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Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede in Jerusalem.
© Abir Sultan / Reuters

Steinmeier bei Holocaust-Gedenken in Yad Vashem: „Es ist eine andere Zeit, aber dasselbe Böse“

In Jerusalem stellt sich nicht nur der deutsche Bundespräsident gegen Antisemitismus. Das Gedenken wird aber auch politisch ausgenutzt – und führt zu Streit.

Eine Botschaft flackert über die Leinwände: „Wir erinnern an 1,5 Millionen Kinder, die im Holocaust ermordet worden sind.“ Direkt danach wird als nächster Redner der Bundespräsident des Tätervolks aufgerufen. Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, Frank-Walter Steinmeier betritt die Bühne in Yad Vashem. Er weiß, er hat nur wenige Minuten – die müssen sitzen.

Tagelang hat der Bundespräsident an der bisher wichtigsten Rede seiner Amtszeit gefeilt. Nie hat ein deutscher Präsident in der zentralen israelischen Holocaust-Gedenkstätte sprechen dürfen – und nun redet er hier, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Steinmeier beginnt auf Hebräisch, er hat dafür viel üben müssen. „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“

Israels Staatspräsident Reuven Rivlin begrüßte unter anderem Emmanuel Macron, Prinz Charles und Wladimir Putin.
Israels Staatspräsident Reuven Rivlin begrüßte unter anderem Emmanuel Macron, Prinz Charles und Wladimir Putin.
© Abir Sultan / REUTERS

Sieben Männer haben vor ihm geredet, erst die Vertreter der Betroffenen des Holocaust, dann die Vertreter der Befreier davon, von Israels Staatspräsident Reuven Rivlin über Wladimir Putin, Mike Pence und Emmanuel Macron bis Prinz Charles. Vertreter von 48 Staaten sind in die Holocaust-Gedenkstätte nach Jerusalem gekommen. Es ist laut Israels Außenministerium die hochrangigste politische Veranstaltung des Landes seit der Staatsgründung 1948.

Sicher, Steinmeier sagt, was von ihm hier erwartet wird – aber er relativiert nichts, er hält die Rede auf Englisch und aus Respekt vor den Opfern nicht auf Deutsch. „Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – es wurde von meinen Landsleuten begangen“, sagt er.

48 Kränze für die Opfer – und keiner von einem arabischen Staat

Man darf nicht vergessen: Es gab mal einen großen Historikerstreit über die Singularität des Holocaust, ausgelöst von einem Aufsatz Ernst Noltes 1986, der auch auf die Gulag-Systeme Stalins verwies. Aber Gaskammern zur Massentötung hat niemand sonst gebaut.

Jürgen Habermas warnte damals vor einem gefährlichen Versuch, ein neues Nationalbewusstsein durch das Relativieren der Vergangenheit zu schaffen. In die Richtung lässt sich heute etwa eine Aussage des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland interpretieren, der gesagt hat: „Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte.“

Steinmeier spart in Yad Vashem – vor den „Augen der Welt“, wie er sagt – das Aktuelle nicht aus. „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt“, sagt er. „Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik Antisemitismus hervorbreche oder wenn nur eine schwere Holztür verhindere, dass ein Rechtsterrorist in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichte. Es sei eine andere Zeit, „aber es ist dasselbe Böse“.

Die Halle der Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Halle der Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
© Ammar Awad / Reuters

Er erneuert in Yad Vashem ein Versprechen, das zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehört: „Wir schützen jüdisches Leben. Wir stehen an der Seite Israels.“ Am Ende redet er rund elf Minuten, die meisten anderen Staatschefs erheben sich und danken ihm für die Worte. Danach legen Vertreter aller 48 Staaten Kränze nieder – kein einziger arabischer Staat ist darunter

Es ist in diesen Zeiten von neuem Antisemitismus, gerade auch in Deutschland, mit der AfD als der größten Oppositionspartei im Bundestag, ein wichtiges Signal, dass der israelische Staatspräsident Rivlin und Steinmeier sich als Freunde bezeichnen – und gemeinsam drei starke Akzente in dieser Woche der Erinnerung an die Tötung von über einer Million Menschen in Auschwitz verabredet haben.

Als zweites werden sie am Montag am 75. Jahrestag der Befreiung in Auschwitz sein und von dort gemeinsam in einer Maschine der deutschen Flugbereitschaft nach Berlin fliegen. Am Mittwoch werden beide im Bundestag sprechen, Rivlin als erster israelischer Präsident seit Shimon Peres vor genau zehn Jahren. Mit Spannung wird erwartet, wie beide sich in Richtung der AfD äußern werden. Deren Freundschaftsbekundungen zu Israel werden der Partei dort kaum abgenommen.

Putin lässt sie alle warten

Jerusalem ist an diesem Tag eine Hochsicherheitszone, Hubschrauber kreisen, Wagenkolonnen rasen durch leere Straßen, von Scharfschützen gesichert. Überall patrouillieren bewaffnete Soldaten. Steinmeier beginnt den Tag vor seiner Rede mit einem Frühstück mit dem österreichischen Präsidenten Alexander Van der Bellen. Der russische Präsident Wladimir Putin inszeniert sich derweil bei einem Treffen mit Israels Premier Benjamin Netanjahu als großer Freund – er mischt immer stärker im Nahen Osten mit.

Bei seinen Versuchen, die Geschichte einseitig positiv zu russischen Gunsten zu deuten, wirbt Putin in Israel um Verbündete. Pompös, mit russischer Nationalhymne, weiht er vor Beginn des World Holocaust Forums in einer eigenen Festveranstaltung mit Rivlin und Netanjahu noch ein 8,5 Meter hohes Mahnmal für die hunderttausenden Opfer der Blockade Leningrads durch die Deutschen ein. Dadurch verschiebt sich der Beginn des Holocaust Forums um eine Stunde. Macron, Pence, Steinmeier, Prinz Charles: Sie alle müssen warten. Und dort taucht Putin dann auch erst 15 Minuten nach dem Beginn auf, er schwört in seiner Rede alle auf den Kampf gegen den Antisemitismus ein.

Wladimir Putin provozierte in Jerusalem mit einem wenig diplomatischen Auftritt.
Wladimir Putin provozierte in Jerusalem mit einem wenig diplomatischen Auftritt.
© via REUTERS

Für schwere Verstimmungen hat im Vorfeld gesorgt, dass Putin in Yad Vashem reden darf, ebenso Steinmeier, also die Vertreter der Vorgängerstaaten, die 1939 im Hitler-Stalin-Pakt die Aufteilung Polens beschlossen hatten. Nicht aber Andrzej Duda, der Präsident des Staates, auf dessen Boden sich auch das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befand. Daher reiste er nicht nach Jerusalem. In Israel kommt es hingegen nicht gut an, dass die polnische Regierung vor allem von polnischen Opfern in Auschwitz spricht, Israel stellt die jüdische Identität in den Vordergrund.

Rivlin könnte den Streit mit Polen entschärfen, in dem er Andrzej Duda am Rande des Gedenkens in Auschwitz am Montag zum Staatsbesuch nach Israel einlädt, heißt es in Jerusalem. Dort wiederum wird Putin fehlen – obwohl die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreit hat. Putin wirft Polen vor, dass zum Beispiel dessen Botschafter Jozef Lipski vor Kriegsausbruch mit den Nazis kooperiert, Adolf Hitler bewundert und judenfeindlich agiert habe. Putin nannte ihn ein „antisemitisches Schwein“.

„Morgen gehe ich ins Gas“

Auch das ist eine Gefahr in heutiger Zeit: Die Instrumentalisierung von Geschichte aus nationalistischen Motiven, die Spaltungen vertieft. Die Rotarmisten fanden in Auschwitz nur noch etwa 7000 überlebende Häftlinge vor. Nur noch wenige KZ-Überlebende leben heute – künftig werden junge Menschen ihre Berichte nur noch auf Videos sehen. Der 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung ist einer der letzten mit lebenden Zeitzeugen.

Steinmeier empfindet es als Ehre, dass er 25 von ihnen im Vorfeld des World Holocaust Forums im achten Stock eines Jerusalemer Bürogebäudes treffen durfte. Hier sind die Büros des AMCHA-Zentrums (hebräisch: Dein Volk), das traumatisierten Holocaust-Überlebenden Hilfe bietet. Die Zahl der Therapiestunden für Holocaust-Opfer hat sich von 114 920 Stunden (2009) auf 245 489 (2019) mehr als verdoppelt. Gerade im Alter, wenn die Einsamkeit und Depressionen zunehmen, wächst der Therapiebedarf.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hört Giselle Cycowicz, Psychologin und Holocaust-Überlebende, im Amcha-Zentrum Jerusalem zu.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hört Giselle Cycowicz, Psychologin und Holocaust-Überlebende, im Amcha-Zentrum Jerusalem zu.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Giselle Cycowicz, 92 Jahre alt, berät für AMCHA Menschen, die das Grauen wie sie überlebt haben. Sie berichtet auf Deutsch, wie ihr Vater 1944 in Auschwitz von ihr getrennt wurde und durch den Stacheldrahtzaun zu ihr sagte: „Morgen gehe ich ins Gas.“ Sie erzählt heute der jüngeren Generation von ihren Erfahrungen, sie überlebte Auschwitz und wurde am 8. Mai 1945 im Nebenlager Mährisch Weißwasser befreit. „Mir kann nicht mehr warm werden“, sagt sie – eine Folge der vielen Märsche barfuß durch Schnee. Mehrfach wird sie in der Gesprächsrunde gefragt: Wie war der Moment der Befreiung? Sie hat den Moment gar nicht so empfunden. Sie wusste erstmal nicht wohin. Ihr erster Gedanke: Wo bekomme ich die nächste Scheibe Brot her?

„Das ist unsere Rache an den Nazis“

Steinmeier spricht von einer großen Ehre für ihn und seine Frau Elke Büdenbender, hier mit den Holocaust-Opfern über „ihr Leben und ihr Überleben reden zu dürfen“. Beide wollen schon gehen, da spricht Elias Feinzilberg sie noch einmal an. Ganz leise, Steinmeier und Büdenbender beugen sich herunter.

Elias Feinzilberg im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender in Jerusalem.
Elias Feinzilberg im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender in Jerusalem.
© Georg Ismar

Feinzilberg hat mehrere Todeslager überlebt, er ist 102 Jahre alt. Er hält Kopien seiner Lebensgeschichte in der Hand. In Lodz geboren, landete Feinzilberg 1943 in Auschwitz und hatte viel Glück. Er wurde zur Zwangsarbeit in einer Kohlemine 30 Kilometer entfernt abkommandiert, die Briten bombardierten die Mine und Feinzilberg wurden mit hunderten anderen Juden auf einen Marsch geschickt. Am Ende landete er in Dachau, wurde von Amerikanern im Mai 1945 befreit. Später lebte er 22 Jahre in Guatemala, weil er dort einen Onkel hatte, bevor er 1969 in Jerusalem seine Heimat fand. Viel Kraft und eine gute Gesundheit wünscht ihm Steinmeier.

Feinzilberg hat heute 21 Enkel und sieben Urenkel. „Das ist unsere Rache an den Nazis – dass wir jetzt schon in der vierten Generation hier leben“, sagt er.

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