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Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel
© dpa

Netanjahus vielleicht letzte Wahl: Israel steht am Dienstag vor der Entscheidung

Die israelische Bevölkerung ist zur Parlamentswahl aufgerufen. Premier Netanjahu ist zu vielem bereit, um die Macht zu erhalten – doch es sah selten so eng aus.

Das hat es in Israels Geschichte bislang nicht gegeben: Fünf Monate nach der Parlamentswahl im April treten die Israelis am Dienstag erneut an die Wahlurnen: Premier Netanjahu war es im Mai nicht gelungen, eine Koalition auf die Beine zu stellen. Und diesmal? Umfragen deuten darauf hin, dass die Regierungsbildung nicht einfacher wird – weder für Netanjahu, noch für Herausforderer Benny Gantz. Über allem schwebt die drohende Anklage des Premiers in drei Korruptionsfällen. Könnte diese Wahl Netanjahus letzte sein? Fest steht derzeit vor allem eins: Dem Land stehen entscheidende Wochen bevor.

Wer zur Wahl antritt

Mindestens neun Parteien und Bündnisse werden Umfragen zufolge den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde ins Parlament schaffen – eine beachtliche Zahl für ein Land mit gerade einmal rund neun Millionen Einwohnern. Die Parteienlandschaft ist so zersplittert wie die Gesellschaft des Landes. Die zwei größten Parteien, die sich in den Umfragen ein Kopf an Kopf Rennen liefern, sind der rechte Likud von Benjamin Netanjahu und das Bündnis „Blau-Weiß“ mit Benny Gantz an der Spitze, der politischen Mitte zuzuordnen. Sie könnten jeweils um die 30 Sitze erhalten.

Im linken Lager treten zwei neue Bündnisse an: Die „Demokratische Union“ besteht unter anderem aus der linksliberalen „Meretz“ und der von Ex-Premier Ehud Barak neu gegründeten Partei „Demokratisches Israel“. Außerdem hat sich die einst ehrwürdige Arbeiterpartei - im April auf sechs Sitze abgestürzt – in einem überraschenden Schritt mit der Mitte-Rechs-Patei „Gescher“ verbündet. Die arabischen Parteien treten gemeinsam als „Vereinigte Liste“ an.

Im rechten Lager steht nun Ex-Justizministerin Ajelet Schaked an der Spitze des nationalreligiösen Bündnisses „Yamina“. Alleine kämpfen hingegen die beiden ultraorthodoxen Parteien sowie Avigdor Lieberman mit seiner Partei "Unser Haus Israel". Er setzt mit säkularen Themen auf die zahlreichen russischen Wähler, die rund zwölf Prozent der Stimmen ausmachen. Lieberman könnte bis zu elf Sitze erreichen – doppelt so viele als noch im April – und damit zum Königsmacher werden.

Mögliche Koalitionen

Die Regierungsbildung dürfte so schwierig werden wie im April. Weder Netanjahu noch Herausforderer Benny Gantz kommen nach derzeitigen Prognosen mit ihren Wunschparteien auf die nötigen 61 von 120 Sitzen. Gantz könnte 53 erreichen – aber auch nur dann, wenn er mit den arabischen Parteien koaliert, was unwahrscheinlich ist. Und Netanjahu käme selbst mir der ultrarechten Partei Otzma Yehudit, die es nur knapp in die Knesset schaffen dürfte, wohl nur auf rund 58 Sitze.

Eine große Koalition schwebt hingegen Avigdor Lieberman vor – zusammen mit dem Likud und dem Bündnis Blau-Weiß – aber definitiv ohne die ultraorthodoxen Parteien. Lieberman hat angekündigt, jene Partei für die Koalitionsbildung zu empfehlen, die bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Und Blau-Weiß hat bereits Bereitschaft signalisiert, mit dem Likud zu verhandeln – allerdings nicht mit Netanjahu an der Spitze. Netanjahu wiederum hat Lieberman zu seinem politischen Feind erklärt, nachdem der die vergangenen Koalitionsverhandlungen mit seiner Kompromisslosigkeit gegenüber den Ultraorthodoxen hat platzen lassen. Eine große Koalition dürfte also ebenfalls schwer durchzusetzen sein.

Die innenpolitisch wichtigsten Themen

Die Koalitionsverhandlungen im Mai sind auch an der Frage zerbrochen, wie die Ultraorthodoxen in die Armee integriert werden sollen. Bislang sind sie vom Pflichtdienst befreit – zum Unmut vieler Säkularer. Seitdem ist das Zusammenspiel von Religion und Staat zu einem der wichtigsten innenpolitischen Themen des Wahlkampfes herangewachsen.

Es geht dabei nicht nur um den Armeedienst, sondern auch um den Einfluss der Religion auf den Alltag der Menschen: um Bauarbeiten, öffentliche Verkehrsmittel und geöffnete Läden am Schabbat sowie um Geschlechtertrennung bei öffentlichen Konzerten und in Bussen. Immer öfter scheinen die Säkularen bereit, den Kampf gegen den Einfluss der Ultraorthodoxen aufzunehmen – allen voran Avigodor Lieberman sowie Jair Lapid, Co-Chef des Bündnisses „Blau-Weiß“.

Ansonsten geht es den Israelis derzeit vor allem um die Frage: Bibi, ja oder nein? Der Premier, der von den Israelis gerne bei seinem Spitznamen genannt wird, ist eine umstrittene Figur: Die einen lieben ihn, nennen ihn einen „König“, können sich kaum noch eine Zukunft ohne ihn an der Spitze vorstellen. Die anderen halten ihn für einen korrupten Strippenzieher, der versucht, den Rechtsstaat auszuhebeln – indem er beispielsweise mit neuen Gesetzen den Obersten Gerichtshof entmachten will.

Laut Umfragen des Israelischen Demokratie-Instituts folgen Israelis bei ihrer Wahlentscheidung vorrangig sozioökonomischen Interessen. Im Wahlkampf selbst spielen diese allerdings eine untergeordnete Rolle: Hauptsächlich das Bündnis aus Arbeiterpartei und Gescher wirbt mit sozialen und wirtschaftlichen Themen.

Die heikelsten Kontroversen

Das Thema Sicherheit spielt für die israelischen Wähler seit jeher eine wichtige Rolle. Das weiß Premier Netanjahu, ein Hardliner, der sich gerne als Mr. Security inszeniert. Doch der angespannten Lage entlang des Gazastreifens wird er seit Monaten nicht Herr. Immer wieder flogen jüngst Raketen aus Gaza auf den Süden Israels.

Eine Woche vor der Wahl wurde Netanjahu persönlich bei einem Wahlkampfauftritt in der Küstenstadt Ashdod von einem Raketenalarm überrascht und von seinen Bodyguards in Sicherheit gebracht. Zum Spott seiner politischen Konkurrenz: Sie werfen ihm im Umgang mit der Hamas Versagen vor. Auch Herausforderer Benny Gantz, einst Armeechef des Landes, plädiert für mehr Härte, auch in Form von Angriffen und gezielten Tötungen.

Weitestgehend Einigkeit herrscht hingegen in Sachen Annexion von Teilen des besetzten Westjordanlandes. Die Zweistaatenlösung spielt kaum noch eine Rolle im Wahlkampf, nicht mal Herausforderer Benny Gantz spricht darüber. Stattdessen nennt er Netanjahus Annexionsversprechen eine Adaption der Pläne von Blau-Weiß. Unumstritten ist auch Netanjahus harter Kurs in Sachen Iran: Der Erzfeind Israels warnt seit Jahren mit der Vernichtung des jüdischen Staates und versucht, sich an der Nordgrenze Israels auszubreiten. Netanjahu weiß, dass er bei dem Thema fast nur punkten kann: So verkündete er vergangene Woche live auf Facebook, Israel habe erneut eine geheime Atomwaffenanlage im Iran entdeckt, in der Nuklearwaffen getestet worden seien.

Wie eng wird es für Benjamin Netanjahu?

Selten sah es für Benjamin Netanjahu so eng aus wie dieses Mal. Jüngst bangte der Premier sogar um den Rückhalt in den eigenen Reihen und ließ sich die Loyalität seiner Parteikollegen schriftlich zusichern. Netanjahu musste zuletzt mehrere Niederlagen einstecken. Vergangene Woche ließ ihn Avigdor Lieberman gleich zweimal auflaufen mit seinem Vorschlag, Parteimitarbeitern das Filmen in Wahlstationen zu erlauben. Ein entsprechendes Gesetz scheiterte am Widerstand von „Unser Haus Israel“ – zunächst im Regulierungskomitee, dann im Parlament. Netanjahus Likud-Partei hatte den Gesetzentwurf eingebracht, angeblich um Wahlmanipulation zu verhindern. Kritiker warfen dem Premier vor, damit vor allem arabische Wähler einschüchtern zu wollen.

Bislang konnte sich Netanjahu auf Wahlhilfe aus dem Ausland verlassen: So erkannten die USA kurz vor der Wahl im April die im Sechstagekrieg 1967 eroberten und später annektierten Golanhöhen als Teil Israels an. Und nun? Signalisiert Donald Trump seine Bereitschaft zu Gesprächen mit dem Iran. Ausgerechnet. Für Netanjahu ein Albtraum. Er warnt seit Jahren vor den Gefahren des Mullah-Regimes. Dass Trump nun kurz vor der Wahl twittert, er habe in einem Telefongespräch mit Netanjahu über einen möglichen Verteidigungspakt mit Israel gesprochen, kann nur als schwacher Trost gelten.

Außerdem soll Anfang Oktober Netanjahus Anhörung stattfinden, die nötig ist, bevor Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit Anklage erheben darf. Dem Premier werden Bestechlichkeit, Betrug und Untreue in drei Korruptionsfällen vorgeworfen.

Doch Netanjahu gilt als Stehaufmännchen, als politischer Meister, der am Ende doch noch ein Ass aus dem Ärmel zaubert. 2015 warnte er noch am Wahltag davor, dass die Araber in Scharen an die Wahlurnen treten würden. Im April ging er persönlich an den Strand, um die Menschen dazu aufzufordern, wählen zu gehen – ihn natürlich. Netanjahu ist zu vielem bereit, um seinen Machterhalt zu sichern. Noch ist die Ära „Bibi“ nicht zu Ende.

Lissy Kaufmann

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