Grünen-Geschäftsführer Kellner: "In der Bundespolitik wieder mehr klare Kante zeigen"
In Baden-Württemberg habe die Bundespartei für Winfried Kretschmann ihre Interessen zurückgestellt, sagt Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner. Nun sei wieder mehr Profil nötig. Ein Gastbeitrag.
Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt waren ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur nächsten Bundestagswahl. Die Ergebnisse geben uns Grünen einige Denksportaufgaben mit. Triumph in Baden-Württemberg, Erleichterung über den Wiedereinzug in den Landtag von Magdeburg und Enttäuschung über die Verluste in Rheinland-Pfalz. Daraus gilt es die richtigen Schlussfolgerungen für unsere weitere Arbeit zu ziehen.
Verunsicherung führt zu Verwerfungen im Parteiensystem
Die Landtagswahlen fanden nach einen dramatischen Stimmungsumschwung im letzten Jahr von einer unbesorgten hin zu einer verunsicherten, teils sogar verängstigten Gesellschaft statt. In größeren Teilen der Mittelschicht herrscht Statuspanik. Zugleich bestehen berechtigte Sorgen vor einer auseinanderklaffenden Gesellschaft, vor zu geringer Rente im Alter oder fehlender menschenwürdiger Pflege. Das Vertrauen in soziale Aufstiegsversprechen und Chancengleichheit ist großflächig verloren gegangen. Wollten die Menschen früher für ihre Kinder ein besseres Leben schaffen, wollen sie jetzt nur noch den erreichten Wohlstand sichern. Die Flüchtlingspolitik war in den letzten Monaten der Katalysator, aber nicht die Ursache für diese um sich greifende Verunsicherung.
Am rechten Rand sind neue Akteure aufgetaucht
Die gesellschaftliche Debatte und mit ihr das politische Spektrum in Deutschland und der EU haben sich in Gänze nach rechts verschoben. Nicht nur die CSU ergeht sich in christlich-sozialer Legasthenie, auch die Große Koalition jagt ein Asylverschärfungspaket nach dem anderen durch den Bundestag. Christliche Parteien schränken den Familiennachzug für Flüchtlinge ein. Dazu sind am rechten Rand neue Akteure aufgetaucht. Nachdem der Pegida-Mob durch die Straßen marschierte hat die AfD erst in Umfragen und jetzt auch in den Wahlergebnissen stark zugelegt. Sie propagiert Hass und Hetze. Seit den Studien über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit von Professor Heitmeyer wissen wir: Circa 20 Prozent der Bevölkerung haben fremdenfeindliche, rassistische, homophobe oder frauenfeindliche Einstellungen. Es herrscht ein Klima in der Gesellschaft, in dem sich diese Menschen nun offen dazu bekennen. In der AfD haben sie ein Ventil im Parteienspektrum gefunden. Die Brandmauern in der Mittelschicht zum rechten Rand sind mürbe geworden.
Aufgabe meiner Partei ist es, standhaft zu bleiben und gegen diesen Rechtsruck anzuarbeiten. Wir sind die sozial-ökologische Bürgerrechtspartei der linken Mitte. Damit waren wir in der Vergangenheit erfolgreich. 1998 haben wir mit Rot-Grün die Bundestagswahl gewonnen, weil wir die kulturelle Mehrheit im Land auf unserer Seite hatten und das Land modernisieren konnten. Um Offenheit und Liberalität in Deutschland werden wir weiter kämpfen. Das machen wir mit klarer Haltung, also mit Profil, verlässlich und glaubwürdig.
In Baden-Württemberg haben wir Grüne die SPD als Volkspartei ersetzt
Die Landtagswahlen vollziehen einen Prozess nach, der auf Bundesebene schon bei den letzten Bundestagswahlen sichtbar war. Die Mehrheitsbildung über Zweierkonstellationen - inzwischen auch in Form der Großen Koalition - wird schwieriger, innerhalb der traditionellen politischen Lager war sie bei diesen Landtagswahlen unmöglich. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt ist erstmals keine Regierung aus CDU und SPD rechnerisch möglich. In Baden-Württemberg haben wir Grüne die SPD als Volkspartei ersetzt. Angesichts dieser Entwicklung liegt unsere Aufgabe nicht in Farbspielchen und Koalitionsrätselraten, sondern darin, am Wahltag ein möglichst starkes grünes Ergebnis zu erreichen. Denn eine klare und einfache Machtoption für Grün-Rot oder Rot-Grün ist auf Bundesebene bedauerlicherweise in weiter Ferne. Grün machen wir stark, wenn wir uns Debatten darüber schenken, welche Koalitionen uns lieber sind, sondern uns darauf konzentrieren, die offene Gesellschaft zu verteidigen, Europa zu erhalten und die ökologische Revolution voranzutreiben. Aber natürlich haben wir den Anspruch zu regieren, auch mit schwierigen Partnern. Ansonsten droht auf Bundesebene eine blockierte Republik, eine amputierte Demokratie mit einer vor sich hin schrumpfenden Großen Koalition. Wir sollten unsere Energie deshalb darauf verwenden, unsere Inhalte stark zu machen und diese als Messlatte für Regierungshandeln zu nehmen. Da, wo wir keine Partner sehen, können wir auch leidenschaftlich Opposition.
Was wir aus dem Erfolg in Stuttgart lernen
Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg haben wir das beste grüne Ergebnis aller Zeiten erreicht. Winfried Kretschmann hat Parteigeschichte geschrieben. Ihm ist es gelungen nicht nur das starke Ergebnis aus 2011 zu halten, sondern noch deutlich zuzulegen und stärkste Kraft zu werden. Das ist für Grüne ein spektakulärer Erfolg. Die Strategie, sich hinter Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik zu stellen, war in dieser Lage richtig. Damit wir bei der Bundestagswahl zulegen, können wir einiges aus Baden-Württemberg abschauen, sollten aber auch einiges anders machen. Das Motto lautet "Kretschmann kapieren, statt kopieren", wie das Reinhard Bütikofer ganz treffend auf den Punkt gebracht hat. Wir brauchen für die Bundestagswahl einen originären eigenen Weg, um erfolgreich zu sein.
Lernen können wir: Eine klare Haltung zahlt sich aus. In Baden-Württemberg war es ein harter und erfolgreicher Wahlkampf gegen die CDU und für Grün-Rot. Erfolgreich dabei war: Je stärker sich Winfried Kretschmann hinter die Kanzlerin gestellt hat, umso polarisierter wurde der grüne Wahlkampf gegen eine rückwärtsgewandte Landes-CDU. Wir Grüne haben im Unterschied zur CDU Charakter gezeigt. Es hat sich auch in Sachsen-Anhalt gezeigt, dass eine grüne Partei mit Charakter und klarer Haltung gegen Rechts von den Menschen im Parlament gewollt ist.
Im Bund können wir uns nicht in Merkels Windschatten stellen
Im Unterschied zu Baden-Württemberg können wir uns im Bund aber nicht in den Windschatten von Angela Merkel stellen, weil sie zur Wahl steht. In den nächsten Wahlkämpfen geht es weder darum für Angela Merkel zu beten, noch die Platte "Grün gegen Merkel" von 2013 erneut aufzulegen. Vielmehr gehört zu einer Auseinandersetzung, ihre Haltung anzuerkennen, aber auch die Schwachpunkte ihrer Flüchtlings- und Integrationspolitik deutlich zu kritisieren. Was wir derzeit auf europäischer Ebene erleben können, ist doch, dass sich Merkels falsche Türkeipolitik des letzten Jahrzehnts und ihre Härte in der Euro-Politik gegen den Rest Europas bitter rächt. Darauf in aller Deutlichkeit hinzuweisen, ist Aufgabe grüner Politik. An der Seite von Angela Merkel steht zudem eine rückwärtsgewandte CSU mit einem Horst Seehofer, verglichen mit dem Guido Wolf ein frommes Lamm ist.
Winfried Kretschmann hat in einem konservativen Bundesland für gesellschaftlichen Zusammenhalt und mit klarer Kante gegen Rechtsaußen geworben. Dafür hat die Verwurzelung der Grünen in der Zivilgesellschaft stark geholfen. Genau diesen Anspruch, als Stimme der Vernunft für die kulturelle Mehrheit zu kämpfen, werden wir auch auf der Bundesebene ins Zentrum stellen. Wir werden zeigen, dass wir Grüne für eine lebenswerte Welt stehen. Also für Toleranz und Menschlichkeit statt Hetze und Hass, für europäische Lösungen statt Nationalstaaterei, für Kooperation und Solidarität statt Egoismus und Abschottung.
Die Grünen in Baden-Württemberg haben die politische Kultur im Land erneuert. Sie haben nicht auf die Politik der Wasserwerfer im Stuttgarter Schlossgarten, sondern auf die Politik des Dialogs, des Zuhörens und der ausgestreckten Hand gesetzt und Glaubwürdigkeit ausgestrahlt. Diesen neuen Stil des Regierens prägen wir auch in den anderen grün-mitregierten Bundesländern. Nach 58 Jahren schwarzer Regierungen in Baden-Württemberg haben Grüne das Land sehr gut regiert und gezeigt, dass wir die ökologische und gesellschaftliche Modernisierung schrittweise, aber beharrlich umsetzen. Dabei wurden zum Beispiel in der Umweltpolitik Fortschritte erzielt, die wir als kleiner Koalitionspartner nur schwer erreichen können.
Wir haben das Interesse der Bundespartei für Kretschmann zurückgestellt
Dazu hat Winfried Kretschmann mit seiner landesväterlichen Haltung Anerkennung über Parteigrenzen hinweg gefunden, was gerade im direkten Duell mit dem wenig überzeugenden Guido Wolf Stimmen für die Grünen gebracht hat. Winfried Kretschmann hat vorgemacht, wie mit Charakter die Menschen für grüne Ideen überzeugt werden können. Doch anders als in Stuttgart stellen wir im Bund nicht den Regierungschef und zuletzt war auch kein Grüner unter den Top 5 der beliebtesten Politikerinnen und Politiker auf Bundesebene. So notwendig eine Personalisierungsstrategie ist, im vergleichbaren Maße können wir im Bund darauf nicht bauen.
Zum grünen Erfolg hat beigetragen, dass wir uns als Gesamtpartei der unterschiedlichen Rollen und des Spannungsbogens zwischen kleinster Oppositionspartei im Bund und Ministerpräsidentenpartei in Baden-Württemberg bewusst waren. Wir haben das Interesse der Bundespartei zugunsten eines erfolgreichen Wahlkampfs in Baden-Württemberg zurückgestellt. So konnten wir in Baden-Württemberg das historische Ergebnis erreichen. Der Preis dafür war ein Verzicht auf Profilbildung durch die Bundespartei, was zu geringerer Sichtbarkeit und dem Vorwurf der Beliebigkeit geführt hat. Dies hat auch den Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und in Hessen die Arbeit erschwert. Diese Strategie der starken Rücksicht auf Baden-Württemberg fortzusetzen, würde starke grüne Ergebnisse bei den nächsten Landtagswahlen, darunter die als kleine Bundestagswahl bezeichnete Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017, und der nächsten Bundestagswahl gefährden.
Die Wähler erwarten ein deutliches Profil
Die Wählerinnen und Wähler erwarten von einer kleinen Oppositionspartei im Bund ein deutliches Profil, klare Kante, kluge Konzepte und auch eine kämpferische Haltung. Wer glaubt, grünes Wachstum gelinge, wenn wir uns programmatisch häuten und unsere Visionen von einer lebenswerten Welt vergessen, ist auf dem Holzweg. Charakter ist gefragt. Deshalb werden wir gemeinsam mit den grün-mitregierten Ländern im Bundesrat wieder mehr klare Kante zeigen müssen, auch wenn es dabei gegen Koalitionspartner in den Ländern geht.
Bei der nächsten Bundestagswahl wollen wir wachsen, weil viele entscheidende Aufgaben, die vor uns liegen, von uns am überzeugendsten beantwortet werden. Wir müssen die progressive kulturelle Mehrheit mit der Zivilgesellschaft im Rücken wieder zu einem klaren Fundament deutscher Politik machen. Hier kommt es auf uns an. Denn vor allem die Union, aber auch die SPD und Teile der Linkspartei schwanken zwischen autoritärem Traditionalismus und dem offenen Einsatz für eine progressive kulturelle Mehrheit. Um diese kulturelle Mehrheit zu behaupten, folgen wir einer langfristigen und nachhaltigen Strategie, bei der wir derzeit aktiv an fünf Stellschrauben drehen:
Grüne Themen stärker profilieren
Unzählige Male wurde schon der Abgesang auf uns Grüne angestimmt, weil wir ja bereits alles erreicht haben und sich uns keine Aufgaben mehr stellen. Aber die Klimakrise ist größer denn je. Wir wollen die Pariser Ergebnisse schnell in die Tat umzusetzen und den Kohleausstieg einleiten. Wir brauchen die Agrarwende, um Massentierhaltung zu beenden und giftfreie Lebensmittel für alle zu erreichen. Wir brauchen eine Verkehrswende weg von Drecksschleudern hin zu sauberen Alternativen. Bei all diesen Fragen bleiben wir dran. Es gibt noch viel zu tun.
Überzeugende Antworten auf die Gerechtigkeitslücke finden
Sozialer Zusammenhalt ist uns ein wichtiges Anliegen. Wir kümmern uns nicht nur um einige wenige, sondern um eine gerechte Gesellschaft. Es treibt die Menschen um, dass in Deutschland der soziale Zusammenhalt ab- und die soziale Spaltung zunimmt. Deshalb konzipieren wir eine Politik der Gerechtigkeit, die klar macht: In diesem reichen Land ist genug für alle da. Dafür brauchen alle nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Chancen und Möglichkeiten. Und dazu gehört auch, dass starke Schultern einen größeren Anteil tragen und ihren fairen Anteil an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen. In unserer Vorstellung der Gesellschaft dient der Markt den Menschen und nicht andersrum.
Flüchtlings- und Integrationspolitik neu denken
Die Debatte um Flucht und Integration wird andauern. Wenn die Welt sich ändert, dann war es immer eine Stärke von uns Grünen, mutig neue Ideen zu präsentieren. Wir Grüne haben keine fertigen Antworten auf die vielschichtigen Fragen. Wir stehen als Gesellschaft vor der großen Herausforderung, dass wir ganz vieles, was uns wichtig ist, neu denken müssen. Diese Aufgabe nehmen wir als Grüne an. Die anderen Parteien bieten angestaubte Ideen, das ist altes Denken. Zum Beispiel der Vorschlag eines Integrationspflichtgesetzes von Julia Klöckner in der Tradition schwarzer Pädagogik aus dem vorletzten Jahrhundert. Dieser Geist, dass die Menschen, die zu uns gekommen sind, nicht wirklich dazugehören und irgendwann wieder weg sind, widerspricht diametral unserer grünen Haltung. Als Partei der Haltung müssen wir Blödsinn auch Blödsinn nennen und dagegen ankämpfen.
Mit klarer Haltung neue Zielgruppen erschließen
Die Landtagswahl in Baden-Württemberg hat gezeigt, dass viele Menschen für Grüne ansprechbar sind und auch das Kreuz bei uns machen, von denen wir das vielleicht nicht erwartet haben. Um bei der nächsten Bundestagswahl ein deutlich zweistelliges Ergebnis zu erreichen, wollen wir auch Menschen davon überzeugen uns zu wählen, die dies in der Vergangenheit noch nicht oder nicht regelmäßig gemacht haben. Dafür bedarf es einer Ansprache, die einladend ist, die unsere Werte, die die Menschen oftmals teilen, klar vermittelt und die den Leuten Lust macht auf grüne Politik. Zu einer Partei der Haltung gehört es genauso gegen eine ungerechte Handelspolitik à la TTIP auf die Straße zu gehen, wie auch im Bundesrat gemeinsam mit den grün-mitregierten Ländern so manches Mal Kante zu zeigen gegen eine verfehlte Politik der Großen Koalition. Da müssen wir gemeinsam besser werden.
Ein starkes Team präsentieren
Nach der letzten Wahl haben wir einen großen personellen Umbruch erlebt. Die neuen Köpfe mussten erstmal in ihren Rollen ankommen und sich als Spitzenteam finden. Nun haben wir Tritt gefasst und es ist an der Zeit, über Köpfe stärker nach außen zu wirken. Gerade für die Ansprache von Menschen, die nicht grüne Stammwählerinnen und Stammwähler sind, ist das Personal sehr wichtig. Hier wird uns die in der zweiten Jahreshälfte stattfindende Urwahl helfen.
Michael Kellner ist Bundesgeschäftsführer der Grünen und Wahlkampfmanager der Partei.
Michael Kellner