Köln und die "enthemmte Meute": Ich, nur ich, und kein Wir
Enthemmung und Gewalt, Betrug und Hochstapelei, Selbst- und Fremdentblößung sind Symptome einer grassierenden Schamlosigkeit. Ein Gastbeitrag
In der Silvesternacht versammelten sich auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz viele Menschen. Einige Männer warfen zunächst Feuerwerkskörper in die Menge, umzingelten gezielt Frauen, bedrängten, begrapschten und bestahlen sie. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kommentierte: „Das war eine enthemmte Meute“. Enthemmt ist, wer sich nicht mehr im Griff hat, wer seine Impulse nicht kontrollieren kann, wer sich absolut setzt und damit das Lebensrecht seiner Mitmenschen ignoriert; enthemmt ist vor allem, wer bei seinem Tun und Lassen das Gefühl der Scham verloren hat.
Enthemmt geht es derzeit vor allem in der sogenannten „Flüchtlingsfrage“ zu. Nicht nur verbal. Flüchtlinge sind zunehmend Brandanschlägen, Verfolgungen und Drohungen ausgesetzt. Menschen, die ihre Heimat in fürchterlichen Kriegen verlassen mussten, denen nichts geblieben ist, die ihr armseliges Leben auf Flüchtlingsbooten ein weiteres Mal riskieren mussten, werden nun von Wohlstandsverbrechern terrorisiert.
Betrug, geistige Hochstapelei und psychischer Striptease
Die Beispiele für eine grassierende Schamlosigkeit müssen aber gar nicht so hoch angesiedelt sein; sie zeigen sich auch im kleinen - vielleicht dort sogar noch deutlicher. Zum Beispiel: Studierende lassen ihre Arbeiten immer öfter von Ghostwritern schreiben. Das ist Betrug und geistige Hochstapelei. Oder: Hausbesitzer setzen die Miete für ihre Wohnungen genau so hoch an wie die Sozialhilfe-Limiten sind. Damit verdienen sie Millionen – obwohl die betreffenden Liegenschaften häufig verkommen und verwahrlost sind.. Schamlos ist auch die zunehmende Selbstentblößung - die physische wie die psychische. Pornographie – einst verpönt und sanktioniert – ist in den vergangenen Jahren salonfähig geworden. Auch der psychische Striptease, bei dem diverse Promis – meist drittrangiger Qualität – „tief“ in ihre Seele blicken lassen.
Besonders widerwärtig ist die Schamlosigkeit derer, die sich als Wohltäter und Moralisten ausgeben, von ihren Mitmenschen immer wieder und ganz strikt die Einhaltung von Recht, Ordnung und Sitte verlangen, und das Eingeforderte allesamt selber brechen. Alice Schwarzer - mit ihrer Steuerhinterziehung in Millionenhöhe - ist ein Beispiel. Oder der deutsch-amerikanische Milliardär Berggruen, der 2010 den insolventen Karstadt-Konzern für den symbolischen Preis von einem Euro übernommen hatte. Sein Versprechen damals: Arbeitsplätze, Sanierung und Modernisierung der traditionsreichen Kaufhäuser. Statt zu investieren, forderte er, dass sich das Kaufhaus aus eigenen Mitteln sanieren müsse; er selbst sog über die Markenrechte jedes Jahr Millionen aus dem Konzern ab. Oder Sepp Blatter, der jederzeit und aller Orten den Ehrenmann mimt, und dabei den Weltfußball-Verband Fifa zu einer Allmachts- und Korruptionszentrale umgebaut hat, vor der sogar jeder Mafioso ehrfürchtig den Hut zieht.
Ich, ganz ausschließlich, und gar nicht mehr Wir.
Man muss aber nicht auf die Berggruen, Schwarzer, Blatter und Co. rekurrieren. Beispiele für die grassierende Schamlosigkeit gibt es überall – unbeschränkt und ubiquitär: illegale Waffenexporte, Profite mit verdorbenen Lebensmitteln, Tierquälerei, Enthemmung im Internet. Wenn wir unsere Antennen ausfahren, kann jeder von uns täglich eine Portion Schamlosigkeit erleben. In der vergangenen Woche fuhr ich im Tram in die Stadt. Nach drei Stationen stieg ein etwa 35-jähriger Mann ein, setzte sich auf die hinterste Bank und dröhnte seine Umgebung mit superlauter Musik voll. Ich wies ihn daraufhin, dass er sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel und nicht in seiner Stube befände. Null Reaktion. Keiner der Umsitzenden unterstützte mich – alle schauten weg, obwohl sie sich zuvor über die laute Musik aufgeregt hatten. Als der Mann das Tram verließ, verabschiedete er mich als „Arschloch“ und erklärte, dass er überall und immer mache, was er wolle. Die Welt sei seine Welt. Genau das veranschaulicht das Problem: Ich, ganz ausschließlich, und gar nicht mehr Wir.
Als Kinder werden wir von unseren Eltern erzogen. Die Sozialwissenschaften nennen das die „primäre Sozialisation“. Dabei lernen wir, dass es außer uns auch noch andere Menschen gibt. Wir lernen, dass auch diese anderen Menschen ihre berechtigten Bedürfnisse haben und dass wir diese Bedürfnisse so respektieren müssen wie die anderen Menschen die unsrigen. Geregelt wird dieser Umgang von Normen und Werten, von Regeln und Gesetzen, von Sitten und tradierten Gebräuchen. Das alles wird uns schon als Kind vermittelt - sukzessive, aber eindringlich. In seinem soziologischen Klassiker „Die einsame Masse“ schreibt David Riesman von “einem seelischen Kreiselkompass“, der, wenn er einmal von den Eltern in Gang gesetzt ist, später auch die Signale von anderen aufnehmen kann. Riesman nennt das den „innen-geleiteten Menschen“. Verstößt man gegen das so Gelernte, stellt sich automatisch Scham ein. Man pflegt zu erröten, in einem pocht unangenehm das, was wir landläufig Gewissen nennen, und der Blutdruck steigt.
Der Einzelne wird von der Humanität abgebracht
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich menschliche Wirklichkeiten in einem dramatischen Maße verändert.
Kulturphilosophisch orientierte Autoren wie Karl Jaspers und Albert Schweitzer oder – in unseren Tagen - Richard Sennett und Zygmunt Bauman haben darauf schon seit längerem aufmerksam gemacht. Bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts diagnostizierte Albert Schweitzer in seiner Schrift „Der heutige Mensch“: „Es hat sich eine Mentalität der Gesellschaft herausgebildet, die die einzelnen von der Humanität abbringt. Die Höflichkeit des natürlichen Empfindens schwindet. An ihre Stelle tritt das (...) Benehmen der absoluten Indifferenz“. Kurz gefasst: Ich-gesteuert statt innen-geleitet. „Innen-geleitet“ hatte immer auch den anderen Menschen mitgedacht, sein Daseinsrecht, seine Bedürfnisse und berechtigten Erwartungen. „Ich-gesteuert“ hingegen ist rein eigennütziges Kalkül, nicht nur selbstbezogen, sondern selbstherrlich, durchsetzig gegen andere, pur rücksichtslos.
Alles ist möglich - tut uns das gut?
Diese Veränderung ist nicht einfach vom Himmel gefallen; an ihr ist eine gesellschaftliche Dynamik beteiligt, die soziologisch im Begriff der „Individualisierung“ erfasst wird. Damit gemeint ist, dass das Leben von Frauen und Männern aus weiland gott- oder gesellschaftsgesetzten Umständen „befreit“ ist. Zwänge, wie sie früher bestanden, haben sich aufgelöst und uns in die alleinige Verantwortung für unser Leben geworfen. Religiöse Determinationen, soziale Bestimmungen, Standesschranken, Milieugrenzen, Traditionen und eingrenzende Wertvorstellungen sind zusammengebrochen. Damit können wir unsere Lebensentscheidungen selber treffen; wir müssen es aber auch.
„Alles ist möglich“, ist der Slogan der Epoche. Aber ist denn wirklich alles möglich? Und: Tut uns das gut? Grenzen haben ihre Bedeutung für uns Menschen. Das gilt nicht nur in einem vergleichsweise banalen Sinne in der Politik, sondern auch in einem ganz tiefen anthropologischen Verständnis. Grenzen sind unverzichtbar für unsere Identitätsfindung. Alles ist niemals lebbar, nur die sinnvoll getroffene Auswahl ist es. Dabei hilft nicht zuletzt das Empfinden der Scham. Ohne Beschränkung verliert sich der Mensch. Grenzen bedeuten Sicherheit, Schutz und Orientierung. Fallen sie, drohen Desorientierung, Unsicherheit und Labilität.
Die politischen Folgen bleiben nicht aus. Der zunehmende Wunsch nach Sicherheit, nach Klarheit und nach Orientierungsrezepten führt nach rechts, wo auf komplizierte Fragen seit jeher einfache Antworten angeboten werden.
Der Autor ist emeritierter Professor für Soziologie und Gutachter des Europarates für soziale Fragen und Jugendkriminalität