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Rechte Demonstration am 1. September 2018 in Chemnitz.
© Ralf Hirschberger/dpa

Wilhelm Heitmeyer über Kampf gegen Rechtsextremismus: „Ich sehe partielle Blindheit bis hin zu Staatsversagen“

Der Soziologie Heitmeyer befürchtet, dass Teile der Politik noch nicht begriffen haben, wie gefährlich der Rechtsextremismus ist. Seehofer kritisiert er scharf.

17 Jahre lang war Wilhelm Heitmeyer Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Soeben ist sein neues Buch „Rechte Bedrohungsallianzen“ erschienen, in dem er vor der Gefährlichkeit der AfD und der Unterwanderung deutscher Sicherheitsbehörden warnt.

Herr Heitmeyer, nach Krach in der Großen Koalition hat Innenminister Horst Seehofer (CSU) diese Woche noch einmal klargestellt, dass es „keine Rassismusstudie in der Polizei“ geben wird, wohl aber eine Untersuchung des Polizeialltags. Was halten Sie davon?

Entscheidend wird sein, ob ein seriöses Forschungsdesign allein nach wissenschaftlichen Standards entwickelt und extern begutachtet wird. Sonst sind die Wissenschaftler nicht zu beneiden angesichts der Neigungen von Innenministerien, Eingriffe sowohl bei Fragestellungen als auch Interpretationen vorzunehmen. Der Ermittlung der Ausmaße von Rassismus sind angesichts der zur Zeit überhitzten Debatte methodisch enge Grenzen gesetzt – anders sieht es bei den Mechanismen aus.

Zwei Fragen sind wichtig: Welche Personen gehen zur Polizei? Welches Verhalten erzeugen die Risikokonstellationen im Polizeialltag einschließlich rassistischer Grenzüberschreitungen?

Seit Monaten sträubt sich Seehofer gegen eine unabhängige Polizeistudie – trotz zahlreicher aufgeflogener Chatgruppen, rechtsradikaler Verdachtsfälle und auffälliger Adressabfragen von Polizeicomputern...

Dafür habe ich kein Verständnis. Jede Gesellschaft hat ein Recht darauf zu wissen, was in den Institutionen vor sich geht, die sie selbst mit dem Gewaltmonopol, mit Macht und Waffen ausgestattet hat. Eine solche Abschottung sollte sich keine Gesellschaft bieten lassen.

Diesen Monat hat der Minister allerdings einen Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vorgestellt. Dort sind 319 rechtsextreme Verdachtsfälle in den eigenen Reihen aufgeführt.

Ein reines Ablenkungsmanöver. Die 319 Fälle sind doch nur das Hellfeld – die waren schon aufgedeckt. Selbst der Verfassungsschutz sagt, dass es aufs Dunkelfeld ankommt. Für dieses Lagebild wurde auch nichts untersucht, es gab nur eine Abfrage bei den Innenministerien der Länder. Neu sind derartige Ablenkungsmanöver allerdings nicht.

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Seehofer argumentiert, er verwahre sich gegen einen Generalverdacht gegen die Polizei.

Das ist ein weiteres Ablenkungsmanöver, oder besser: ein Immunisierungsversuch gegen jede Kritik. Ich kenne keine einzige ernstzunehmende Stimme, die einen Generalverdacht ausspricht. Der Minister verwahrt sich also gegen ein Argument, das überhaupt niemand anführt – und möchte so eine echte Diskussion verhindern. ich kann bei ihm kein Interesse an der Sache erkennen, nur ein politisches Entlastungsinteresse. Seehofer und seine Juristen scheinen immer neue Varianten zu erfinden, um Verzögerungen zu erreichen. Dadurch schützt der Verfassungsminister nicht die Polizei. Er erzeugt Misstrauen.

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) machte kürzlich die Existenz des Polizei-Forums „net4cops“ öffentlich, in dem sich bundesweit 770 Beamte vernetzt hatten. Neun von ihnen verbreiteten darin rechtsradikale Inhalte, 761 Polizisten ließen es lange geschehen. Was sagt Ihnen das?

Die interne Kritikbereitschaft ist gering, gerade jüngere Polizisten müssen fürchten, dass sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, auf die sie in Einsätzen und anderen gefährlichen Risikokonstellationen unbedingt angewiesen sind. So entsteht ein hoher Konformitätsdruck. Das Nichteinschreiten ist auch das Ergebnis von Normalisierungsprozessen. Was als normal gilt, kann man ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisieren.

Solche Prozesse sind natürlich auch in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft erkennbar – Normalitätsstandards verschieben sich.

Wilhelm Heitmeyer, 75.
Wilhelm Heitmeyer, 75, forscht seit Jahrzehnten zu Rechtsextremismus.
© Nele Heitmeyer

Wie schlägt sich der Rechtsstaat im Kampf gegen Rechtsextremismus außerhalb der eigenen Reihen?

Ich sehe dort partielle Blindheit bis hin zu Staatsversagen. Letzteres betrifft etwa den Verfassungsschutz, jedenfalls bis zur Ablösung von Hans-Georg Maaßen. Unter seinem Nachfolger Thomas Haldenwang weht spürbar ein anderer Wind, der ist auch dringend notwendig.

„Ich fürchte, dass Teile der Politik immer noch nicht begriffen haben, wie gefährlich die Situation inzwischen ist“

In Ihrem neuen Buch „Rechte Bedrohungsallianzen“ sprechen Sie zudem von „moralischem Versagen“.

Das besteht darin, dass der Staat seine Aktivitäten gegen Rechtsextremismus erst deutlich gesteigert hat, als mit Walter Lübcke im Juni vergangenen Jahres ein Politiker, ein prominenter Vertreter des Staates, ermordet wurde. Aber die vielen Menschen, die schon vorher getötet worden sind, etwa durch den NSU, diese Menschen sind auch prominent, für ihre Familien und Freunde. Und es ist kaum etwas passiert.

Das heißt, der Staat ist jetzt aufgewacht?

Ich fürchte, dass Teile der Politik immer noch nicht begriffen haben, wie gefährlich die Situation inzwischen ist. Es gibt eine Ausdifferenzierung und Dynamisierung von Gruppen bis zur erhöhten Terrorfähigkeit. Das gesamte rechte Spektrum ist in die Offensive gegangen.

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Wie dieses Spektrum zusammenhängt und was es so gefährlich macht, verdeutlichen Sie anhand eines Modells. Sie nennen es „Konzentrisches Eskalationskontinuum“, und der AfD kommt darin große Bedeutung zu.

Man kann sich das Modell wie eine Zwiebel vorstellen mit verschiedenen Schalen, die durch Legitimationsbrücken und eine gemeinsame Ideologie der Ungleichwertigkeit verbunden sind. Die äußerste Schale sind die Einstellungen in der Bevölkerung – die Diskriminierungen etwa von Muslimen, Juden, Homosexuellen oder Frauen. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird in der nächsten Schale, vor allem vom Autoritären Nationalradikalismus der AfD, in Parolen formuliert und auf die politische Ebene gebracht.

Damit legitimiert sie wiederum das systemfeindliche, rechtsextremistische Milieu, die nächstinnere Schicht. So setzt sich das fort, am Ende stehen die tatsächlichen Vernichtungstaten durch einzelne Täter oder Gruppen. Wobei der viel benutzte Begriff des Einzeltäters natürlich in die Irre führt und wiederum das Problem relativiert. Diese Täter bewegen sich in Gesinnungsgemeinschaften.

Die AfD ruft aber doch nicht öffentlich zu Gewalt auf. Also hat sie diese auch nicht zu verantworten, oder?

Deshalb heißt es ja Eskalationskontinuum. Die AfD spielt darin eine ganz wichtige Rolle, weil sie durch die Repräsentanz in den Parlamenten und der Öffentlichkeit mit Begriffen wie „Umvolkung“, „großer Austausch“ oder „Untergang des deutschen Volkes“ operiert. Damit werden Opferrollen und ein Widerstandsrecht bei rechtsextremistischen Tätern legitimiert – ohne dass die Propagandisten innerhalb der Partei dafür belangt werden können.

"Rechte Bedrohungsallianzen" ist gerade bei Suhrkamp erschienen.
"Rechte Bedrohungsallianzen" ist gerade bei Suhrkamp erschienen.
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Der ehemalige Pressesprecher der Bundestagsfraktion, Christian Lüth, wurde mit versteckter Kamera dabei gefilmt, wie er sagte, man solle aus strategischen Gründen mehr Migranten ins Land lassen, die könne man später erschießen oder vergasen.

So jemand produziert Bilder und Aufforderungen, die – um im Modell zu bleiben – von den inneren Zwiebelschichten als Legitimation verwendet werden können. Und Lüth war nicht irgendein Kommunalpolitiker, sondern er hatte eine zentrale Position, auch ein Vertrauensverhältnis zum Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland. Je prominenter die Person ist, desto wirksamer sind auch die Legitimationen zur Gewaltanwendung durch rechtsextremistische Akteure.

Die Legitimationsbrücken sorgen übrigens zum Verschwimmen von Grenzziehungen zwischen den einzelnen Schichten: Beispielhaft waren dafür die Demonstrationen 2018 in Chemnitz anlässlich der Tötung des Deutsch-Kubaners Daniel H. Alle im Eskalationskontinuum vorhandenen Gruppen waren dort gemeinsam auf der Straße.

Sie warnen seit Jahren vor einer Erosion von Brandmauern, also der Gefahr, dass die Abgrenzung der demokratischen Parteien gegenüber dem rechten Spektrum verschwimmt. Haben Sie sich bestätigt gefühlt, als sich der Thüringer FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich im Februar mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen ließ?

Ich hätte nie gedacht, dass das Verschwimmen von Grenzen so schnell die Systemebene, sprich die Parlamente, erreicht. Dass sich machtgierige demokratische Parteien, in diesem Fall FDP und CDU, schon jetzt so verhalten, das hielt ich nicht für möglich.

„Ich habe noch nie davon gehört, dass es linksextreme Kameradschaften oder Chatgruppen bei Polizei und Bundeswehr gibt“

Der Fokus Ihrer Arbeit liegt seit vielen Jahren auf der Beschäftigung mit Rechtsextremismus. Was ist denn bitte mit dem Linksextremismus?

Die sogenannte Hufeisentheorie, wonach sich Links- und Rechtsextremismus im Grunde nicht unterscheiden, teile ich überhaupt nicht. Gewalt bleibt natürlich Gewalt, sie ist immer zerstörerisch. Aber sowohl die Ziele als auch die Quantität von Links- und Rechtsextremismus haben ganz andere Dimensionen, auch was das Eindringen in die Sicherheitsinstitutionen angeht. Ich habe noch nie davon gehört, dass es linksextreme Kameradschaften oder Chatgruppen bei Polizei und Bundeswehr gibt. Das sind dramatische Unterschiede.

In Sachsen war die Hufeisentheorie jahrzehntelang Grundlage von Sicherheitspolitik.

Wenn man gemäß dieser Theorie, die ich für falsch halte, sein politisches Handeln ausrichtet, führt das zu einer Unterschätzung des Rechtsextremismus. Das finde ich außerordentlich gefährlich, auch was die Zustände in Sachsen angeht. Ich weiß gar nicht, wo man die Empirie herbekommen soll, um diese Theorie angemessen zu begründen.

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