Proteste in Russland: Der nationalistische Kitt bröckelt
Der Fall des russischen Reporterts Golunow ist ein Indikator für die Erschütterung des russischen Machtapparats. Ein Kommentar.
Erstaunliche Dinge geschehen derzeit in Russland. Putins Innenminister persönlich ist gezwungen, einen Akt polizeilicher Willkür gegen einen Journalisten einzugestehen. Das Verfahren gegen den Reporter Iwan Golunow wurde eingestellt – zwei Generäle der Moskauer Miliz mussten inzwischen den Hut nehmen.
Aktionen gegen missliebige Medienleute hat es in Russland schon oft gegeben. Im Gegensatz zum Fall Golunow ging das für die Betroffenen meist übel aus: Von der Macht beschuldigt und von der Macht verurteilt – das war ein kurzer Weg.
Der Fall Golunow sieht es wie ein Triumph der Zivilgesellschaft über Putins Autoritarismus aus, doch die Dinge sind komplizierter. Der Fall ist zugleich ein Indikator für sehr viel tiefer reichende Prozesse, die sich derzeit in der russischen Gesellschaft abspielen.
Die wurde in den vergangenen Jahren durch eine ultra-nationalistische Allianz zwischen Kreml und Bevölkerung zusammengehalten, die nach der Annexion der Krim, dem Krieg in der Ukraine und den Sanktionen des Westens geschmiedet wurde. Als Kitt funktioniert das inzwischen kaum noch. Nationale Probleme lassen sich nicht mehr durch patriotische Gesänge übertönen. Die Bevölkerung zeigt Unmut: Bei Regionalwahlen fallen vom Kreml bestimmte Gouverneure durch, in Jekaterinenburg protestieren die Einwohner gegen den Neubau einer Kirche – und in Moskau solidarisieren sie sich jetzt mit einem Reporter, der zuletzt über mafiöse Finanzverbindungen zwischen dem Moskauer Chef des Geheimdienstes FSB und den Bestattungsunternehmen der Stadt recherchiert hatte.
Das Misstrauen gegen die Bevölkerung sitzt tief
Zweifellos war auch der gesellschaftliche Druck mitentscheidend in diesem Fall. In der jüngeren russischen Geschichte ist die gezeigte Solidarität beispiellos. Erstmals haben kremlkritische und kremlloyale Medien gemeinsam den Willkürakt verurteilt. Das wiederum lässt sich auch dadurch erklären, dass Golunow keinen „oppositionellen Hintergrund“ hat. Er kämpfte gegen Skandale, gegen die, zumindest in ihren offiziellen Verlautbarungen, auch die Regierung kämpft: gegen Schattenwirtschaft, Korruption und den Machtmissbrauch der mittleren Chargen. Damit müssen sich alle Russen – mehr oder weniger – täglich herumschlagen. Auch, dass das Misstrauen der Bevölkerung gegen die Miliz tief sitzt, sicherte Golunow viele Sympathien.
In einer ersten Reaktion auf den Fall ging der Kreml nicht gegen die Solidaritätsbekundungen und Proteste vor. Er hat erkannt, dass sein Problem in diesem Fall in der Machtvertikalen liegt. Die zweite Reihe hat offenbar eigenmächtig gehandelt, was in Putins System eigentlich nicht vorgesehen ist. Deshalb mussten Sündenböcke her.
Am Mittwoch zeigte sich jedoch, dass auch die alten Reflexe des Putinismus funktionieren. Sind die Mächtigen gezwungen, an einer Stelle nachzugeben, dann ziehen sie die Schraube anderswo an. Während der Demonstration zum Nationalfeiertag sind am Mittwoch Hunderte festgenommen worden, unter ihnen auch der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny.