
Symann: Regierungen werden aber zögern zu klagen, auch nach einem Machtwechsel, weil das die europapolitische Zuverlässigkeit ihres Landes in Frage stellen würde.
Ruffert: Vor dem EuGH können in diesem Zusammenhang nur Mitgliedsländer und EU-Organe klagen. Wenn jemand in Deutschland Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Finanzpakets hat, kann er sich an das Bundesverfassungsgericht wenden. Das muss dann prüfen, ob deutsche Stellen alles tun, um rechtswidriges Handeln auf europäischer Ebene und ihr Mitwirken dabei auszuschließen.
Außerdem muss der Bundestag dem Finanzpaket zustimmen. Und hier tritt das nächste Problem auf. Mit dem Finanzpaket soll ein vorher nicht vorhandener Finanzausgleichsmechanismus etabliert werden. Das entspricht qualitativ einer EU-Vertragsänderung. Die geht in dieser Form nur mit Zweidrittelmehrheit. Der Bundestag möchte dem EU-Finanzpaket aber mit einfacher Mehrheit zustimmen. Das ist eine Einladung zu einer Verfassungsbeschwerde.
Symann: Der Ansehensverlust für die EU wäre jedenfalls dramatisch, wenn der angekündigte Wiederaufbaufonds mitsamt Budget scheitert.
Sie sagen: Das Finanzpaket birgt rechtliche Risiken. Sehen die Politiker diese nicht? Warum gehen sie Wege, die juristisch so fragwürdig sind?
Ruffert: Ich möchte die Juristischen Dienste der EU in Schutz nehmen. Was sollen sie antworten, wenn die politischen Spitzen sagen: Wir legen 750 Milliarden Euro auf den Tisch, seht zu, wie ihr das hinbekommt? Die gefundene Lösung ist äußerlich ein juristisches Kunstwerk; hierin steckt großer Aufwand. Nach meiner Auffassung wäre die rechtssichere Antwort aber gewesen, dass es nicht geht, jedenfalls nicht ohne eine Änderung der Europäischen Verträge.
Und deshalb haben Polen und Ungarn jetzt einen Hebel, um den Rechtsstaatsmechanismus zu schwächen?
Symann: Den Rechtsstaatmechanismus könnte die EU auch gegen den Willen von Polen und Ungarn mit Mehrheit beschließen. Ob das taktisch klug ist, ist eine andere Frage.
Müssen nicht die Parlamente aller EU-Mitgliedstaaten dem Finanzpaket zustimmen, bevor das Geld fließen kann?
Symann: Nur die übrigen Teile des Finanzpakets, also der Mehrjährige Finanzrahmen und der Wiederaufbaufonds, brauchen die Zustimmung aller. Dass auch der Rechtsstaatsmechanismus Teil dieses Finanzpakets ist, ist eine rein politische Entscheidung. Theoretisch können Europäischer Rat und Europäisches Parlament den Rechtsstaatmechanismus gegen den Willen von Polen und Ungarn beschließen und sie vor vollendete Tatsachen stellen. Das hätte aber natürlich Auswirkungen auf die Chancen der Zustimmung in den Parlamenten in Polen und Ungarn.
Was würde der Rechtsstaatmechanismus bewirken? Er greift nur bei Rechtsverstößen gegen das Haushaltsrecht.
Symann: Die Wirkung wird öffentlich etwas überzeichnet. Der Mechanismus greift nur bei Verstößen, die eine Auswirkung auf den EU-Haushalt haben – etwa über EU-Förderungen für Infrastrukturprojekte. Andererseits erreicht man hierüber schon Breitenwirkung: Denn der Rechtsstaatsmechanismus legt fest, dass alle Behörden, die EU-Gelder ausgeben, rechtsstaatlich einwandfrei arbeiten müssen. Und das sind sehr viele, national wie regional. Zudem müssen auch Staatsanwaltschaften und Gerichte diesen höheren Standards genügen, jedenfalls soweit sie die korrekte Vergabe von EU-Mitteln überprüfen.