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Folgt auf David Cameron in No. 10 Downing Street : Theresa May
© dpa/EPA/Will Oliver

Theresa May wird britische Regierungschefin: May-Day in London

Aus jeder noch so bitteren Brexit-Debatte hielt sie sich elegant heraus. Nun, da es um die Zukunft Großbritanniens geht, ist Theresa May die Letzte, die noch steht.

Als die Labour-Abgeordnete Angela Eagle am Montag verkündet, dass sie gegen den umstrittenen Partei-Chef Jeremy Corbyn antreten will, laufen ihr plötzlich die Journalisten weg. In der britischen Hauptstadt, in der sich seit Tagen die Politiker gegenseitig niedermachen, läuft gerade eine noch bessere Inszenierung: Andrea Leadsom, eine der beiden Kandidatinnen für die Führung der konservativen Partei, ist vor ihre Tür getreten, um ihren Rückzug zu erklären. Die Letzte, die im Wettbewerb um die Nachfolge von David Cameron nun noch steht, ist Theresa May, Innenministerin und vermutlich bereits am Mittwoch: britische Premierministerin.

Theresa May, die von den Ereignissen in der Hauptstadt nichts weißt, beginnt zur gleichen Zeit in Birmingham ihren Wahlkampf: „Wir müssen die Europäische Union verlassen und eine neue Rolle für uns in der Welt schaffen“, sagt sie. Und während sie wiederholt, was zu ihrem Wahlkampfslogan geworden ist, dass sie aus Großbritannien ein Land machen wolle, „das für alle funktioniert“, kommt in London die Parteimaschine in Gang.

Von Basisdemokratie haben die britischen Konservativen nun genug

Die Konservativen sind auf Leadsoms Rückzug besser vorbereitet als auf den Brexit. Das Machtvakuum, das sich nach dem Referendum über ein ganzes Wochenende hingezogen und die Partei der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, sollte nicht wieder entstehen. Nur wenige Minuten nach Leadsom tritt Graham Brady, der Vorsitzende des für Verfahrensfragen zuständigen „1922 Komitees“ vor die Presse und betont, dass Theresa May die neue Chefin der Konservativen sein werde. Schon am Mittwoch soll sie David Cameron nachfolgen. Das Parteivolk, das eigentlich zwischen Leadsom und May entscheiden sollte, wird nicht mehr gefragt.

Inzwischen haben die konservativen Abgeordneten offenbar genug von direkter Demokratie.

Nachdem Andrea Leadsom verlas, sie stehe für das Amt der Premierministerin nicht zur Verfügung, freute sich Theresa May.
Nachdem Andrea Leadsom verlas, sie stehe für das Amt der Premierministerin nicht zur Verfügung, freute sich Theresa May.
© Reuters

Nach den brutalen Machtkämpfen der vergangenen Tage hatten die meisten Parlamentarier in Theresa May diejenige gesehen, die eine durch das Referendum tief gespaltene konservative Partei wieder versöhnen könnte. Sie hatte allen Zweifeln an ihrer Haltung zum Ausgang des EU-Referendums schon früh die Spitze genommen: „Brexit ist Brexit“, verkündete sie. Sie habe nur ein Viertel der Abgeordneten hinter sich, hatte Leadsom am Morgen gesagt, das sei aus ihrer Sicht zu wenig, um eine Regierung zu führen. Dann hatte sie sich hinter May gestellt.

Kinderlosigkeit - ein Makel?

Doch was schließlich wie ein versöhnliches Ende eines fairen Kampfes aussah, hatte eine Vorgeschichte, die nicht weniger brutal war als der Verrat unter den Brexit-Männern. Diesmal hatte Shakespeare die Hauptrollen mit Frauen besetzt: Vor ein paar Tagen hatte die „Times“-Journalistin Rachel Sylvester Andrea Leadsom interviewt und dabei gefragt, wie sie sich von ihrer Konkurrentin abgrenzen würde. Dabei hatte Leadsom betont, dass ihre Kinder ihr politisches Weltbild geprägt hätten. Und dass die Innenministerin doch „sehr traurig“ sein müsse, keine Kinder zu haben. Sehr schnell wurde vom „Gossen-Journalismus“ (Leadsom) daraus gemacht, vielleicht sogar als gezielte Kampagne, dass sie sich für eine bessere potenzielle Premierministerin hält, weil sie Kinder hat – und ihrer Konkurrentin quasi deren Kinderlosigkeit vorwirft.

Am Wochenende betonte Leadsom zwar noch einmal, dass „Kinder zu haben nichts mit der Fähigkeit zu tun hat, Premier zu sein“ und drückte ihr „tiefes Bedauern“ aus, dass dieser Eindruck entstanden sein konnte. Am Sonntag habe sie noch geweint, heißt es, am Montag zog sie auch daraus die Konsequenzen. In ihrer Rede erwähnt sie die Mutterschafts-Debatte nicht, aber ihr Wahlkampfmanager lässt später keinen Zweifel daran, dass dies der Grund für ihren Rückzug ist. Ein Indiz, dass sie mit der Aufgabe überfordert war.

Theresa May verliert früh ihre Eltern

Dass May keine Kinder hat, wusste vermutlich in Großbritannien kaum einer. Weil lange überhaupt sehr wenig über die kühle, zurückhaltende Politikerin bekannt war. Die 1956 in Eastbourne geborene Tochter eines Pfarrers studierte am St. Hugh’s College in Oxford Geografie und arbeitete kurz bei der Bank of England, bevor sie 1986 in den Londoner Stadtrat gewählt wurde. In Oxford soll sie gesagt haben, dass sie eines Tages Premierministerin werden wolle. Aber in Oxford sind die, die das nicht von sich behaupten, in der Minderheit. Ebenfalls in Oxford, bei einer Disko-Veranstaltung der Konservativen, lernte sie ihren späteren Mann Philipp May, einen Banker, kennen. Vorgestellt hatte sie angeblich Benazir Bhutto, die spätere Premierministerin von Pakistan. Weil ihr Vater bei einem Autounfall stirbt, als sie 24 Jahre alt ist, und ihre Mutter, die an Multipler Sklerose leidet, ein Jahr darauf, ist sie mit 25 Vollwaise. Sie redet nicht darüber, aber immer wieder wird ihr nüchterner Politikstil auf dieses frühe Alleinsein zurückgeführt.

Schon mal am richtigen Ort: Downing Street, Nr. 10 - der Regierungssitz in London.
Schon mal am richtigen Ort: Downing Street, Nr. 10 - der Regierungssitz in London.
© AFP

Auch bei „Desert Island Discs“, einer BBC-Interviewshow, gab sie sich vor zwei Jahren reserviert. Ihre Musikauswahl war kein Versuch, sich bei den Jungwählern anzubiedern: Sie wählte „Dancing Queen“ von Abba, Mozart und zwei Kirchenlieder – alle Lieder waren vor 1974 komponiert worden. „Ihr Desert Island Luxusgegenstand“ war ein lebenslanges Abo der Modezeitschrift „Vogue“. Theresa May besitzt angeblich mehr als 100 Kochbücher. Das einzig Extravagante daneben ist ihre Schuhsammlung. Bei aller Schlichtheit im Stil: zum Tory-Parteitag 2002 kam May mit Stöckelschuhen in Leopardenmuster.

Die Partei brauche eine „starke und bewährte Führungskraft, um uns durch diese Periode der wirtschaftlichen und politischen Ungewissheit zu führen“, sagt May. Sie meint natürlich sich. Seit 1997 sitzt die 59-Jährige für den Wahlkreis Maidenhead, westlich von London, im Unterhaus. 2002 wurde sie die erste Generalsekretärin der Tories und beendete damit eine lange männliche Vorherrschaft auf dem Posten. Als David Cameron 2010 Premierminister wurde, berief er Theresa May an die Spitze des Innenministeriums. Aus der bitteren Debatte um das EU-Referendum hielt sich May so elegant heraus, dass sie schon die erste Runde im Wettbewerb um die Cameron-Nachfolge gewonnen hatte. In der zweiten Wahlrunde erhielt May 199 von 329 abgegebenen Stimmen. Fast zwei Drittel aller konservativen Abgeordneten wollen sie als Vorsitzende und Premierministerin. Am Montag stellte sich selbst Boris Johnson noch schnell hinter die Frau, die gerade erst noch für den Verbleib in der EU gestimmt hatte: „Theresa wird eine ausgezeichnete Parteiführerin und Ministerpräsidentin sein.“

In Brüssel gilt May als verhandlungsfähig

Die für Oktober geplante Machtübergabe von David Cameron an seine Nachfolgerin galt den europäischen Verhandlungspartnern der Briten als Verzögerungstaktik. Mit einer neuen Premierministerin könnte sich der Prozess beschleunigen. Ob May nun sehr viel früher mit dem Artikel 50 den Anfang vom Austritt auslösen wird – vielleicht noch in dieser Woche –, ist offen. Auf EU-Seite ist May eine vertraute Erscheinung – als Innenministerin galt sie in Brüssel stets als gut informiert und verhandlungsfähig.

Zu Oppositionszeiten saß May bereits in diversen konservativen Schattenkabinetten. In diesen sechs Jahren profilierte sie sich vor allem in der Einwanderungspolitik als Verfechterin einer harten Linie. Gleichzeitig forderte sie schon 2002 ihre Parteigenossen auf, gesellschaftlich inklusiver zu sein, als sie den Vorwurf aufgriff, die Konservativen seien eine hässliche Partei: „Unsere Basis ist zu schmal und unsere Sympathien sind es manchmal auch.“ Nun gilt: Neben dem Aushandeln eines neuen Handelsabkommens ist die Begrenzung der Einwanderung von EU-Bürgern das Hauptthema. Gleichzeitig ist die politische Situation in Westminster, die durch den Rückzug von Andrea Leadsom auf konservativer Seite etwas klarer geworden ist, immer noch fragil. May ist nach David Cameron, Boris Johnson und Michael Gove übrig geblieben. Ob die konservativen Parteimitglieder, die mehrheitlich europakritischer sind als die Abgeordneten, sich mit May als Parteichefin anfreunden können, wird sich zeigen. Und angesichts der ungeklärten Führungsfrage in der Labour Party waren auch am Montag im politischen London Rufe nach Neuwahlen zu hören.

Hart wie Margaret Thatcher - nur nicht so herablassend

Doch Theresa May, das haben die vergangenen Tage eben auch gezeigt, ist aus härterem Material als viele andere in ihrer Partei. So ausdauernd wie sie hat lange keiner das Innenministerium geführt – es ist traditionell der Schleudersitz in der britischen Politik. Die Entschlossenheit, die auf dem Posten notwendig ist, erinnert an die „Eiserne Lady“. Doch anders als Margaret Thatcher kommt May ohne das Herablassende aus, das Thatcher nach und nach die Sympathie ihrer Partei gekostet hat. Doch auch über Theresa May heißt es: „Sie wird mehr bewundert als geliebt.“ Am Morgen, in ihrer Rede in Birmingham, lehnt Theresa May ein zweites EU-Referendum ab. Auch dem Versuch eines Wiedereintritts durch die Hintertür erteilt sie eine Absage. Aber zu diesem Zeitpunkt ist sie noch Premierministerin-Kandidatin und muss um die Brexit-Anhänger in der Partei werben. Inzwischen ist sie Premierministerin im Wartestand. Am Ende zählt nur, wie sich May, die eben doch für den Verbleib in der EU gestimmt hat, als Premierministerin verhalten wird.

Am Nachmittag tritt David Cameron aus seinem Haus. Er kündigt an, am Mittwoch zur Queen zu gehen, um seinen Rücktritt einzureichen. Und dann „werden wir in dem Gebäude hinter mir am Mittwoch Abend einen neuen Premierminister haben“. Als er die Tür zu 10 Downing Street öffnet, singt er eine kleine Melodie. Theresa May wird dort ohne Kinder einziehen, aber mit der Aufgabe, die Beziehung Großbritanniens zur EU zu klären und das eigene Land zu vereinen. Sie wird nach Margaret Thatcher die zweite Regierungschefin des Landes sein. Das Versöhnende, das nun gefragt ist, war nie die Stärke Thatchers. Theresa May wird sich, bei aller phänotypischen Ähnlichkeit, ein anderes politisches Vorbild suchen.

Doch wie Thatcher muss May ein Land aufbauen, das von einer männlichen Politiker-Generation in die Krise geführt wurde. Um 13.15 Uhr hatte ihre letzte Konkurrentin aufgegeben, zwei Stunden später ist Theresa May zurück in London, ihr Auto hält am Unterhaus. Sie weiß, dass sie keine Zeit zu verlieren hat.

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