Der Fall Sebastian Edathy: „Ich komme wieder“: Minister Friedrich tritt zurück
Er habe richtig gehandelt, sagt Agrarminister Hans-Peter Friedrich, als er seinen Rücktritt erklärt. Aber die Sache ist damit nicht beendet. Sie geht jetzt erst richtig los.
Das Problem von dem Hans-Peter, sagt eine Abgeordnete, die ihn gut kennt, „das Problem vom Hans-Peter ist, dass er einfach zu nett ist.“ Das beschreibt zwar nur sehr unzulänglich die Probleme, die Hans-Peter Friedrich im Moment sonst noch so hat. Aber in einem tieferen Sinne bringt der Satz vermutlich genau auf den Punkt, weshalb der frühere Innenminister am Freitag am Ende seiner politischen Karriere ankommt. Friedrich hat im Oktober den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel im Vertrauen wissen lassen, dass der Name des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy auf den Listen ausländischer Ermittler steht. Er habe damals, erklärt der CSU-Mann, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt: „Ich war davon überzeugt, dass ich politisch wie rechtlich richtig gehandelt habe.“ Das stimmt wahrscheinlich genau so. Es nützt ihm nur nichts.
Am Morgen hat Angela Merkel ein langes und ernstes Telefongespräch mit dem Mann geführt, der zu diesem Zeitpunkt immer noch Agrarminister in ihrem Kabinett war. Die CSU-Spitze in Gestalt des Vorsitzenden Horst Seehofer und der Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt haben sich in Berlin zum Krisengespräch getroffen, obwohl Hasselfeldt eigentlich noch krankgeschrieben ist. Danach hat Friedrich die oben zitierten Sätze verbreiten lassen sowie einen dritten: „Sollte die Staatsanwaltschaft zu anderen Ergebnissen kommen und ein Ermittlungsverfahren aufnehmen, werde ich mein Amt zur Verfügung stellen.“
Die Dimension des Falls
Ein Politiker, der sein Schicksal in die Hände der Ermittlungsbehörde legt – das hatten wir doch schon mal? Richtig; er hieß Christian Wulff. Damals hat die gesamte politische Spitze der Republik insgeheim inständig darauf gehofft, dass ein Staatsanwalt sie von dem unseligen Bundespräsidenten erlöse. Diesmal ist die Botschaft ähnlich unterschwellig, aber deutlicher. Seine Erklärung zeige, sagt der Regierungssprecher Steffen Seibert, „dass dem Minister die Dimension des Falls bewusst ist“. Und weil einer nachfragt, wann sich denn die Kanzlerin selbst zu der Sache äußern werde, stellt Seibert klar, dass er diesen Satz natürlich im Sinne und Auftrag Angela Merkels vortrage.
Die Dimension des Falls – vielleicht muss man noch einmal ziemlich weit vorne anfangen, um die zu erschließen. Im vorigen November meldet die kanadische Polizei einen großen Erfolg gegen einen Kinderporno-Ring. Die Meldung geht durch die „Tagesschau“, und der SPD-Abgeordnete Edathy dürfte darüber sehr erschrocken sein. Er wusste ja, dass er Kunde dieses Händlers war, der seine Fotos und Filme per Internet verkaufte. Man darf das inzwischen so schreiben, weil die Staatsanwaltschaft Hannover am Freitag bestätigt hat, dass sie gegen Edathy wegen Vorwürfen „im Grenzbereich“ zur Kinderpornografie ermittelt.
Behördenleiter Jörg Fröhlich vermutet, dass sich auf zwei beschlagnahmten Computern wahrscheinlich nichts Belastendes findet, weil Edathy gewarnt war und die Ermittler deshalb „hoffnungslos in der Hinterhand“ gewesen seien; aber die Auswertung dauere noch an.
Es gibt sogar Verständnis für den einfach zu netten Herrn Friedrich
Wer Edathy gewarnt haben könnte, ist eine Frage, über die später noch zu reden sein wird. Für die Vorgänge in Berlin spielt sie vorerst keine Rolle. Dass Friedrich den SPD-Chef Gabriel informiert hat, damit der seinem in Verdacht geratenen Parteifreund von Niedersachse zu Niedersachse diskret rät, zu verschwinden – so weit geht selbst in dem an Verschwörungstheorien nicht armen Regierungsviertel keiner. Es gibt sogar, politisch, ein gewisses Verständnis für den einfach zu netten Herrn Friedrich. „Der Mann steckte natürlich in einem Dilemma, politisch“, sagt einer von den Verständnisvollen. Union und SPD verhandelten damals miteinander über eine künftige Regierung. Der Innenminister erfährt zuständigkeitshalber, dass ein Abgeordneter des künftigen Partners in ernste Schwierigkeiten kommen könnte, weil sein Name auf einer Liste ausländischer Ermittler steht. Der Minister fragt seinen damaligen Staatssekretär, ob es um Kinderpornografie gehe (wieso er ausgerechnet auf diesen Tatbestand kam, bleibt unklar, ist aber jetzt ja auch egal). Der Staatssekretär jedenfalls versichert auf mehrfaches Nachfragen – wir zitieren jetzt Jens Teschke, damals wie heute Sprecher des Ministers – nein, es gehe nicht um Kinderpornos „im strafrechtlichen Sinne“.
Das ist für die Justiz eine sehr wichtige Entscheidung, politisch allerdings irrelevant: Wenn die Liste mit Edathys Namen öffentlich geworden wäre, dann wäre der Mann so oder so erledigt gewesen, egal ob seine Lust an Filmen mit nackten Jungen strafbar war oder nicht. Friedrich muss klar gewesen sein, was passieren würde, wenn der verdiente Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses bis dahin vielleicht zum Staatssekretär oder gar zum Minister Edathy befördert worden wäre. Er hat also Gabriel beiseite genommen und ihn gewarnt, dass Edathy auf einer Fahnderliste stehe – allerdings gehe es nicht um strafbare Inhalte.
Der Vorwurf lautet "Verletzung des Dienstgeheimnisses"
Bis dahin sind sich Friedrich und Gabriel einig. Die Einigkeit endet da, wo der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann am Tag zuvor mitgeteilt hatte, dass der Minister dem SPD-Chef noch einen weiteren Satz gesagt habe: Trotzdem „werde es möglicherweise zu strafrechtlichen Ermittlungen kommen“. Friedrichs Sprecher sagt, dass er dem widerspreche. Gabriels Sprecher Tobias Dünow sagt, dass „nicht ausgeschlossen wurde, dass es möglicherweise noch zu strafrechtlichen Ermittlungen kommen kann“. Wer das für ein absurdes Wortspieltheater hält, verkennt die Dimension des Falls, diesmal juristisch. Der Vorwurf gegen Friedrich, dem die Berliner Staatsanwaltschaft nachgeht, lautet „Verletzung des Dienstgeheimnisses“. Dazu steht im Paragrafen 353b des Strafgesetzbuchs: „Wer ein Geheimnis, das ihm als Amtsträger ... anvertraut worden oder sonst bekannt geworden ist, unbefugt offenbart und dadurch wichtige öffentliche Interessen gefährdet ...“
Ein Minister, der einem Parteichef sagt, dass dessen Parteifreund E. mit Ermittlungen rechnen muss, hat damit möglicherweise „wichtige öffentliche Interessen gefährdet“, die Strafverfolgung nämlich. Wenn Friedrich aber nur gesagt hätte: Herr Gabriel, wenn diese Liste durchsickert, dann ist der Edathy kaputt, obwohl er nicht vor Gericht landet – dann wäre der damalige Innenminister strafrechtlich wohl aus dem Schneider. Denn ob ein Politiker vom öffentlichen Moral-Standgericht verurteilt wird oder nicht, ist dem Gesetz egal. Es steht also Aussage gegen Aussage. Für ein Urteil vor Gericht mag das nicht ausreichen. Für Ermittlungen könnte es reichen, juristisch. Aber im Laufe dieses Tages hat Hans-Peter Friedrich erkennen müssen, dass es hier längst nicht mehr um juristische Feinheiten geht. Es geht um das Bild der Regierung, um die öffentliche und veröffentlichte Empörung, um das, was noch kommen kann an Verdächtigungen, Mutmaßungen, Enthüllungen.
Er sieht mitgenommen aus, aber entschlossen
Am Nachmittag um 17 Uhr tritt Friedrich in dem Ministerium, das gerade erst zwei Monate lang seins war, vor Kameras und Mikrofone. Er sieht mitgenommen aus, aber entschlossen. Er sei nach wie vor überzeugt, dass er richtig gehandelt habe. Aber der Druck sei so stark geworden, dass er nicht „die Ruhe und Konzentration und die politische Unterstützung“ habe, um das Amt weiterzuführen. Eine Minute dauert die Rücktrittserklärung. Eine halbe Stunde später tritt Angela Merkel im Kanzleramt auf. Sie war der Druck, von dem Friedrich gesprochen hat. Er war schon auf dem Weg zum Wahlkreis, als er den Befehl zur Rückkehr und zum Abtritt erhielt. Jetzt erklärt sie ihn zum Märtyrer. „Mit seinem Schritt stellt Hans-Peter Friedrich einmal mehr seine aufrechte Haltung unter Beweis, die eigenes Interesse und eigenes Wohl hinter das Wohl des Ganzen stellt“, sagt die Kanzlerin. „Unabhängig von der rechtlichen Bewertung“ übernehme er jetzt Verantwortung. Der Auftritt zeigt: Die Sache ist nicht erledigt. Sie geht jetzt erst los. Wie hat Friedrich sich verabschiedet? „Auf Wiedersehen – ich komme wieder.“
Dass er für eine Unvorsichtigkeit büßt, ist eins. Dass die SPD-Spitze seinen Sturz ausgelöst hat, als Fraktionschef Thomas Oppermann die Vorgänge veröffentlichte, ist das andere. Oppermann mag gedacht haben, dass er nicht als Vertuscher dastehen wollte, wenn das alles vielleicht rausgekommen wäre; er nicht und Sigmar Gabriel nicht und Frank-Walter Steinmeier nicht und wer immer noch in der SPD Bescheid wusste. Aber der Fraktionsvorsitzende hat gute Chancen darauf, das nächste Opfer der Sache Edathy zu werden. Schon sind in der SPD Absetzbewegungen zu vermerken: Die Abstimmung mit Oppermann im Vorfeld – tja, die sei halt nicht so richtig gut gelaufen.
Friedrich hat auf Gabriels Stillschweigen vertraut
Bei den Sozialdemokraten ahnen sie, was ihr Alleingang bedeutet für das Vertrauen in der Koalition. Friedrich hat auf Gabriels Stillschweigen vertraut. Merkel hat dem Minister, den sie opfert, das Vertrauen ausgesprochen. In der CSU ballen sie die Fäuste: Der Oppermann, der habe Friedrich geschlachtet, um die eigene Geschwätzigkeit zu überdecken! Vertrauliches Gespräch? Mit dem nicht mehr. Ach ja – und hat nicht dieser Oppermann selbst eingeräumt, dass er den BKA-Chef Jörg Ziercke angerufen und sich den Fall Edathy hat bestätigen lassen? Mit welchem Recht? Ziercke sagt außerdem, dass er gar nichts bestätigt habe – auch so ein Widerspruch. Und zuletzt ist da noch die Frage, wer Edathy vielleicht wirklich gewarnt hat. Am 6. Februar hat Chefermittler Fröhlich einen Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert diktiert zwecks Aufhebung der Immunität. Der Brief wird von Hannover nach Berlin eine ganze Woche brauchen. Am 7. Januar, einen Tag nach Fröhlichs Diktat, geht der Abgeordnete Edathy zum Notar und legt sein Mandat nieder. Der Brief wurde damit gegenstandslos; niemand in Berlin hätte von der ganzen Sache erfahren. Das sieht ganz so aus, als ob nicht bloß einer geplaudert hat, der es einfach zu nett meinte.