Claudia Roth im Interview: „Ich schenke den Hetzern und Hassern nicht meine Angst“
Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth wirft AFD-Abgeordneten Sexismus im Parlament vor. Auch im Netz nähmen die Angriffe auf Frauen zu. Ein Interview.
Über Claudia Roth hat fast jeder eine Meinung: Sie ist eine Politikerin, die stark polarisiert. Für die Grünen zog sie 1989 ins Europäische Parlament ein. Von dort wechselte sie 1998 in den Bundestag, im selben Jahr wurde sie zum ersten Mal Grünen-Chefin. Mit einer Unterbrechung hatte sie dieses Amt bis 2013 inne. Seitdem ist die heute 63-Jährige Vizepräsidentin des Bundestages.
In den 80er Jahren war Claudia Roth Managerin der Rockband Ton Steine Scherben um Rio Reiser („Keine Macht für Niemand“). Deren Texte zitiert sie heute noch gelegentlich. Zuvor hatte sie als Dramaturgin gearbeitet.
In Berlin ist der Frauentag zum ersten Mal ein Feiertag. Gibt es in diesem Jahr Grund zum Feiern für Frauen in Deutschland?
Es ist gut, dass das jetzt ein Feiertag ist, denn es setzt ein Zeichen für die überfällige Gleichstellung von Mann und Frau. Trotzdem dürfen wir uns nicht hinsetzen und sagen, dass alles in Ordnung wäre. Es gibt noch viel zu erkämpfen. Wir müssen uns dringend mit der strukturellen Diskriminierung von Frauen in unserer Gesellschaft und in Europa auseinandersetzen.
Was heißt das konkret?
Wenn in diesem reichen Land beispielsweise nach wie vor gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit nicht gewährleistet ist, dann haben wir ein Problem. Diese tiefliegenden, strukturellen Formen der Diskriminierung sind wie eine offene Wunde für unsere Gesellschaft. Wir können uns an diesem Feiertag also nicht auf bisherigen Errungenschaften ausruhen, weil wir noch längst nicht auf Augenhöhe angekommen sind. Altersarmut ist vor allem weiblich, besonders von Armut betroffen sind alleinerziehende Frauen. Zugleich haben wir die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten. Frauen machen im Schnitt die besseren Abschlüsse an Schulen und Universitäten. Aber dann passiert etwas, irgendwann stoßen sie an die gläserne Decke. Und das kann einfach nicht angehen. Ein Land wie Deutschland kann es sich nicht leisten, auf die Kompetenz von Frauen derart zu verzichten. Kein Grund zum Feiern war auch die Debatte rund um den Paragraphen 219a.
Warum?
Es ist 2019 und der Staat meint immer noch, über den Körper von Frauen bestimmen zu müssen. Ich finde es extrem bedauernswert und nicht akzeptabel, dass der Generalverdacht gegen Frauen beim Thema Abtreibung immer noch strafrechtlich forciert wird. Der gefundene Kompromiss um Paragraf 219a geht weiter auf Kosten der Frauen und wohl auch zu Lasten der Ärztinnen und Ärzte. Es ist traurig, dass man den Frauen in einer Krisensituation nicht das Selbstbestimmungsrecht überlässt und sie weiterhin bevormundet.
Als 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland gefeiert wurden, sagte Angela Merkel: „Das Ziel muss Parität sein, Parität überall.“ Hat Sie das überrascht?
Ja, aber es hat mich auch geärgert. Ich glaube, sie ist nicht erst seit Kurzem dieser Meinung. Sie hätte das durchaus schon früher sagen können. Sowieso hätte ich mir gewünscht, dass sie bei vielen Themen stärker die Perspektive von Frauen einnimmt. Immerhin hat sie in ihrer eigenen Partei erlebt, was es bedeutet, wenn die Zahl der weiblichen Abgeordneten massiv zurückgeht. Damit kann sie nicht zufrieden sein. Deshalb: Gut, dass sie als amtierende Kanzlerin nun deutlichere Worte findet. Aber es kommt spät.
Um Parität per Gesetz zu erreichen, werden derzeit zwei Modelle, diskutiert: Entweder die Parteien müssen auf ihren Wahllisten genauso viele Frauen wie Männer aufstellen – oder in allen Wahlkreisen werden künftig zwei Direktmandate vergeben, eines für einen Mann, eines für eine Frau. Welches Modell bevorzugen Sie?
Am einfachsten wäre es, wenn sich die anderen Parteien zunächst am Modell der Grünen orientieren würden, der parteiinternen Quotenregelung bei Listenaufstellungen. Dieses Modell mag nur ein erster Schritt sein – aber zumindest wäre es schnell umsetzbar und verfassungskonform. Ziel muss es sein, dem eklatanten Fehlen von Frauen in vielen Debatten endlich etwas entgegenzusetzen. Der Bundestag hat derzeit einen Frauenanteil von nur 31 Prozent. Das ist auch im Vergleich mit anderen Ländern viel zu wenig.
Was würde sich denn ändern, wenn die Hälfte der Mandate an Frauen gehen? Würde sich überhaupt etwas ändern?
Absolut! Wir Grüne haben die Erfahrung gemacht, dass die Quote eben nicht nur eine numerische Größe ist. Wenn du Frauen nicht nur zählst, sondern dafür sorgst, dass sie etwas zählen – dann bringt das eine radikale Veränderung von Perspektiven mit sich. Frauen im Verteidigungsausschuss beispielsweise haben einen ganz anderen Blick auf Konflikte und Kriege, Männer im Familienausschuss eine andere Sicht auf die Elternzeit. Ob in Politik, Forschung oder Wissenschaft: Wer nur die eine Perspektive einnimmt, nur eine Norm setzt, bildet die Realität einseitig ab – mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Feminismus ist längst nicht mehr lila Latzhose, sondern ein Ansatz, um alle gesellschaftlichen Bereiche und die Politik diverser und gerechter zu machen.
Wählerinnen und Wähler können doch selbst entscheiden, ob sie für Parteien stimmen wollen, die nur wenige Frauen aufstellen. Braucht man überhaupt ein Gesetz?
Wo strukturelle Benachteiligung herrscht, reicht Freiwilligkeit in der Regel nicht aus. Zumal kaum jemand seine Entscheidung an der Wahlurne am Frauenanteil ausmachen dürfte. Wenn die Parteien sich also freiwillig nicht wandeln, obwohl es gesellschaftlich wünschenswert wäre, ist eine gesetzliche Regelung selbstverständlich ein richtiger Schritt, um die Repräsentanz und Qualität von Politik insgesamt zu steigern.
Was sagen Sie denjenigen, die eine mögliche gesetzliche Regelung der Parität im Bundestag nur für ein weiteres Beispiel staatlicher Bevormundung halten?
In Artikel 3 des Grundgesetzes steht: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Im Grundgesetz steht im Übrigen auch nicht: Die Würde des „männlichen“ Menschen ist unantastbar. Parität ist deshalb keine Bevormundung, sondern Grundgesetztreue. Da bin ich ganz klar Verfassungsschützerin.
Solche Themen scheinen allerdings in der deutschen Gesellschaft wieder stärker zu polarisieren. Woran liegt das?
Es wird eine systematische Stimmungsmache betrieben. Völkisch-nationalistisches Denken wird gezielt mit Sexismus und Frauenhass vermengt. Da brauchen wir gar nicht nach Brasilien zu Bolsonaro zu gucken oder zu Putin nach Russland, wo häusliche Gewalt nun entkriminalisiert ist. Beispiele gibt es auch in Ungarn oder in Österreich, wo der Begriff „Gender“ zum Reizwort umgedeutet wurde. Und so manche Debatte um 219a in Deutschland hat gezeigt, dass auch wir auf einem gefährlichen Weg sind.
Wenn Sie als Vizepräsidentin im Bundestag eine Debatte leiten, bekommen Sie dann andere Dinge zu hören als Männer?
Das ist schwer zu sagen, weil ich keinen Vergleich habe. Als aber kürzlich im Bundestag über den grünen Antrag zu einer feministischen Außenpolitik diskutiert wurde, hat sich einmal mehr gezeigt, wie gezielt das Gleichstellungsthema bisweilen instrumentalisiert wird. Ich habe zu Beginn der Debatte präsidiert. Statt nun zur Sache zu reden, hat mich Petr Bystron von der AfD immer wieder persönlich angegriffen – mit den abstrusesten Vorwürfen und Behauptungen, obwohl ich gerade die Sitzung geleitet habe.
Wie reagieren Sie in einem solchen Fall?
Ich hatte alle Mühe, zu verhindern, dass der Abgeordnete mir einen Dialog aufzwingt. Wer im Bundestag redet, spricht zur Sache und zu den Wählerinnen und Wählern. Persönliche Angriffe oder Zwiegespräche mit der Sitzungsleitung, gleich wer da gerade sitzt, haben im Parlament nichts zu suchen. Viele Kolleginnen und Kollegen waren schockiert. Wir werden den Vorfall nun im Ältestenrat des Bundestags zum Thema machen. Wenigstens das. Dieses Haus hat eine lange Tradition politischer Kultur. Und die gilt es, zu verteidigen. Auch gegen den Sexismus, den wir im Bundestag vermehrt erleben.
Wie äußert sich das im Parlament?
Ein Abgeordneter der AfD stellte sich mal ans Rednerpult und rief mit Blick auf den Stuhl der Kanzlerin: „Wer keine Eier hat, sollte nicht regieren.“ In einer Debatte über das Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration fühlten sich zwei Abgeordnete – einer AfD, einer inzwischen ausgetreten – bemüßigt, über ihre eigene Potenz zu sprechen. Hinzu kommt eine permanente Häme gegen Frauen, eine Reduzierung auf klischeehafte Zuschreibungen, Verächtlichmachung – aus den Reihen einer Fraktion, in der gerade einmal zehn Prozent weiblich sind. Im Bundestag haben wir immer miteinander gestritten, aber so etwas hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Hier wird versucht, offenen Sexismus wieder hoffähig zu machen. Manch einer findet das lustig oder nebensächlich, mit dem Hinweis, im Bierzelt ginge es nicht anders zu. Der Bundestag ist aber kein Bierzelt.
Ein Raum, in dem die pauschale Abwertung von Frauen massiv ausgelebt wird, ist das Internet. Frauen sehen sich im Netz mit viel mehr Hass und persönlichen Angriffen konfrontiert als Männer. Wahrscheinlich gibt es in Deutschland wenige Frauen, denen dieser Hass so massiv entgegenschlägt wie Ihnen. Wie erleben Sie das?
Es war immer schon so, dass Frauen in der Politik die blödesten Leserbriefe bekommen haben. Aber das ist nicht vergleichbar mit dem, was jetzt passiert. Frauen werden ganz massiv eingeschüchtert und mit sexualisierten Gewaltfantasien konfrontiert. Wir veranstalten ab und an „Hate Slams“, bei denen wir Grüne unsere Hasspost vorlesen. Es zeigt sich immer wieder, dass auch Männer böse Zuschriften erhalten. Die körperliche Komponente aber kommt in den Briefen an die Männer kaum vor. Frauen dagegen bekommen Mails, in denen beispielsweise ihr Körper als hässlich, fett und verkommen beschrieben wird. Von den Vergewaltigungs- und Misshandlungsdrohungen ganz zu schweigen.
Seit wann erhalten Sie diese Hass-Mails?
In der Form hat das mit dem Beginn der Pegida-Bewegung angefangen. Deren Gründer Lutz Bachmann hat ja auf Twitter gefordert, die erste, die „standrechtlich erschossen“ gehöre, sei Claudia Roth. Da wurde der Ton gesetzt, dem viele seither bereitwillig folgen.
Sind das anonyme Schreiben, oder werden sie mit Namen unterzeichnet?
Früher waren die Mails und Briefe anonym, jetzt unterschreibt da auch mal ein Professor Doktor. Das gibt mir die Möglichkeit, Anzeige zu erstatten, und das tue ich auch.
Was passiert dann?
Lange passierte gar nichts. Die Staatsanwälte haben argumentiert, die Drohungen seien ja im Konjunktiv verfasst: könnte, müsste, sollte entsorgt werden. Ein Berliner Richter hat dann aber vor einiger Zeit entschieden, auch wenn keine direkte Drohung vorliege, könnte sie von Dritten als Aufruf verstanden werden. In einem Facebook-Kommentar hatte jemand gefordert, mich „aufzuhängen“. Der Verfasser musste 4800 Euro zahlen.
Hat es eine abschreckende Wirkung, wenn eine solche Strafe bekannt wird?
Ja, danach war es ein paar Wochen ruhiger. Manche Verfasser haben sich auch später entschuldigt – nachdem sich die Polizei bei ihnen gemeldet hatte.
Wie gehen Sie ganz persönlich mit diesem Hass um, und wie halten Sie das aus?
Vor den schlimmsten Sachen werde ich geschützt, das lesen meine armen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch für sie ist das oft schwer zu ertragen. Wenn ich Anzeige erstatte, heißt das für mich: Ich ziehe mich nicht zurück, ich wehre mich. Bei meinem ersten „Hate Slam“ dachte ich, ich könnte das überhaupt nicht laut vorlesen. Der ganze Körper fing an zu zittern, weil ich dachte: Was passiert mit den Menschen, die sich das anhören? Dann habe ich gemerkt, dass es fast das beste Mittel ist, mit diesem Hass umzugehen. Und es mobilisiert die Menschen. Viele wissen gar nicht, womit manche Frauen konfrontiert sind.
Nehmen die Hassattacken zu, wenn Sie öffentlich sagen, dass Sie das trifft?
Wenn ich einen Panzer um mich herum bauen würde, wäre ich nicht mehr ich selbst. Den Triumph gönne ich niemandem. Natürlich tut es manchmal weh, natürlich ist es nicht angenehm, immer und immer wieder beschimpft und mit denselben Lügen verhetzt zu werden. Aber eines wird nicht passieren: Ich schenke den Hetzern und Hassern nicht meine Angst. Nicht um alles in der Welt. Genau das ist doch ihr Ziel: Sie wollen dir Angst machen. Sie wollen, dass du überlegst: Kann ich das jetzt noch so sagen, oder kommt dann die nächste Welle? Aber nicht mit mir!
Was raten Sie jungen Frauen, die neu in der Politik sind und sich zum ersten Mal mit solchen Angriffen konfrontiert sehen?
Ich rate ihnen, sich nicht zurückzuziehen, sondern Unterstützung einzufordern. Solidarität hilft. Wir müssen zeigen, dass wir Demokratinnen und Demokraten gegen diesen Hass zusammenhalten. Und genau das tun wir.
Das Gespräch führte Claudia von Salzen. Das Foto machte Thilo Rückeis.