Die Grünen und die Richtungsfrage: Mehr Kretschmann wagen
Nach dem überwältigenden Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg und den Niederlagen in den anderen Ländern stellt sich für die Grünen die Frage, welche Richtung sie einschlagen wollen.
Spricht man Politiker der Grünen in diesen Tagen auf Winfried Kretschmann an, geraten sie ins Schwärmen. Egal ob sie dem Realo-Flügel oder der Parteilinken angehören. Das spektakuläre 30-Prozent-Ergebnis in Baden-Württemberg hinterlässt Eindruck selbst bei denen, die den grünen Ministerpräsidenten in den letzten Jahren gerne mal kritisiert haben. Die meisten in der Partei sind sich einig, dass man aus Kretschmanns Wahlerfolg etwas lernen müsse. Doch was genau die Lehre ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im linken Flügel wächst zudem das Misstrauen, dass die Landtagswahl für eine Kursverschiebung im Bund genutzt werden soll.
Die ersten Realos fordern eine stärkere Ausrichtung der Partei auf neue Wählerschichten. In Baden-Württemberg habe sich ausgezahlt, dass Kretschmann um die Mitte der Gesellschaft geworben habe, analysiert Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank. „Die Grünen können das liberale Bürgertum gewinnen“, ist Fegebank auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl überzeugt. „Mit einem ‚Wir wissen, was gut für euch ist, ob ihr wollt oder nicht‘ wie im Bundestagswahlkampf 2013 kommen wir nicht weiter. Wir müssen klar in der Sache sein, aber moderat im Ton “, sagt sie. Dann ließen sich auch mehr Wähler ansprechen als die 8,4 Prozent bei der letzten Wahl. „Wir dürfen uns nicht klein machen, sondern müssen uns mehr zutrauen“, appelliert Fegebank an ihre Parteifreunde. „In der Mitte gibt es eine Menge Platz für grüne Ideen.“
Mehr Kretschmann wagen, heißt das auch, dass die Partei im Bund konservativer werden muss? Nein, sagt der langjährige Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer. „Wir müssen Kretschmann kapieren, nicht kopieren.“ Der Realo-Strippenzieher, der inzwischen Chef der Europäischen Grünen ist, warnt seine Partei vor voreiligen Schlussfolgerungen. „Es wäre ein Missverständnis, wenn wir aus Kretschmanns Wahlerfolg die Lehre zögen, dass die Grünen insgesamt nun jede seiner Positionen übernehmen müssen“, sagt Bütikofer. Dazu seien die Wählermilieus zu unterschiedlich.
Bütikofer ist sich aber sicher, dass die Grünen von Kretschmann eine Menge lernen können. „Da geht es mehr um die Haltung“, analysiert er. Es habe sich ausgezahlt, dass Kretschmann offen auf die Menschen zugehe und den Dialog suche, „und eben nicht nur mit Grün-Wählern“. Kretschmann werfe außerdem die Frage auf, wohin des mit dieser Gesellschaft gehen solle. „Das ist ein Angebot, das weit über die grüne Kernklientel hinaus geht. Wir Grünen dürften nicht mehr nur eine Zusatzfarbe sein wollen, wir müssen eine Gesamtperspektive bieten“, sagt Bütikofer.
Kretschmanns Haltung wird auch auf dem linken Flügel gelobt
Eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen, fällt vielen Grünen aus deswegen nicht leicht, weil es ja nicht nur den 30-Prozent-Erfolg in Baden-Württemberg gab. Dass es in Sachsen-Anhalt eng werden könne, war nicht überraschend. Aber dass die Grünen am Wahlabend auch in Rheinland-Pfalz um den Wiedereinzug in den Landtag zittern mussten, hatten viele nicht erwartet. Natürlich habe man hier niemanden gehabt, der so populär gewesen sei wie Kretschmann. Aber das Wahlprogramm des Landesverbands, der in den letzten fünf Jahren mit der SPD regierte, sei nicht so anders gewesen als das im der Grünen im Nachbarland Baden-Württemberg, heißt es in der Partei.
Aus Sicht des Grünen-Bundestagsabgeordneten Dieter Janecek lässt sich Kretschmanns Erfolgsrezept mit wenigen Worten beschreiben: „Haltung und Führung“, gepaart mit „Offenheit und Nachdenklichkeit“, das habe die Menschen überzeugt. Aber auch inhaltlich habe Kretschmann Maßstäbe gesetzt, wie man Wirtschaft und Gesellschaft in einem breiten Bündnis für ökologische Reformen gewinnen könne, lobt der Koordinator des Realo-Flügels. Seit der letzten Bundestagswahl, bei der die Grünen auf 8,4 Prozent abstürzten, wird in der Partei darüber gestritten, ob sich ein ökologischer Umbau der Wirtschaft gemeinsam mit den Unternehmen oder durch Konfrontation bewerkstelligen lässt. Kretschmann hat sich eindeutig für das Miteinander entschieden.
Kretschmanns „Haltung“ wird auch im linken Flügel der Partei gelobt. Es nütze nichts, sich „die Anmutung des Ersatzkoalitionspartners zu geben, der bereitsteht, falls es mit der großen Koalition nicht klappt“, sagt Ex-Fraktionschef Jürgen Trittin der „Welt“. Anmutung sei etwas anderes als Haltung. „Wir müssen als Grüne erkennbar für eine Haltung stehen“, fordert Trittin. Er ist außerdem überzeugt: „Gerechtigkeit ist ein starkes Motiv, grün zu wählen.“
Nach Ansicht der linken Flügelfrau Corinna Rüffer kann die Partei sich aus dem Landesverband Baden-Württemberg den Umgang miteinander abschauen. „Im Wahlkampf haben Realos und der linke Flügel gemeinsam gekämpft. Wenn wir uns produktiv streiten, tut das der Partei gut, Rechthaberei schadet“, sagt die Bundestagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz. Inhaltliche Kurskorrekturen hält sie allerdings nicht für notwendig. „Es wäre verkehrt, wenn wir im Bund nun unser gesamtes Programm über Bord werfen. Zum Profil der Grünen gehört auch eine Sozialpolitik, die sich für eine stärkere Umverteilung zwischen Arm und Reich einsetzt“, sagt Rüffer. Sie ist überzeugt: „Das Konservative der Baden-Württemberg-Grünen lässt sich nicht übertragen. Wir können anderswo nicht die CDU als konservative Kraft ersetzen.“