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Ex-Außenminister Joschka Fischer.
© imago/APress

Joschka Fischer über die Folgen des Brexits: Großbritannien fährt "ohne triftigen Grund gegen die Wand"

Die EU wird den Brexit überstehen – zumindest unter bestimmten Bedingungen, meint Ex-Außenminister Joschka Fischer im Interview mit EurActiv Brüssel.

Zieht jetzt der Brexit-Sturm auf?

Für Großbritannien ist es ein Hurrikan, für die EU ein Sturm. Die EU wird diesen Sturm überstehen. Für das Vereinigte Königreich sieht es allerdings schlecht aus.

Glauben Sie, der Brexit hätte vermieden werden können?

Das weiß ich nicht, dazu kenne ich mich zu wenig mit britischer Politik aus. Ich habe jedoch von Anfang an gedacht, dass das Referendum keine gute Idee ist. Ich habe Cameron 2013 gewarnt, dass er etwas in Gang gesetzt hat, das er langfristig nicht kontrollieren kann. Jetzt sehen wir ja, was daraus geworden ist.

Zeugt Camerons Zuflucht zum Referendum von den Grenzen oder der derzeitigen Untauglichkeit parlamentarischer Demokratie?

Ich bin kein großer Freund von Volksentscheiden. Zum Glück haben die Urväter der deutschen Verfassung Volksabstimmungen auf Bundesebene aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Weimarer Republik komplett abgelehnt. Dabei geht es doch nur um Emotionen und darum, der Regierung eins auszuwischen. Gefühle sind letzten Endes immer unvorhersehbar. Jetzt sehen wir, wie eine der dynamischsten, erfolgreichsten und größten Volkswirtschaften der Welt ohne triftigen Grund gegen die Wand fährt. Und diejenigen, die die Schuld an dieser Misere tragen, sind auf wundersame Weise verschwunden. Was für ein politisches Drama. Es fällt schwer, zu akzeptieren, dass Großbritannien nicht länger EU-Mitglied ist.

Hat Ihnen der pro-europäische Protestmarsch in London Mut gemacht? Könnten junge Briten eine Protestbewegung wie im Mai 1968 starten?

Europa darf diese jungen Menschen nicht im Stich lassen. Das gilt nicht nur für Großbritannien, sondern auch für einige osteuropäische Staaten. Wenn es eine Generation gibt, die sich für die Idee eines geeinten Europas einsetzt, die für die Werte eines demokratischen Europas, der Rechtsstaatlichkeit und der Offenheit kämpft, dann sollten wir sie nicht allein lassen. Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten und die Türen für sie offen halten. Außerdem brauchen wir Programme, mit denen wir sie in Europa willkommen heißen können.

Haben diese Menschen die notwendige Kraft, um eine neue 68er-Bewegung in Europa zu bilden?

Das weiß ich nicht. Ich bin kein Prophet. Aber wer hätte gedacht, dass wir junge Menschen vor Westminster mit EU-Flaggen und Bannern demonstrieren sehen würden, auf denen Slogans wie „EU forever“ stehen? Das ist eine klare Botschaft.

Sie haben gesagt, es wird einen Sturm in Europa geben. Mit welchen Folgen rechnen Sie für Europa?

Europa ist ein merkwürdiges Wesen. Wenn es in Krisenzeiten unter Druck gerät, geht es voran. Ich denke, dass es sich auch diesmal weiterentwickeln wird. Denn wir sprechen hier nicht nur von einem ideologischen Konstrukt. Viele verstehen das falsch: Europa ist die Antwort auf zwei Weltkriege gewesen. Mit Europa ist man dem Wunsch nach einem neuen Staatssystem auf dem europäischen Festland nachgekommen. Eines möchte ich noch klarstellen: Wir können uns nicht aussuchen, ob wir in einer globalisierten Welt leben wollen oder nicht. Großbritannien ist in seiner besonderen Rolle schon immer unentschlossen gewesen.

Der Brexit hat einige Schwachstellen der EU offenbart. Wo sollte man mit der Stärkungskur ansetzen?

Zuerst müssen wir die Euro-Zone stabilisieren. Die derzeitigen Instabilitäten können wir uns nicht länger leisten. Die Euro-Zone braucht einen Neuanfang. Hierfür muss es allerdings einen Nord-Süd-Konsens geben. Ohne diesen wird die Euro-Zone auch weiterhin schwächeln. Man muss nicht extra die Verträge ändern. Es geht einzig und allein um Politik. Frankreich und Deutschland könnten hier als gutes Beispiel vorangehen und ihre wirtschaftlichen Visionen aufeinander abstimmen.

Glauben Sie, dass das deutsch-französische Paar ein neues EU-Kapitel aufschlagen könnte – trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen Angela Merkel und François Hollande? Und das in einer Zeit, in der beide von den Wahlen in ihren jeweiligen absorbiert sein könnten?

Natürlich liegen schwierige Zeiten vor uns. Italien stellt zum Beispiel eine große Herausforderung dar. Die Bankenkrise ist eine wiederholte Gefahr für die EU. Deswegen müssen wir offen sein und rasch eine Lösung für die Probleme in Italien finden. Renzi leistet unter den derzeitigen Bedingungen hervorragende Arbeit in seinem Land. Wir müssen andere besser mit einbinden. Das beginnt bei einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Manchmal hat man das Gefühl, dass die beiden Länder nicht ehrlich miteinander sprechen. Wenn sie das tun würden und besser zusammenarbeiten würden, gäbe es bestimmt viele Länder, die ihrem Beispiel folgen würden.

Gibt es auch Herausforderungen aus den Visegrad-Ländern in Osteuropa?

Die Visegrad-Staaten brauchen Geduld. Sie gehören zu den eher ärmeren Ländern, die zu einem hohen Grad von EU-Geldern abhängig sind. Historisch gesehen befinden sie sich jetzt in einer ganz neuen Situation. Sie senden Flüchtlinge meist weiter in andere Staaten, ohne dass sie selbst welche aufnehmen. Für sie ist diese Zeit eine ganz neue Erfahrung. Die nationale Identität weiterzuentwickeln, dauert einige Zeit. Als ich noch jung war, haben sich Frankreich und Deutschland sehr stark voneinander unterschieden. Sie hatten unterschiedliche Einstellungen und Werte. Zu der Zeit war aber auch die Welt eine ganz andere. Die Osteuropäer werden noch einige Zeit brauchen. Eine Diskussion muss es jedoch jetzt schon geben.

Der Nationalismus nimmt immer weiter zu und gewinnt mehr und mehr Wähler für sich. Wie kann man diese Entwicklung angehen, ohne dabei Öl ins Feuer zu gießen?

Der Brexit bietet uns eine einmalige Gelegenheit, Nationalisten zu konfrontieren. Sie (die Brexit-Befürworter, Anm. d. Red.) haben ihre Wähler angelogen: Sie sind mit einem Bus herumgefahren, auf dem stand, sie würden 250 Millionen in das nationale Gesundheitssystem investieren. Das war eine Lüge. Jetzt haben wir die große Chance, ihnen entgegenzutreten. Auch Marine Le Pen verspricht einem das Blaue vom Himmel. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Menschen die Stirn zu bieten.

Glauben Sie noch immer an ein föderales Europa?

Ja, das tue ich. Was gibt es denn für eine Alternative? Ein zentralisiertes Europa? Daran glaube ich nicht. Wie nennt man es denn, wenn souveräne Staaten friedlich und auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und ausgeglichenen Interessen zusammenfinden? In Deutschland ist der Begriff „föderal“ kein Schimpfwort. Auch andere sollten erkennen, dass der Föderalismus eine Lösung bietet.

Übersetzung: Jule Zenker
Erschienen bei EurActiv.

Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.

Daniela Vincenti

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