„Isolationsmüdigkeit“ in Coronavirus-Krise: Innenministerium befürchtet Verrohung der Gesellschaft
Steigende Aggressivität, Denunziantentum, Suizide: Das Bundesinnenministerium warnt in einem Strategiepapier vor psychosozialen Effekten der Coronavirus-Krise.
Die Bundesregierung sorgt sich angesichts der strengen Kontaktsperren um die Stimmung in der Bevölkerung. „Nach Ostern spätestens ist damit zu rechnen, dass eine ,Isolationsmüdigkeit‘ auftritt“, heißt es nach Informationen des Tagesspiegels in einem Strategiepapier des Innenministeriums von Horst Seehofer (CSU) zu „psychosozialen und soziologischen Effekten“ der Coronakrise.
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Es sei damit zu rechnen, „dass die derzeit bestehende hohe Zustimmungsrate für die Maßnahmen massiv sinkt und die Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit und rechtliche Zulässigkeit der Maßnahmen deutlich hinterfragt wird“. Die in der beginnenden warmen Jahreszeit gegebenen Aufenthaltsmöglichkeiten im Freien würden „die Anordnung des Verbleibs in engen Wohnungen zusätzlich in Frage stellen“. Das Bundesinnenministerium (BMI) mahnt, „die Durchhaltefähigkeit der Bevölkerung muss erhalten bleiben“.
Das Papier entstand Anfang April. Geschrieben wurde es von Experten um Staatssekretär Markus Kerber, der für Heimat und Grundsatzfragen zuständig ist. Ein vorangegangenes Papier hatte einige Aufregung verursacht, weil in Teilen dramatische Szenarien bis hin zu Anarchie beschrieben wurden. Das aktuelle Dokument ist hingegen in einem vergleichsweise nüchternen Ton abgefasst, auch bei der Darstellung von Stressfaktoren und riskanter Tendenzen.
So heißt es, die massiven Einschränkungen und die hohe Anspannung könnten zu „Phänomenen wie Denunziantentum – wer verstößt gegen die Corona-Regeln? – und einer Verrohung der Gesellschaft führen“. Zu beobachten seien zum Teil jetzt schon „Egoismus, Rücksichtslosigkeit sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt“.
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Als weitere Risiken werden genannt „Erschöpfung und Stress durch familiäre Enge“, Überforderung von Eltern und Alleinerziehenden schulpflichtiger Kinder, Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, wirtschaftliche Existenzängste, Spätschäden beim Gesundheitspersonal in Form posttraumatischer Belastungsstörungen, steigender Alkoholkonsum sowie die „mögliche Zunahme von Suiziden“. Das BMI hat eine Faustregel: „Je kürzer die Isolationsphase, desto besser für die psychische Gesundheit.“
Appell für einheitliche Kommunikation in Coronavirus-Krise
Sollten die Beschränkungen doch über das Ende der Osterferien hinaus aufrechterhalten werden, ist für das BMI mehr noch als jetzt schon eine klare, einheitliche Kommunikation der Bundesregierung notwendig. „Alle Regierungsmitglieder müssen die gleiche Botschaft senden, sonst wird das Vertrauen in die Richtigkeit der Maßnahmen erschüttert“, steht im Papier.
Sollte eine teilweise Lockerung der Beschränkungen und ein „Anfahren der wirtschaftlichen Tätigkeit“ möglich sein, müsste allen anderen Personen, die weiterhin von harten Maßnahmen betroffenen sind, „mit überzeugenden Argumenten“ erklärt werden, warum das so ist.
Ministerium rät in Coronavirus-Krise zu „Tracking-App“
Empfohlen wird, ähnlich wie in dem früheren Strategiepapier, eine Ausweitung der Kapazitäten für Coronavirus-Tests „als valide Datenbasis zur Beurteilung der Wirksamkeit einschränkender Maßnahmen“ - gemäß der Erkenntnis, „Wissen schafft Vertrauen in die Richtigkeit der Maßnahmen“. Das BMI macht sich stark für ein „flächendeckendes Monitoring aller Kontakte infizierter Personen“ über eine „Tracking-App“.
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In dem Papier werden auch Chancen der aktuellen Situation beschrieben. Das BMI registriert ein „gutes Ansehen der Art des Krisenmanagements der Bundesregierung in der Bevölkerung“. Das fördere „ein positives Staatsverständnis“. Die in den vergangenen Jahren entstandene „Aversion gegen den Staat ist bereits jetzt auf dem Rückzug“.
Auch wenn es das BMI im Papier nicht erwähnt, passt die Analyse zu den aktuellen Wahlumfragen. Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD kommen jetzt zusammen auf mehr als 50 Prozent, die AfD liegt nur noch bei neun bis zehn Prozent.
Das BMI nennt zudem „neue Formen der Solidarität“ und das „Bewusstsein einer relativ klassenindifferenten Vulnerabilität“, also der Verletzlichkeit aller Teile der Bevölkerung unabhängig vom individuellem Einkommen. Aus Sicht des Ministeriums sollte vor allem das ehrenamtliche Engagement gestärkt werden, das etwa 30 Millionen Bürgerinnen und Bürgern betreiben.
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Vorgeschlagen wird eine finanzielle Unterstützung der Kommunen „zum Aufbau ehrenamtlicher analoger und digitaler Strukturen mit allen vor Ort tätigen Akteuren“. Dazu sollte eine „möglichst bundeseinheitliche Helferhotline“ geschaltet werden, die rund um die Uhr zu erreichen sei.
Appelliert wird an „die Wirtschaft, Apotheken, Lebensmittelläden“, über „Schwarze Bretter“ Engagierte zu werben. Bei einem längeren Engagement ehrenamtlicher Helfer sei die „Prüfung eines Entgelts“ und ein „Status entsprechend dem Bundesfreiwilligendienst“ vorzusehen.
Das BMI äußert sich nicht zu dem Strategiepapier, teilte aber auf Anfrage mit, die Pandemie habe „schon jetzt die für den Zusammenhalt wichtigen Fragen von Verteilung und Daseinsvorsorge als staatliche Aufgaben mehr in den Vordergrund gerückt“. Die durch Corona ausgelöste „Neujustierung von Wirtschaft und Sozialsystemen könnte sich auch als Chance in der derzeitigen Krise erweisen“.