Großbritannien und das Brexit-Votum: In schlechter Verfassung
Die Wirren nach dem Brexit-Referendum sind Teil einer tiefer sitzenden Malaise - Großbritannien steckt in einer Verfassungskrise. Ein Kommentar.
Irre Zeiten auf der Insel. Leidet Großbritannien jetzt an der Mad Tory Disease? In Verbindung, schaut man auf Labour, mit der Rückkehr des Loony-Left-Syndroms? Der Rückzug der Brexit-Hardlinerin Andrea Leadsom mag zwar eine Klärung gebracht haben, weil die Nachfolge des zurückgetretenen Premiers David Cameron nun schnell geregelt wird. Theresa May wird die neue Premierministerin sein. Aber wie soll es weitergehen unter ihr? Die Konservativen sind gespalten wie selten zuvor. Und ob Labour den Führungsstreit ebenso schnell erledigt, wird man sehen. Nötig wäre es.
Denn Großbritannien steckt in einer tiefen Verfassungskrise, und das kann niemanden in Europa gleichgültig lassen, ob man sich über das Schauspiel in London nun amüsiert oder ärgert oder sich abwendet in der Ansicht, die Briten seien halt absonderlich. Das ist keine Fußball-EM. Hier ereignet sich Geschichte in der verschärften Variante. Das kann bekanntlich schiefgehen. Die Verfassungskrise ist nicht die Folge des Brexit-Referendums, der Entscheidung einer knappen, möglicherweise unsicheren Mehrheit für den Austritt aus der EU. Die Volksabstimmung selbst war Teil dieser seit Längerem schwelenden Krise.
Sie rührt aus dem langsamen Auseinanderbrechen eines Staatswesens, dessen Regionen nie ganz zusammengewachsen sind, aber immer zentral regiert wurden. Und dessen Gesellschaft seit drei Jahrzehnten einer scharfen Veränderung ausgesetzt ist, seit die Deindustrialisierung mit dem Ausbau des Dienstleistungssektors beantwortet wurde, vor allem aber mit dem Aufbau einer weltumspannenden Finanzindustrie, die zu einem Moloch wurde, an dem mittlerweile das gesamte Wohl und Wehe des Landes hängt.
„Mammon’s Kingdom“ – so hat der Sozialdemokrat und Mitte-Politiker David Marquand seine vor zwei Jahren erschienene Polemik gegen das moderne Britannien genannt. Ein Ausdruck dessen ist die massive Überteuerung des Wohnungsmarktes in vielen Regionen. Der Süden Englands erstickt gerade an seinem Reichtum, der Norden Englands ist abgehängt, und Schottland will nur noch raus.
Camerons fatale Entscheidung, sich des Mittels der direkten Demokratie zu bedienen, um eine über Großbritannien hinausgreifende verfassungspolitische Frage in seinem Sinne zu klären, hat die Verfassungskrise noch vertieft. Der unglückliche Premier startete einen Prozess, den er nicht beherrscht hat und der die Parlamentshoheit, die Basis der britischen Verfassung, die bisher unumstößliche Grundlage der britischen Demokratie, ad absurdum führt.
Eine Mehrheit des erst 2015 gewählten Parlaments ist für den Verbleib in der EU, auch eine Mehrheit der konservativen Abgeordneten (wenn auch mit häufig euroskeptischer Grundhaltung). May gehört zu dieser Mehrheit, die nun den Brexit verhandeln muss, eine ungemein schwierige Angelegenheit, ohne im Innersten dafür zu sein. Kann das gutgehen? Will sie es überhaupt – und wenn nicht, was ist dann mit der Volksbefragung?
Welchen Ausweg sollen Neuwahlen weisen?
Ein Ausweg wäre die Neuwahl des Parlaments, um das Geschehen zum Verfassungsmittelpunkt zurückzuführen. Aber unter welcher Fragestellung im Wahlkampf? Nochmals die Haltung zu Europa? Oder wieder, Tiefpunkt der Brexit-Kampagne, die eigenen Grenzen, die Zuwanderung, das Aufwühlen von Fremdenfeindlichkeit? Oder die Frage, wie das außereuropäische Britannien aussehen soll? May scheint mit ihren zuletzt skizzierten „weichen“ sozialpolitischen Vorschlägen darauf hinzusteuern. Aber kann man einer Bevölkerung eine Neuwahl zumuten, wenn Tories und Labour noch nicht regierungsfähig wirken und die Liberaldemokraten weiter an der Niederlage bei der letzten Wahl knabbern?
Ein anderer Ausweg wäre eine Regierung der Mitte, eine Koalition der Vernünftigen im Parlament, die es ja in der Remain-Kampagne gegeben hat. Aber parlamentarische Koalitionen mögen die Briten ja nicht.