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Zahlreiche Menschen sind am 31.12.2015 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs zu sehen. In der Silvesternacht waren am Kölner Hauptbahnhof Frauen sexuell belästigt und augeraubt worden.
© dpa
Update

Silvester in Köln: Interner Polizeibericht zeigt Ausmaß des Kontrollverlustes

In einem internen Bericht schreibt ein Einsatzleiter der Kölner Polizei, er habe wegen des Chaos an Silvester sogar Tote befürchtet. Inzwischen sind 16 Tatverdächtige ermittelt.

Die Polizei in Köln soll auf die Übergriffe in der Silvesternacht nicht vorbereitet gewesen sein, zu spät oder gar nicht eingegriffen haben und lediglich auf Anzeigen reagiert haben. Das ist die Kritik, die ihr gerade um die Ohren fliegt. Sogar Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte: "So kann Polizei nicht arbeiten." Und in der Tat: Ein jetzt veröffentlichter interner Einsatzbericht des Leiters einer beteiligten Hundertschaft enthält teilweise schockierende Details zum Verlauf des Abends.

Dem Bericht zufolge sollen während der Ausschreitungen Frauen Schutz bei der Polizei gesucht haben. "Im Einsatzverlauf erschienen zahlreiche weinende und schockierte Frauen/Mädchen bei den eingesetzten Beamten und schilderte sex. Übergriffe durch mehrere männliche Migranten/ -gruppen", schreibt der Beamte in dem zuerst von der "Bild" veröffentlichten Dokument. Der Bundespolizist will angesichts der angespannten Lage sogar befürchtet haben, dass das "Chaos noch zu erheblichen Verletzungen wenn nicht sogar zu Toten führen würde". Inzwischen zitiert auch die ARD aus dem Bericht. Die Echtheit des Dokuments soll jetzt auch bestätigt sein, schreibt die ARD.

Immer noch herrscht jedoch viel Unklarheit über die Ereignisse: Wie viele Täter gab es? Hat die Polizei versagt? Wie hätte man diese Vorfälle verhindern können?

Eingesetzte Beamte kamen "an die Grenze zur Frustration"

"Frauen mit Begleitung oder ohne durchliefen einen im wahrsten Sinne 'Spießrutenlauf' durch die stark alkoholisierten Männermassen", heißt es in den Bericht weiter. Da die Polizisten "nicht jedem Opfer einer Straftat helfen und den Täter dingfest machen konnte, kamen die eingesetzten Beamten an die Grenze zur Frustration". Der Polizist beklagt in dem Bericht eine viel zu geringe Zahl eingesetzter Beamter. Alle eingesetzten Polizisten seien "ziemlich schnell an die Leistungsgrenze gekommen". Der Bericht listet einige Beispiele für konkrete Erlebnisse von Polizisten auf:

- Beamte seien durch enge Menschenringe daran gehindert worden, zu Hilferufenden vorzudringen,

- ein Mann wird zitiert: "Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich eingeladen",

- Zeugen wurden bedroht, wenn sie Täter benannten,

- Menschen zerrissen dem Bericht zufolge vor den Augen der Polizisten Aufenthaltstitel, grinsten und sagten: "Ihr könnt mir nix, hole mir morgen einen neuen." Ob es sich um echte Dokumente handelte und um welche Art von Dokumenten, geht aus dem Bericht nicht hervor,

- erteilte Platzverweise wurden ignoriert; Wiederholungstäter in Gewahrsam zu nehmen, war aufgrund fehlender Kapazitäten nicht möglich,

- nach Gleissperrungen wegen Überfüllung seien Leute einfach auf das Nebengleis und dann über die Schienen wieder auf den gesperrten Bahnsteig gegangen,

- beim Einsteigen in Züge gab es körperliche Auseinandersetzungen, es galt das "Recht des Stärkeren".

Der Verfasser des Berichts zieht ein düsteres Fazit: Den Maßnahmen der Beamten sei mit einer Respektlosigkeit begegnet worden, "wie ich sie in 29 Dienstjahren noch nicht erlebt habe". Die gesamte Situation in der Silvesternacht beschreibt der Autor als "chaotisch und beschämend".

Polizei will vorerst keine Auskünfte zum Geschehen mehr geben

Die Kölner Polizei will vorläufig keine Auskünfte mehr zum Ablauf des Einsatzes geben. Zunächst müsse man nun dem NRW-Innenministerium ausführlich Bericht erstatten, erklärte ein Polizeisprecher am Donnerstag. Am kommenden Montag will sich der Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags mit den Vorfällen in Köln befassen. "Aus Respekt vor dem Parlament werden wir bis dahin keine Auskünfte zum Einsatzgeschehen an Silvester erteilen", kündigte der Sprecher an. Dies beziehe sich etwa auf Fragen zu Uhrzeiten, Personalstärke oder dem detaillierten Ablauf der Ereignisse.

Die Polizei hat inzwischen 16 Verdächtige ausfindig gemacht. „Wir prüfen nun, ob sie tatsächlich in Zusammenhang mit den Taten stehen“, sagte ein Sprecher am Donnerstag. Die Zahl der Strafanzeigen ist unterdessen auf 121 gestiegen. Die meisten der 16 Verdächtigen seien bislang nicht namentlich bekannt, aber auf Bild- oder Videoaufnahmen klar erkennbar. Einige Verdächtige seien vorübergehend festgenommen worden, jedoch vor allem wegen Diebstählen, teilweise auch außerhalb von Köln. Bei den Ermittlungen hätten sich Hinweise ergeben, dass diese Männer - alle nordafrikanischer Herkunft - auch mit den Taten am Kölner Hauptbahnhof in Verbindung stehen könnten.

Experten aus Sicherheitsbehörden hatten die Kölner Polizei am Mittwoch kritisiert, aber kein generelles Versagen in der Silvesternacht gesehen. "Es gab Kommunikationsfehler", heißt es, "man kann sich nicht am 1. Januar hinstellen und sagen, es ist gut gelaufen, wenn noch gar nicht alle Einsatzberichte vorliegen."

So war in einem Polizeibericht vom 1.Januar noch von einer ruhigen Einsatzlage die Rede, bei der sich circa 1000 Feiernde auf dem Domvorplatz aufhielten. Nur einen Tag später mussten sich die Beamten bereits korrigieren, man sprach nun von "aggressiver Stimmung" und einer Gruppe aus 1000 Männern, die teilweise stark alkoholisiert gewesen seien.

Der Bundesinnenminister hatte bereits kurz nach seiner Aussage eine heftige Reaktion von der Polizei bekommen. Wolfgang Albers, der Polizeipräsident in Köln, sagte: "Wir waren mit starken Kräften im Einsatz." Für einen normalen Silvestereinsatz sei man gut gewappnet gewesen. 220 Polizisten waren nach Angaben der Polizei vor Ort, 70 davon von der Bundespolizei. Das seien bereits mehr gewesen als in den Jahren zuvor.

Und doch fehlten knapp 100 Beamte, die sonst für solche Einsätze in Bereitschaft sind. Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Ernst G. Walter, sagte dem Tagesspiegel: "Der Polizei fehlten an dem Abend viele Beamte, weil die zurzeit in Bayern eingesetzt werden." 2000 Polizisten aus ganz Deutschland würden dort zur Grenzsicherung eingesetzt.

Es wird geprüft, ob ein Versagen der Polizei vorliegt

Doch wer davon Täter und wer nur so vor Ort war, kann bis jetzt niemand sagen. Viele Beobachter berichten von ein paar Dutzend Männern, die übergriffig geworden sein sollen. Durch die schiere Masse sei es für die Polizisten quasi unmöglich gewesen, einzelne Straftaten zu verfolgen, sagte Walter dem Tagesspiegel. Auch in Sicherheitskreisen heißt es, angesichts des enormen Lärms und "Gewusels" in der Nacht sei es nicht selbstverständlich, dass die Polizei die Schreie von Frauen hätte wahrnehmen müssen. Anhand der Aufzeichnungen von Überwachungskameras sei zu prüfen, was die Polizisten hätten sehen und hören können – und was nicht. Wie lange es bis zum Abschluss der Analysen dauere, könne man aber noch nicht sagen, heißt es bei der Polizei. Durch diffuse Zeugenaussagen sei die Auswertung erschwert. Viele Besucher waren betrunken oder standen unter Schock.

Allen Beteuerungen zum Trotz ist die Kölner Polizei aber bereits das zweite Mal in eine solch missliche Lage geraten. Im Unterschied zu den Ausschreitungen während der Demonstration der HoGeSa-Bewegung ("Hooligans gegen Salafisten") im Oktober 2014 habe die Polizei Sicherheitsexperten zufolge aber die Gefahr in diesem Fall nicht unterschätzt, "weil diesmal eine Gefahr gar nicht bekannt war". Bei der HoGeSa-Veranstaltung hingegen sei zu erwarten gewesen, dass potenziell gewalttätige Demonstranten anreisen. Die Polizei habe es damals beispielsweise versäumt, auf das Alkoholverbot zu achten. Das sei in der Silvesternacht, in der traditionell viele Menschen in der Öffentlichkeit trinken, natürlich kein Thema gewesen.

Dass größere Gruppen junger Männer Frauen sexuell belästigen, möglicherweise sogar geplant durch Verabredungen im Internet, sei nicht vorhersehbar gewesen, wird in Sicherheitskreisen betont. Walter von der Polizeigewerkschaft sagte: "Wie hätten wir das denn ahnen sollen? Wir können schließlich nicht hellsehen." Dementsprechend überfordert waren die Beamten.

Eine junge Kölnerin erzählt dem Tagesspiegel, dass sie und ihre Freunde dicht gedrängt am Bahnhof standen, begrabscht wurden, aber "die Polizei nirgends zu sehen war". Die Dimension schien die Polizei gänzlich überrascht zu haben. Auf den neuen Tätertyp müsse man sich erst einstellen, ist in Sicherheitskreisen zu hören. Außerdem befürchte man, dass Islamfeinde oder andere Rassisten die Situation ausnutzten und die ohnehin aufgeladene Stimmung weiter anheizten. (mit dpa)

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