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Josef Schuster ist seit Ende 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.
© Mike Wolff

Zentralratspräsident Josef Schuster im Interview: „In Berlin würde ich eine Basecap über die Kippa ziehen“

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, mahnt zur Abgrenzung von der AfD - und kritisiert den Umgang der Justiz mit antisemitischen Taten.

Josef Schuster ist Internist und seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Schuster kam 1954 in Israel zur Welt, zwei Jahre später kehrten seine Eltern nach Deutschland zurück. Seine Großeltern mütterlicherseits wurden beide in Auschwitz ermordet.

Herr Schuster, an diesem Montag fahren Sie mit dem Bundespräsidenten nach Auschwitz. Was bedeutet dieser Gedenktag für Sie persönlich?
Meine Großeltern mütterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet. Ich habe sie nie kennengelernt. Der 27. Januar ist für mich ein Tag des Erinnerns an meine Großeltern. Aber eigentlich brauchen jüdische Menschen diesen Gedenktag gar nicht. In vielen jüdischen Familien ist die Shoah präsent geblieben, weil Angehörige ausgelöscht wurden. Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte den Gedenktag trotz allem für wichtig, und zwar für die Gesellschaft insgesamt. Die Erinnerung an die Shoah zeigt, wozu Menschen in der Lage sind.

Geht Deutschland aus Ihrer Sicht mit dem Datum angemessen um?
Ja, das sehen wir schon an den zahlreichen Gedenkveranstaltungen. Natürlich gibt es auch Menschen, denen das alles vollkommen egal ist. Das erleben wir insbesondere in den Jahren, in denen der 27. Januar auf ein Wochenende fällt. In den Faschings- und Karnevalshochburgen wird an diesem Tag gefeiert. Manche Vereine nehmen Rücksicht auf den Gedenktag, andere nicht. Aber insgesamt hat sich der 27. Januar als Gedenktag etabliert.

Wie kann man der jungen Generation die NS-Verbrechen und den Holocaust vor Augen führen, besonders in einer Zeit, in der es nur noch wenige Zeitzeugen gibt?
Das Entscheidende ist die Erinnerungsarbeit in der Schule und der Besuch von authentischen Orten, also den Gedenkstätten. Allerdings müssen solche Besuche angemessen vor- und nachbereitet werden. Wenn eine Schulklasse von München aus erst kurz in die KZ-Gedenkstätte Dachau fährt, danach die Filmstudios besucht und zwischendurch zu McDonalds geht, dann sollte man es lieber lassen.

Sollten Besuche in Gedenkstätten für Schulklassen obligatorisch sein?
Definitiv ja. In Bayern sind sie bereits verpflichtend.

Aber wenn etwas verpflichtend ist, bewirkt man damit überhaupt etwas bei jungen Menschen?
Was die Besuche bewirken, hängt nicht davon ab, ob sie verpflichtend sind, sondern wie sie im Unterricht behandelt werden. Außerdem wird von Jugendlichen alles, was außerhalb der Schule und an authentischen Orten stattfindet, ganz anders angenommen. Obligatorische Gedenkstättenbesuche finden sich im Lehrplan wieder, so dass die Lehrer auch angehalten sind, sie tatsächlich durchzuführen.

Sind Deutschlands Lehrer dafür gut vorbereitet?
Geschichtslehrer sollten in der Lage sein, einen Gedenkstättenbesuch entsprechend thematisch zu begleiten. Allerdings habe ich Zweifel, ob das immer der Fall ist. Offenbar kommen immer wieder Schulklassen in die Gedenkstätten, die nicht gut vorbereitet sind. Defizite gibt es auch noch an anderer Stelle bei Lehrern: Wie gehe ich damit um, wenn es zu antisemitischen Vorfällen in der Schule kommt? Wenn auf dem Pausenhof „Du Jude“ als Schimpfwort benutzt wird?

Müssten die Lehrer also für den Umgang mit Antisemitismus selbst noch einmal geschult werden?
Dafür sollten sowohl diejenigen fortgebildet werden, die noch in der Ausbildung sind, als auch die Lehrer, die schon jahrelang im Schuldienst arbeiten. Da gibt es ein riesiges Defizit.

Aber dieses Defizit gibt es schon lange. Warum passiert nichts?

Der Begriff „Jude“ war vor 15 Jahren auf Schulhöfen kein Schimpfwort. Damit haben Lehrer sich früher nicht auseinandersetzen müssen. Das hat sich verändert. Allerdings zieht der Zentralrat gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz aus dieser neuen Situation auch schon Konsequenzen: Wir haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule Empfehlungen erarbeitet, und zwar für Lehrkräfte und die Lehrerbildung. Die Kultusminister der Länder sind dann für die Umsetzung der Empfehlungen verantwortlich.

Das „Zentrum für politische Schönheit“ hat in einer sogenannten Kunstaktion die Asche von Holocaust-Opfern in einer Säule in Berlin ausgestellt. Was ging in Ihnen vor, als Sie davon gehört haben?
Ich war und bin fassungslos. Dafür habe ich keinerlei Verständnis, selbst bei allen guten Absichten, die womöglich dahinterstanden. In meinen Augen ist die ganze Aktion gedankenlos und kontraproduktiv. Die im Judentum sehr wichtige Totenruhe ist mit Füßen getreten worden. Auch das Gedenken an die Shoah ist primär keine Kunst. Diese Aktion war eine Instrumentalisierung der Shoah, die jegliches Maß verloren hat.

Kunst ist nicht kompatibel mit Gedenken?
Hier kommt es auf die Form an. Gunter Demnig bezeichnet seine Stolpersteine ebenfalls als ein Kunstprojekt. Die Stolpersteine halte ich für eine sehr gute und würdige Form des Gedenkens.

Wie empfinden Sie als Jude derzeit die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland?
Ich erlebe eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, wenn ich das mit der Situation vor zehn Jahren vergleiche. Generell hat die Abneigung gegen alles Fremde zugenommen. Ein selbstbewusstes Leben als Jude in Deutschland war vor zehn Jahren einfacher als heute. Auch wenn jemand mit Kippa durch die Stadt gegangen wäre, hätte das im Regelfall niemanden gestört. Heute gibt es Menschen, die es für gerechtfertigt halten, denjenigen, der sich als Jude zu erkennen gibt, anzupöbeln und zu beleidigen. Man traut sich, Dinge zu tun und zu sagen, die man sich vor zehn Jahren nicht getraut hat. Wenn seitens einer Partei, der AfD, vom Mahnmal der Schande gesprochen wird, wenn die Wende der Erinnerungskultur um 180 Grad gefordert wird, wenn die Zeit des Nationalsozialismus mit einem Vogelschiss verglichen wird, dann führt dies in der Bevölkerung zu einer Enthemmung.

Die AfD hat bei den Wahlen gerade in den ostdeutschen Bundesländern sehr hohe Ergebnisse erzielt, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist sie zweitstärkste Kraft. Wie sollten die anderen Parteien mit der AfD umgehen?
Die demokratischen Parteien müssen sich sehr klar von der AfD distanzieren. Sie sollten immer wieder versuchen, sie zu entlarven. Es ist der falsche Weg, sich der AfD anzubiedern oder sie gar nachzuahmen, weil das angeblich Stimmen bringt. Jeder, der in Thüringen die AfD gewählt hat, wusste, wen er da wählt. Herr Höcke hat seine wahren Überzeugungen nie verheimlicht. Eine klare Abgrenzung von der AfD ist der einzig richtige Weg.

Der Zentralrat der Juden erhält schon seit langer Zeit regelmäßig antisemitische Briefe, Mails und auch Drohungen. Hat sich das in letzter Zeit verstärkt?
Wir erhalten heute mehr antisemitische Botschaften als früher. Dabei spielen auch die sozialen Netzwerke eine große Rolle. Anders als früher schreiben die Leute jetzt vermehrt mit Klarnamen. Aber es gibt auch eine andere Seite der Medaille. Nach dem Attentat in Halle hat der Zentralrat sehr viele Zuschriften und Mails bekommen, in denen die Menschen uns ihre Solidarität ausgedrückt haben. In einem solchen Ausmaß haben wir das noch nie erlebt.

Wenn Sie antisemitische Botschaften und Drohungen bekommen, was geht dann in Ihnen vor?
Mich persönlich beeindrucken solche Mails wenig. Allerdings geben wir alle diese Briefe, Mails und Facebook-Kommentare an die Polizei weiter, um zu prüfen, ob eine Straftat vorliegt.

Sind Sie zufrieden damit, wie die deutsche Justiz dann mit diesen Hassbotschaften umgeht?
Was die Hassbotschaften betrifft, liegen die Defizite eher in der jetzigen Rechtslage, weil viele der Beschimpfungen leider nicht strafbar sind. Aber grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass das Thema Antisemitismus in juristischen Kreisen als ein bisschen lästig empfunden wird. Es gibt aus unserer Sicht eindeutig judenfeindliche Fälle, in denen die Justiz aber keinen Antisemitismus erkennen kann.

Woran denken Sie dabei?
Vor dem jüdischen Gemeindezentrum in Dortmund hing vor der Europa-Wahl ein Wahlplakat der Partei „Die Rechte“, auf dem „Israel ist unser Unglück“ stand. Die Justiz stufte es aber als strafrechtlich nicht relevant ein. Zwar gebe es die Assoziation zum NS-Propagandaslogan „Juden sind unser Unglück“, aber man könne ja nicht beweisen, dass das die beabsichtigte Aussage sei. Womöglich habe die Partei sagen wollen, dass tatsächlich Israel das Unglück sei. Solange unsere Justiz so interpretiert, haben wir keine Abschreckung. Das ist eine Einladung, solche antisemitischen Kampagnen zu wiederholen.

Was muss die Politik tun?
Die Bundesjustizministerin will das Strafgesetzbuch so ändern, dass antisemitische Motive als strafverschärfend gewertet werden können. Ich hoffe, dass das dann doch zu anderen Urteilen führt. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet bei antisemitischen Taten strafmildernde Überlegungen diskutiert werden, eine schwere Jugend beispielsweise oder eine Fluchterfahrung. So schrecken wir nicht ab.

Können Gesetze und Strafen überhaupt etwas bewirken?
Ich glaube schon, dass sie etwas bewirken können. Wenn klar ist, dass antisemitische Taten und Worte auch entsprechend geahndet werden, wird sich der eine oder andere überlegen, was er sagt oder was er nicht sagt. Deshalb ändert sich sein Gedankengut nicht zwingend. Aber wenn antisemitische Äußerungen und Taten salonfähig sind, dann wird sich diese Welle weiter ausbreiten.

In Halle hat ein bewaffneter Rechtsextremist im vergangenen Jahr versucht, in eine voll besetzte Synagoge einzudringen. Was hat sich durch diesen Anschlag für Juden in Deutschland verändert?
Diese Tat hat leider zu einer erheblichen Verunsicherung innerhalb der jüdischen Gemeinden geführt. Und sie hat Versäumnisse der Behörden offengelegt. Bereits nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde, spätestens aber nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hätte klar sein müssen, zu welchen Taten Rechtsextremisten heute in Deutschland fähig sind.

Welche Versäumnisse gab es aus Ihrer Sicht im Kampf gegen Rechtsextremismus?
Bei den NSU-Morden hat es viel zu lange gedauert, bis sie aufgeklärt wurden. Die Sicherheitsbehörden hatten auf dem rechten Auge eine deutliche Sehschwäche. Das scheint sich jetzt zu ändern. Aber nach dem Mord an Lübcke hätte man sofort aufwachen müssen. Das gilt beispielsweise für die Frage des Polizeischutzes für jüdische Einrichtungen. Dass vor der Synagoge in Halle an Jom Kippur…

… dem höchsten jüdischen Feiertag…
… kein einziger Polizist stand, bleibt für mich unverständlich. Ich habe mir das nicht vorstellen können.

Nach dem Anschlag in Halle hat in der jüdischen Gemeinschaft die Debatte darüber, ob man sich in diesem Land noch sicher fühlen kann, eine neue Dimension bekommen. Sitzen Juden in Deutschland heute tatsächlich auf gepackten Koffern?
Ganz so drastisch würde ich es trotz allem nicht ausdrücken. Die Koffer sind ausgepackt. Aber man guckt jetzt, wo der leere Koffer steht. Die Frage, ob man in Deutschland noch leben kann, wird in vielen jüdischen Familien gestellt. Ich sage dann: Gibt es denn ein europäisches Land, in dem es besser ist? Auch in den USA wurden jüdische Einrichtungen Ziel von Attentaten. Und selbst in Israel sind Sie vor terroristischen Anschlägen nicht sicher.

Wenn Sie heute jemand fragt, ob man überall in Berlin noch mit Kippa auf die Straße gehen kann, was würden Sie ihm raten?
Vor einigen Jahren hat es zu einem Aufschrei geführt, als ich davon abgeraten habe, aber ich bleibe dabei: In Berlin und einigen anderen Großstädten in Deutschland würde ich empfehlen, eine Kippa nicht offen zu tragen, sondern lieber eine Basecap darüber zu ziehen. Das wird schon lange so gehandhabt in den jüdischen Gemeinden.

Sie sind schon seit 2014 im Amt. Was bedeutet es für Sie, mit ständigem Polizeischutz leben zu müssen?
Dies ist mit dem Amt des Präsidenten des Zentralrats verbunden und keine neue Entwicklung. Ich nehme das hin und muss ehrlich sagen, dass es nicht die größte Belastung dieses Amtes ist.

Was denn dann?
Die viel größere Belastung ist die Auseinandersetzung mit den negativen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Eigentlich hatte ich zu Beginn meiner Amtszeit gehofft, nicht mehr so oft über Antisemitismus sprechen zu müssen. Aber genau das Gegenteil ist passiert.

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