TTIP: Im Empörungswahn
Beim Thema TTIP sind Politikverdruss und Antiamerikanismus fast zum Selbstzweck geworden. Der Protest ist blind für die Vorteile: Das Handelsabkommen ist Europas Chance. Ein Essay.
Die Bauern sollen auf ihren Traktoren vorwegfahren, dahinter Menschenmassen – so viele, wie in einer deutschen Großstadt leben, bei gutem Wetter auch mehr als 100.000. So waren es am Samstag noch nicht. Angeführt wurde der Demonstrationszug von einem Korso aus etwa 35 Traktoren. Auf einem Anhänger war ein großes hölzernes Pferd aufgebaut mit der Aufschrift: „TTIP - ein Trojaner?“.
Während die Polizei von 35.000 Teilnehmern sprach, schätzten die Veranstalter die Zahl der Demonstranten auf 90.000.
Die Wütenden zeigen im Zentrum Hannovers Plakate in die Kameras, schreiend oder tanzend und protestieren gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Der Deutschlandbesuch von Barack Obama soll von den Traktorfahrern und den Demonstranten komplett überschattet werden.
Schon im vergangenen Oktober mobilisierten die TTIP-Gegner in Berlin nach eigenen Angaben 250.000, der Polizei zufolge 150.000 Menschen. Sie drängten sich zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor derart eng, dass die Spitze der Protestbewegung ihr Ziel erreicht hatte, bevor die Letzten losgelaufen waren. Manch einer kam mit seinem persönlichen Dagegensein gar nicht so schnell hinterher.
"TTIP tötet" stand damals auf Plakaten. Einige Aktivisten hatten eine mit Blutfarbe beschmierte Guillotine mitgebracht, auf der der Name des deutschen Wirtschaftsministers geschrieben war, samt Drohung: "Pass auf!" Antiamerikanismus als Antrieb.
Die Welle der Empörung
Mehr als zwölf Jahre ist es her, dass in Deutschland eine solch große Masse wegen politischer Entscheidungen auf die Straße zog. Damals, im Jahr 2003, wollten die Menschen verhindern, dass sich Deutschland am Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush beteiligt. Da ging es tatsächlich um Leben oder Tod, zumindest von deutschen Soldaten.
Doch warum jetzt diese Massenmobilisierung? Wie konnte ein Handelsabkommen zu solch einem Politikum werden?
Immerhin hat die Europäische Union bereits mehr als 30 Freihandelsabkommen mit anderen Staaten verhandelt. Gegen keines war der Protest so laut, so groß und so weit verbreitet wie gegen die Transatlantic Trade and Investment Partnership zwischen der EU und den Vereinigten Staaten von Amerika, besonders in Deutschland.
Ergo: Viele Menschen gehen nicht gegen das Handelsabkommen, sondern gegen den Handelspartner auf die Straße, Antiamerikanismus als Antrieb. Das ist eine Erklärung, eine offensichtliche, aber nicht die einzige. Beginnen wir also bei denen, die die Welle der Empörung losgetreten haben.
Campact nennt sich die Organisation, die die TTIP-Kritik in Deutschland vom Thema für Fachleute zur Massenbewegung erhöht hat. Startschuss der Kampagne war das Jahr 2013. Mittlerweile erreicht Campact nach eigenen Angaben mit einer E-Mail 1,7 Millionen Protestwillige.
"Wir begeistern Menschen niedrigschwellig für Politik," sagte Christoph Bautz, einer der geschäftsführenden Vorstände von Campact dem Magazin Cicero. Klingt gut. Dahinter verbirgt sich allerdings ein eingespieltes Team, das gezielt und machtvoll auf breiter Front gegen TTIP agitiert. Laut Campact höhlt das Abkommen Demokratie und Rechtsstaat aus und diene dazu, Konzernen durch Fracking, Chlorhühner, Gen-Essen und laxen Datenschutz neue Profite zu erleichtern. "Mit TTIP haben wir einen Nerv getroffen", sagt Campacts Pressesprecher mit Stolz. Statt seinen Hundertausenden Mail-Empfängern die wahren Ziele von TTIP zu erklären, organisiert Campact Kampagnen dagegen – hochprofessionell im digitalen Raum und mit 30 fest angestellten Mitarbeitern.
Im Kampf um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung agiert Campact wie ein Dienstleistungsunternehmen für Lobbyverbände, Umweltorganisationen und Bürgerinitiativen. Die Leistung besteht darin, Wut zu entfachen, zu kanalisieren und vom Internet auf die Straßen zu bringen. Protest als Selbstzweck.
Die Organisation funktioniert ähnlich wie eine PR-Agentur. Nach Recherchen des Cicero betrug das Budget der Organisation im vergangenen Jahr etwa 6,2 Millionen Euro. Erfolgreichstes Projekt: TTIP. Neben dem gesellschaftspolitischen Umfeld in Deutschland sei der bisherige Erfolg der Anti-TTIP-Protestbewegung vor allem auf die Professionalität zurückzuführen, mit der die Campact-Kampagnen geplant, koordiniert und durchgeführt werden. Auf ganz besondere Weise sei es Campact gelungen, ein Thema aus einer Nische auf die oberste politische Agenda zu katapultieren, heißt es in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Und weiter: "Die Arbeit von Campact wird durch Spenden finanziert. Es gibt aber kaum Informationen darüber, wie viele Großspender die Arbeit von Campact unterstützen."
Was ist TTIP überhaupt?
Eigentlich ist TTIP nur ein weiterer internationaler Handelsvertrag, einer von Tausenden, wie ihn viele Staaten miteinander geschlossen haben. Die Idee: Wer miteinander Handel betreibt, profitiert davon, indem der Wohlstand wächst und neue Arbeitsplätze auf Seiten des Importeurs und des Exporteurs entstehen. Grundsätzlich führt Handel zu mehr Wirtschaftswachstum, das gestehen selbst die stärksten TTIP-Gegner wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz ein. Wobei sie bei TTIP auf ein geringes zu erwartendes Wirtschaftswachstum verweisen.
Die USA und die Länder der EU handeln nämlich ohnehin schon viel miteinander. Ein Nebeneffekt aber bleibt: Die jeweiligen Länder bekämpfen sich weniger. Je größer der Handel, desto geringer die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Die ökonomischen Verbandelungen wirken sich auf die politische Kooperation aus und umgekehrt.
Grund dafür sind die gegenseitigen Abhängigkeiten, die durch wirtschaftliche Verflechtungen entstehen.
Dass diese Idee unter Demokratien funktionieren kann, ist bewiesen. Die Europäische Union begann auch einmal als Handelsvertrag. Danach verbandelten sich die Nationalstaaten Europas auf immer mehr Wirtschaftsfeldern. Es folgte eine Währungsunion; es entsteht eine politische Union. Die Politisierung innerhalb der EU ist gerade in vollem Gange. Work in progress, siehe Euro-, Ukraine- und Flüchtlingskrise.
Staaten wie Österreich, Ungarn, Deutschland oder Italien sind dabei oft unterschiedlicher Meinung, aber sie bekriegen sich deshalb nicht mehr, wie noch vor weniger als 80 Jahren. Dafür wächst die Wirtschaft als Grundlage für Wohlstand innerhalb der EU immer weiter, trotz deutscher Wiedervereinigung, Osterweiterung, Finanzkrise.
Denkt man die Idee, die hinter Freihandelsverträgen wie TTIP steht, bis zum Ende, könnte die ganze Welt irgendwann über Handelsverbindungen miteinander verbunden sein, eine Art TTIP für alle. Globaler Warenaustausch, gleiche Qualitätsstandards und Verbraucherrechte, keine Schutzzölle, mehr Austausch, mehr Wohlstand, weniger Krieg.
Freilich: Das wirkt wie eine Zukunft aus dem Märchenbuch, die Globalisierung als Hauptgewinn für alle Erdenbürger, und lässt sich bisher auch noch nicht umsetzen, vielleicht auch nie.
Gescheitert sind an dieser Idee bisher zwei Organisationen, die eine Art TTIP für die ganze Welt in die Realität überführen möchten: Die Welthandelsorganisation, kurz WTO, und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD.
Zerstört TTIP die Demokratie?
Gemeinsamer Handel, gemeinsame Standards
Wobei die WTO die mächtigere von beiden ist, da fast alle Staaten der Welt ihr angehören und sie die Handels- und Wirtschaftspolitik mit globaler Reichweite verhandelt. Oder es zumindest versucht. Denn seit mehr als zehn Jahren gelingt der WTO kein entscheidender Durchbruch mehr beim Projekt TTIP für alle.
Die New York Times schrieb im Anschluss an die zehnte WHO-Ministerkonferenz vor einigen Wochen: "Nach 14 Jahren des Verhandelns haben die Mitglieder der WTO die Gespräche in der Doha-Runde de facto beendet. Überraschend kam das Scheitern nicht, beachtet man die bisherigen fruchtlosen Ergebnisse. Jetzt müssen sich die Anführer der Welt für das Ziel eines globalen Handelssystems etwas Neues überlegen."
Der Anfang von diesem Neuen könnte TTIP sein. Die Logik dahinter: Wenn die Weltgemeinschaft sich nicht zusammen in großer Runde in Doha auf einheitliche Handelsregeln einigen kann, können einzelne Staaten vorangehen. Wenn es gut wird und funktioniert, werden die anderen irgendwann folgen.
So geschah es auch bei der Europäischen Union. Erst waren es nur sechs Staaten, die miteinander kooperierten, inzwischen sind es 28 Länder, die gemeinsame Sache machen und dafür Kompetenzen übertragen haben. Seit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 verfügt die EU etwa über Zuständigkeiten in der gemeinsamen Handels- und Umweltpolitik. Zusammen ist man weniger allein und erreicht mehr.
Gelänge der EU und den USA nun ein Abkommen wie TTIP, wäre man dem Ziel eines global einheitlichen Handelsregelwerkes einen großen Schritt näher. Zusammen erwirtschaften EU und USA nämlich etwa die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Der Handel beider Staatenverbünde macht etwa ein Drittel des Welthandels aus.
TTIP, wenn es denn kommt, würde also groß. Vor allem, weil es nicht nur darum geht, den Handel untereinander zu vereinfachen, sondern auch darum, gemeinsame Standards zu definieren und anzugleichen. Wichtige Bestandteile des Abkommens sollen zum Investitionsschutz und zum Schutz von intellektuellen Eigentumsrechten führen.
Darum geht es in TTIP in großen Teilen. Sollte es irgendwann einmal zur Umsetzung kommen, würde es darüber auch möglich sein, wichtige Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft wie die Macht von Gewerkschaften oder den Mindestlohn zu stärken. Doch spätestens bei diesem Punkt beginnen die Kritiker sich zu melden. Sie sagen: TTIP beendet die Demokratie.
Zerstört TTIP die Demokratie, schon in seiner Entstehung?
Glaubt man den Kritikern von TTIP, würde das Handelsabkommen nicht nur den deutschen Rechtsstaat zerstören, sondern auch die Fundamente unserer Demokratie. Vor so einem Untergang der freien europäischen Gesellschaft warnte beispielsweise die ZEIT schon im Sommer 2014: TTIP würde auf eine "fast diktatorische Beschränkung demokratischer Selbstbestimmung" hinauslaufen.
Auch viele von Campact mobilisierten Aktivisten, die vor einigen Monaten auf ihrem Protestmarsch im Herzen Berlins von ihrem demokratischen Recht der Meinungsäußerung Gebrauch machten, kritisieren TTIP als undemokratisch. Einer der Verbände, der Stimmung und Flugblätter gegen TTIP verteilt, nennt sich Mehr Demokratie e. V.
Das Paradoxe ist: TTIP stellt den wohl am durchdemokratisiertesten und transparentesten Vertrag dar, der jemals zwischen zwei Demokratien verhandelt wurde.
Die gewählten Regierungen aller EU-Mitgliedstaaten haben der EU-Kommission den Auftrag gegeben, TTIP zu erarbeiten. Sobald die Verhandler den Wortlaut eines Teiles des TTIP-Abkommens fertiggestellt haben, leiten sie ihn an die Regierungen der EU-Länder, an das direkt gewählte EU-Parlament und an die Öffentlichkeit weiter. Jeder Interessierte kann also die einzelnen TTIP-Kapitel auf der Website der EU-Kommission nachlesen, darüber diskutieren, es kritisieren und dagegen protestieren.
Noch transparenter ginge es wohl nur, wenn die TTIP-Verhandler sich in einem Raum mit Webcam treffen würden und jedes Wort live übertragen werden würde.
Mehr demokratische Kontrolle geht also kaum? Doch, denn die Vertreter des Volkes von Helsinki bis Madrid können nach Ende der Verhandlungen noch einmal darüber abstimmen, ob TTIP umgesetzt werden soll oder nicht. Alle 28 Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und das europäische Parlament entscheiden, ob TTIP kommt oder nicht.
Bis dahin können Aktivisten, Medien und Multiplikatoren als vierte Gewalt der Demokratie auf die Volksvertreter einwirken. Selbst Volksentscheide über TTIP, also eine direkte Beteiligung der Bürger eines EU-Staates, können in den Mitgliedstaaten noch vor den Parlamentsentscheidungen organisiert werden.
TTIP wird also von allen möglichen demokratischen Werkzeugen mehrmals in die Zange genommen. Und da auch die USA in ihrem politischen System den Willen des Volkes berücksichtigen müssen, stellt TTIP, wenn es denn doch noch irgendwann Realität wird, kein Ende der Demokratie, sondern das Gegenteil dessen dar. Wenn zwei Demokratien sich in einem jahrelangen Prozess auf einen Vertrag einigen und sich diesen durch ihre Volksvertreter bestätigen lassen, kann doch eigentlich nur etwas demokratisch Legitimiertes herauskommen.
Umgeht TTIP den deutschen Rechtsstaat?
"TTIP: Deutscher Richterbund lehnt Schiedsgerichte ab", lautete vor wenigen Wochen eine Nachricht auf ZEIT ONLINE. Es kommen deutsche Juristen zu Wort, die keine Notwendigkeit darin sehen, als Teil von TTIP neue Schiedsgerichte einzuführen.
Was in der Nachricht und vielen Anti-TTIP-Flugblättern jedoch fehlt, ist der Zusammenhang, warum es erstens diese neue Art von Schiedsgerichten als Teil von TTIP geben soll, warum es zweitens seit vielen Jahren bereits private Schiedsgerichte gibt und warum drittens ausgerechnet der deutsche Richterbund kein Fan der neuen internationalen Kollegen sein könnte.
Zu den ehrwürdigen deutschen Richtern, die sich im noch ehrwürdigeren Deutschen Richterbund zusammengeschlossen haben: Der Zweck ihres Bündnisses besteht darin, die Interessen ihrer Mitglieder, der deutschen Richter, zu vertreten. Logisch, dass sie neue internationale Gerichte nicht unterstützen.
Diese neuen internationalen Schiedsgerichte, die in TTIP geplant sind, würden es großen Firmen aus den USA erstmals ermöglichen, europäische Regierungen zu verklagen. So der Mythos, der von TTIP-Kritikern fälschlicherweise verbreitet wird. Tatsächlich haben Unternehmen schon seit Langem die Möglichkeit, Schadensersatz von Regierungen zu fordern.
Die EU-Staaten haben mehr als 1.400 bilaterale Investitionsabkommen mit anderen Ländern abgeschlossen.
Dafür dass Firmen aus diesen Ländern innerhalb der EU investieren, bekommen sie die Zusage, nicht anders als einheimische Firmen behandelt zu werden.
Das gilt auch, wenn europäische Firmen im Ausland investieren. So schloss Deutschland schon 1959 ein Investitionsschutzabkommen mit Pakistan ab. Gleiches Recht für alle, vor einem unabhängigen Gericht, das eben deshalb nicht im jeweiligen Land beheimatet sein kann.
Durch TTIP soll das System dieser Schiedsgerichte nun verbessert werden. Angetrieben durch die heftige Kritik schlug die EU-Kommission ein neues System der Schiedsgerichtbarkeit vor. Dieses soll nicht nur bei TTIP, sondern auch bei anderen Handelsabkommen etwa mit Kanada oder Südkorea umgesetzt werden.
Erstmals soll die Öffentlichkeit bei den Anhörungen der Gerichte dabei sein dürfen und Zugang zu allen Unterlagen bekommen. Aus quasi privaten Schiedsgerichten sollen öffentlich zugängliche und transparente internationale Gerichte werden, die kleine und mittlere Unternehmen gegenüber großen multinationalen Konzernen nicht benachteiligen.
Der Einfluss von großen US-Unternehmen dürfte in diesen Gerichten eher geringer sein als bisher. Der Einfluss von ausschließlich deutschen Richtern aber sicher auch. Denn die neuen internationalen Gerichte sollen international besetzt werden.
TTIP: Das Ende?
Neue Autobahn-, Flugzeug-, Seeverbindungen und vor allem Internetleitungen, die den Erdball umspannen, bringen immer mehr Menschen mit immer weniger Aufwand miteinander in Kontakt. Globalisierung ist das Zusammenrücken der Menschheit durch die von ihr erschaffenen neuen Technologien. Das nennt man Fortschritt.
Aufhalten lässt der sich nicht. Ein Effekt dieser gesellschaftlichen Evolution ist das Verschwinden von Grenzen, besonders in der vernetzten digitalen Welt. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, selbst Globalisierungsgegner nutzen ja ihre Vorteile. So wäre ein Unternehmen wie Campact vor zwanzig Jahren ohne das Internet wohl nicht in der Lage gewesen, 150.000 Menschen zu mobilisieren.
Eine Welt, die durch den Wandel der Globalisierung leichter und häufiger gleich an mehreren Enden aus den Fugen gerät, braucht weltweite Regeln und Standards.
TTIP kann der Beginn einer ordnungspolitischen Antwort auf diesen grenzüberschreitenden Wandel sein – wenn er von einer Mehrheit der Bevölkerungen in den USA und der EU unterstützt wird. Danach sieht es aber momentan nicht aus.
TTIP ist Europas Chance, die Globalisierung im Interesse der EU zu steuern. Allerdings herrscht im Diskurs neben allen inhaltlichen Aspekten noch eine Dämonisierung Amerikas vor, die an Stereotype aus der weltweiten Finanzkrise mit einem gierigen amerikanischen Kapitalismus erinnern. Tatsächlich ist die Bankenaufsicht in den USA härter geregelt als in der EU.
Diffuse Sorgen vor einer globalisierten Welt werden dennoch auf die USA projiziert, mit Erfolg.
Obwohl das EU-Parlament schon vor drei Jahren zu Beginn der TTIP-Verhandlungen grundsätzlich klargestellt hat, welchen Ergebnissen es keinesfalls zustimmen wird, haben sich die Ängste darüber verselbstständigt. Auch für die verhandelnde EU-Kommission stehen die EU-Standards bei der Lebensmittelsicherheit, beim Umweltschutz, bei Verbraucher- und Arbeitnehmerrechten nicht zur Disposition. Die Hoheit der EU-Staaten etwa bei Privatisierungen von öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen und Krankenhäuser oder der Kultursubvention soll nicht eingeschränkt werden.
Weder Chlorhühner noch genmanipuliertes Essen sollen durch TTIP vermehrt in die EU gelangen. Nichts davon ist geplant, spielt aber in der Debatte weiterhin eine Rolle. Auch weil Campact und andere Aktivisten mehr Menschen und Medienresonanz erreichen als jene Fakten, die von der EU-Kommission veröffentlicht werden. Wie groß das Medienecho auf die Campact-Kampage schon vor der Großdemo in Hannover ist, kann man auf der Website zur Aktion nachlesen.
Und auch das Ergebnis ist schon messbar: Waren vor der Großdemonstration in Berlin im vergangenen Herbst einer Emnid-Umfrage zufolge noch knapp 50 Prozent der befragten Bundesbürger für TTIP, hat sich diese Zahl der Befürworter danach auf 25 Prozent reduziert.
Wenn am Samstag die Traktorfahrer und Aktivisten durch Hannover gezogen sind und der Plan der Organisatoren ebenso aufgeht, wird TTIP wohl bald keine Unterstützer mehr haben.
Dieser Text erschien zuerst bei ZEIT ONLINE.
Steffen Dobbert