Todesfälle in Notaufnahme-Warteschlangen: Inzidenz über 400 – Großbritannien kämpft mit neuer Corona-Welle
Entfesselte Infektionszahlen, Medizinwesen am Limit: 100 Tage nach dem „Freedom Day“ steckt Großbritannien in der Krise. Die Rufe nach „Plan B“ werden lauter.
Die Corona-Pandemie ist auch in Großbritannien noch nicht besiegt. Um diese Botschaft zu vermitteln, verblüffte der britische Premier Boris Johnson die Öffentlichkeit mit einer simplen Geste: Bei der Sitzung des Unterhauses am Mittwoch setzte er eine Maske auf – zum ersten Mal seit mehreren Monaten. Vor noch nicht mal einer Woche hatte Johnson dies abgelehnt.
Der Sinneswandel des Regierungschefs könnte signalisieren, dass die politische Führung Großbritanniens sich selbst sowie die Bevölkerung auf verschärfte Maßnahmen einstellt – auch wenn „im Moment absolut nichts darauf hindeutet“, wie Johnson betont.
Offizielle Daten widersprechen dem Premier: Rund 100 Tage nach dem sogenannten Freedom Day Mitte Juli spitzt sich die pandemische Lage zu.
Ende Oktober bewegt sich die Zahl der neu registrierten Ansteckungen mit dem Coronavirus rund um die 50.000er-Marke, am vergangenen Donnerstag wurde sie sogar zum ersten Mal seit einem Vierteljahr überschritten. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 465 und damit im weltweiten Hotspot-Bereich.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Krankenhäusern wider. Insgesamt befinden sich jüngsten Angaben der britischen Regierung zufolge 8914 Covid-19-Patienten in den Kliniken, die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen kratzt im Sieben-Schnitt an der 1000er-Marke. Aktuell befinden sich 945 Personen in britischen Intensivbetten mit Beatmungsgeräten. Der bisherige Höchstwert wurde Ende Januar mit 4077 beatmeten Intensivpatienten erreicht.
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Zum Vergleich: Laut dem aktuellen Tagesreport des Divi-Intensivregisters werden in Deutschland derzeit von insgesamt 1808 Intensivpatienten 928 künstlich beatmet, hier datiert der Höchstwert von Anfang Januar mit 3211.
„Einige Patienten sterben, bevor wir sie erreichen“
Insbesondere in Kliniken des größten britischen Landesteils hat die aktuelle Situation dramatischste Folgen. Aufgrund stundenlanger Wartezeiten vor Notaufnahmen starben kürzlich in England mindestens zwei Patienten. Normalerweise soll die Übergabe vom Rettungswagen an die Notaufnahme nicht mehr als 15 Minuten dauern.
Die Fälle in den Städten Worcester und Cambridge werden nun untersucht, die beiden in Rettungswagen verlorenen Leben jedoch bleiben unwiederbringlich. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie nicht die einzigen Todesopfer der aktuellen Situation sind. In direktem Zusammenhang mit Covid-19 sind in Großbritannien nachweislich mehr als 140.000 Menschen gestorben. Doch auch ohne Infektion ist die Pandemie im UK offenbar tödlich.
„Wir wissen, dass leider einige Patienten sterben, bevor wir sie erreichen“, zitiert die BBC den Direktor für strategische Entwicklung des West Midlands Ambulance Service (WMAS), Mark Docherty. Dies sei „eine völlig inakzeptable Situation“.
Laute Rufe nach „Plan B“
Auch der staatliche Gesundheitsdienst NHS schlägt Alarm. Die Spitze der englischen Regionalbehörde hat alle Krankenhäuser in England angewiesen, Warteschlangen von Rettungswagen „zu beseitigen“ und Ambulanzen nicht mehr als zusätzliche Warteräume zu benutzen. Dies geht aus einem internen Schreiben hervor, aus dem die britische Nachrichtenagentur PA zitiert. Demnach habe ein Patient mehr als 13 Stunden lang von einer Krankenwagenbesatzung versorgt werden müssen.
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In der BBC erklärte der Geschäftsführer des Verbandes der Rettungsdienstleister, Martin Flaherty, ebenfalls ein düsteres Lagebild. Aufgrund der Pandemie erlebe seine Branche „einige der höchsten Notfallaktivitäten in seiner Geschichte“. Zudem sei der Verband „äußerst besorgt über die beispiellosen Verzögerungen bei der Übergabe an Notaufnahmen in ganz Großbritannien“.
Zu den seit längerem bestehenden Mahnungen aus Wissenschaft und Medizinwesen wächst nun auch der politische Druck weiter. Erst zu Beginn hatte die Labour-Abgeordnete Rachel Reeves die Regierung aufgefordert, den Mitte September von Premier Johnson angekündigten „Plan B“ umzusetzen - inklusive Maskenpflicht und Homeoffice-Regelung.
„Wenn die Wissenschaftler sagen, man solle von zu Hause aus arbeiten und Masken aufsetzen, dann sollten wir das tun“, sagte Reeves in der BBC. Zudem forderte sie, „dass die Regierung zunächst einmal mehr tun muss, damit Plan A funktioniert“.
Weitaus deutlicher wurde vergangene Woche der Ärzteverband BMA (British Medical Association): „Es ist bewusst fahrlässig von der Regierung in Westminster, keine Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen zu ergreifen“, teilte der BMA-Vorsitzende Chaand Nagpaul mit und forderte die Wiedereinführung der Corona-Regeln.
Noch aber beharrt das Johnson-Kabinett auf Plan A, der grundsätzlich auf eine Intensivierung der Impfkampagne mit Auffrischungsimpfungen setzt, um die Zahl schwerer Verläufe zu drücken. Der im Land groß gefeierte „Freedom Day“ soll nachhalten – notfalls offenbar zu einem hohen Preis: Zu Beginn der vergangenen Woche erklärte Gesundheitsminister Sajid Javid, dass die Zahl der Neuansteckungen perspektivisch 100.000 pro Tag erreichen könnte. „Wir schauen uns die Daten genau an und werden unseren Plan B der Notfallmaßnahmen noch nicht umsetzen“, sagte er und gelobte, stattdessen „wachsam zu bleiben“.
„Haben einen ziemlich schwierigen Winter vor uns“
Noch im Frühjahr ließen sich Johnson und die politische Führung für ihre damals rasante fortschreitende Impfkampagne feiern, der Weg zu einem raschen Sieg über das Coronavirus schien geebnet. Mehr als anderthalb Jahre nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie befindet sich Großbritannien erneut in einer Krise, die um Auffrischungsimpfungen erweiterte Impfkampagne stockt.
Die Zahl der Komplett-Geimpften im Vereinigten Königreich beträgt momentan 45,6 Millionen. Das entspricht in dem 68-Millionen-Land einer Quote von rund 67 Prozent.
Trotz besorgniserregender Eckdaten ist die pandemische Lage laut dem wissenschaftlichen Chefberater der Johnson-Regierung, Sir Patrick Vallance, jedoch noch nicht außer Kontrolle. „Ich denke, die Impfstoffe haben einen absolut massiven Unterschied gemacht und jetzt kommen auch antivirale Medikamente“, sagte er an diesem Donnerstag bei Sky News.
Sein Land habe „definitiv das Rüstzeug“ für die Pandemiebekämpfung, so Vallance. Dann räumte er ein, dass die aktuellen Werte schwer zu deuten seien. „Daher denke ich, dass wir einen ziemlich schwierigen Winter vor uns haben“, sagte Vallance. Die Feierlaune aus Zeiten des „Freedom Day“ scheint in Großbritannien verflogen.