Parität und Reform des Wahlrechts: Demokratischer wird es nicht
Paritätsforderungen machen die Reform des Wahlrechts nicht einfacher. Und könnten dazu beitragen, dass wir ein schlechteres Wahlsystem bekommen. Ein Kommentar
Wer die Wahl hat, hat die Qual. Erst recht gilt das für jene, die eine Wahlrechtsreform machen müssen. Seit Jahren tut sich der Bundestag sehr schwer damit, das aus dem Lot geratene System der personalisierten Verhältniswahl zu retten. Über Jahrzehnte hat es funktioniert. Mit den Veränderungen im Parteiensystem und der geschrumpften Dominanz der Volksparteien CDU, CSU und SPD ist das vorbei. Die Größe des Bundestags ist sozusagen unbeherrschbar geworden. Wegen Überhängen und Ausgleichsmandaten kann er weit über seine Mindestgröße von 598 Mandaten hinauswachsen. 709 Abgeordnete hat er jetzt. Es können auch 800 und mehr werden.
Die Fraktionen wollen das gemeinsam ändern, das steht fest. Aber das "Wie?" ist nicht klar. Und es ist nicht einfacher geworden, seit das eine Ziel – Verkleinerung des Bundestags bei einer einigermaßen festen Größe – verknüpft wurde mit dem neuen Ziel, eine Geschlechterparität im Bundestag zu erreichen. Ob ein Paritätsgesetz verfassungskonform ist, darüber streiten die Gelehrten. Das bayerische Verfassungsgericht hat vor einem Jahr Geschlechterparität per Gesetz zurückgewiesen. Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns in Karlsruhe muss einkalkuliert werden. Ob aus der Reformerrunde um Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schon an diesem Mittwoch weißer Rauch aufsteigt, ist unsicher.
Zweierlei irritiert an der Debatte
Zweierlei irritiert an der aktuellen Wahlrechtsdebatte. Zum einen werden beständig die Begriffe Gleichberechtigung und Gleichstellung vermischt. Zum anderen gibt es einen deutlichen Trend zur Entpersonalisierung der Wahl.
Zum ersten Punkt: Das Grundgesetz verlangt ganz generell, dass der Gesetzgeber die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ fördert. Gleichberechtigung aber ist beim aktiven wie beim passiven Wahlrecht tatsächlich gegeben. Niemand zweifelt das an. Die Gleichstellung aber, und darum geht es beim Paritätsverlangen, fordert die Verfassung nicht. Es ist auch gar nicht klar, woran diese sich vernünftigerweise orientieren soll. Am Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft, also etwa fifty-fifty? Oder an den tatsächlichen Geschlechterverhältnissen in der Mitgliedschaft der Parteien? In denen sind Frauen überall in der Minderheit. Man könnte also auch so verfahren wie bei Wahlen zu Betriebsräten, in denen das Geschlecht, das in der Firma in der Minderheit ist, mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis vertreten sein muss. Von dieser Parität aber sind wir im Bundestag gar nicht so weit entfernt.
Zum zweiten Punkt: Parität im Parlament ist in der Variante der personalisierten Verhältniswahl, die derzeit noch gilt, nicht leicht zu realisieren – wegen der Abstimmung in Wahlkreisen, in denen den Siegern oder Siegerinnen garantierte Direktmandate zustehen. Eine Quotierung von Landeslisten per Parteisatzung ist leicht machbar, eine Quotierung von Direktkandidaturen schneidet tief in das basisdemokratische Prinzip ein, dass lokale Parteiverbände ihre Wahlkreiskandidaten selbst bestimmen dürfen und sollen. Der Versuch, das Problem über eine drastische Verringerung der Zahl der Wahlkreise und Zweierkandidaturen der Parteien – je ein Mann, eine Frau – zu lösen, stößt allerdings an Grenzen. Und ist mutmaßlich verfassungswidrig.
Schritt zur reinen Verhältniswahl
So landet man schnell bei der Forderung, doch ein reines Verhältniswahlrecht zu schaffen, nur noch mit Listen, ohne Wahlkreise, ohne Personalisierung. Manchen gilt die reine Verhältniswahl ohnehin als besonders gerechte Variante, und die Paritätsforderung wirkt hier wie ein Mittel zum Zweck. Die reine Verhältniswahl ist aber ein schlechtes System. Sie dient weitgehend den Interessen von Parteiführungen. Sie erreichen damit viel eher eine Zusammensetzung ihrer Fraktionen, die ihren Wünschen entspricht. Mit Parteitagsregie ist das leicht machbar. Und mit vielfältiger Quotierung nach Geschlecht, Region, Parteiflügel und so weiter, lässt sich der parteiinterne demokratische Wettbewerb noch enger begrenzen.
Was dann völlig fehlen würde, wäre das basisdemokratische Gegengewicht, das die Wahl in überschaubaren Räumen darstellt. Also in den 299 Wahlkreisen, die derzeit fast nach Belieben zur Disposition gestellt werden. Reichen vielleicht auch 120, 150, 200, 240? Es geht da wild durcheinander. Der Vorteil von kleinen Wahlkreisen ergibt sich auch, wenn man keine Mehrheitswahl damit verbindet. Denn sie sichern eine sehr breite regionale Repräsentation und die Bindung von Parlamentariern an ein überschaubares, wahrnehmbares Wahlvolk.
Wahlkreise bedeuten mehr Basisdemokratie
Zwar kann es auch in Wahlkreisen Cliquenwirtschaft geben, aber die direktere Bindung an Basisgremien und Bürgernähe im Vergleich zu einer reinen Verhältniswahl mit Landeslisten (oder, ein schrecklicher Gedanke) Mega-Bundeslisten ist ein gutes Mittel gegen das Phänomen der Abgehobenheit von Politikern. Auch ist die Unabhängigkeit von Abgeordneten, die ihr Mandat einem persönlichen Wahlergebnis verdanken, größer als die von Abgeordneten, die ihren Sitz über eine quotierte Liste bekommen, welche in kleinen Parteigremien ausgekungelt wird. In Wahlkreisen lässt sich der Wettbewerb um Kandidaturen leicht organisieren. Listenparteitagen ist der Wettbewerb fremd, wenn dort die Quote herrscht.
Kurzum: Eine Reform, die Wahlkreise in größerem Umfang abschaffen und über eine Paritätsvorgabe noch zusätzlich zur Entpersonalisierung beitragen würde, macht das Wahlrecht nicht unbedingt demokratischer. Einem Mehr an Parteiendemokratie stünde ein Weniger an Bürgerdemokratie gegenüber.
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