Der Fall Edathy und die Ermittler: Staatsanwaltschaft Hannover: „Wir sind fassungslos“
Als die Beamten in Hannover die Wohnung und Büros des SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy durchsuchten, fanden sie nicht mehr viel vor. Die Ermittler sind darüber verbittert. Was wissen sie – und was sagt das über den Fall aus?
Erstmals hat die Staatsanwaltschaft Hannover am Freitag Ermittlungen gegen den SPD-Politiker Sebastian Edathy wegen Kinderporno-Verdachts öffentlich bestätigt. Der Leiter der Anklagebehörde, Jörg Fröhlich, erhob schwere Vorwürfe, weil Informationen über den Fall bereits im Oktober in der Bundes- und niedersächsischen Landespolitik kursierten, bevor die Staatsanwaltschaft davon erfuhr.
Welche Erkenntnisse haben die Ermittler?
Edathy wird vorgeworfen, zwischen dem 21. Oktober 2005 und dem 18. Juni 2010 neun Mal im Online-Shop eines kanadischen Unternehmens insgesamt 31 Videos und Fotosets von nackten Jungen im Alter von neun bis 14 Jahren bestellt zu haben. Die ersten sieben dieser Pakete gingen per Post an Edathys Privatadresse. Die beiden weiteren Produkte wurden auf einen Server der IT-Abteilung im Deutschen Bundestag heruntergeladen.
Handelt es sich um Kinderpornografie?
„Diese Frage ist sehr schwierig zu beantworten“, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt. „In jedem Fall befinden wir uns im Grenzbereich.“ Das Bundeskriminalamt ordnet einschlägiges Material in zwei Kategorien ein. Im Fall Edathy handele es sich um die minder schwere Kategorie zwei, erklärte Fröhlich. „Die Fotos zeigen nackte Knaben in vermeintlich natürlichen Lebensposen wie beim Spielen, aber alle in Bezug zu den Genitalien.“ Dieser Grenzfall reiche aber für einen Anfangsverdacht aus, um Ermittlungen wegen Kinderpornografie aufzunehmen. Erfahrungen und zahlreiche andere Fälle lehrten, dass die Beschuldigten oft auch auf härteres Material zurückgriffen.
Kann man die Bilder Edathy zuordnen?
Hinter den verschiedenen E-Mail-Adressen, von denen aus die Bestellungen in Kanada getätigt wurden, „steckt mit hoher Wahrscheinlichkeit Herr Edathy“, berichtete Fröhlich. „Die Zahlungsvorgänge lassen sich dem Kreditkartenkonto von Herr Edathy zuordnen.“ Dieses habe der SPD-Politiker eigens für die Bestellungen eingerichtet – für die Staatsanwaltschaft ein Indiz für dessen konspiratives Verhalten. Dazu zähle auch der Download auf den Bundestags-Server, zu dem mehrere Personen Zugang gehabt hätten. Die Auswertung der bei den Durchsuchungen in Edathys Wohnung und Büros beschlagnahmten Beweismittel sei noch in vollem Gange. Dabei handele es sich um zwei Computer und anderes Material. Außerdem seien Splitter gefunden worden, die möglicherweise auf eine zerstörte Festplatte schließen ließen.
Wann erfuhren die Ankläger was?
Die kanadische Polizei hatte 2010 einen internationalen Kinderporno-Ring aufgedeckt. 800 der dabei gefundenen Datensätze betrafen deutsche Kunden. Das Bundeskriminalamt ermittelte ab 2012. Bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle ging die Akte Edathy Ende Oktober 2013 „hochvertraulich“ ein; gleichzeitig wurde Jörg Fröhlich als Leiter der für Kinderpornografie zuständigen Staatsanwaltschaft Hannover unterrichtet – nachdem offenbar Teile der Bundesregierung und der SPD längst von dem Verdacht wussten. Fröhlich bekam am 5. November 2013 die Akte samt Fotoordnern, behandelte das Material nach eigenen Angaben als „Verschlusssache“ und weihte nur den zuständigen Sachbearbeiter ein.
Warum wurde bis zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens so lange gewartet?
Die Informationslage sei damals noch zu dünn gewesen, meinte Fröhlich. „Aus unserer Sicht bestand kein Zeitdruck, weil aus unserer Sicht das Verfahren niemand sonst außer den Strafverfolgungsbehörden bekannt war.“ Die Staatsanwälte sahen aber auch dann keinen Anlass für die Aufnahme von konkreten Ermittlungen, als am 28. November 2013 und erneut am 22. Januar 2014 ein Anwalt Edathys bei den Anklägern auftauchte und sich mit gewissen Detailkenntnissen nach Gerüchten über einen Kinderporno-Verdacht gegen seinen Mandanten erkundigte. Ein Versäumnis, daraufhin nicht sofort Ermittlungen aufgenommen zu haben, wollte der Behördenchef nicht sehen. „Das war ein schwieriger Abwägungsprozess.“
Hat Edathy Beweise vernichtet?
Es spricht einiges dafür, dass der ehemalige Abgeordnete frühzeitig von dem Verdacht und Ermittlungsschritten genaue Kenntnis hatte – dafür sprechen sein schrittweiser Rückzug aus der Politik oder seine Krankmeldung. Am 6. Februar 2014 schickte Fröhlich eine Mitteilung an den Bundestagspräsidenten, dass man gegen Edathy ermitteln werde. Dieses Schreiben kam erst am 12. Februar im Parlament an. Der SPD-Politiker erklärte aber schon am 7. Februar seinen Mandatsverzicht. „Das kam für uns völlig überraschend.“ Fröhlich sagte, seine Behörde könne sich bis heute nicht erklären, ob es einen Zusammenhang zwischen seinem Brief an Bundestagspräsident Lammert und dem schon am Tag darauf erklärten Mandatsverzicht Edathys gebe. Bei den Durchsuchungen am 10. und 11. Februar habe man Hinweise auf vernichtete Beweise entdeckt, so der Staatsanwalt: „Die Auffindesituation legt nahe, dass dort andere Computer vorhanden sein mussten.“
Wer hat Geheimnisse verraten?
Es gab zwei Stränge, aus denen Informationen an Edathy hätten gelangen können: den politischen und den behördlichen. In Berlin hatte der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die SPD-Spitze schon im Oktober 2013 von dem Verdacht gegen Edathy unterrichtet. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) wurde ebenfalls im Oktober vom Göttinger Polizeipräsidenten Robert Kruse, zu dessen Bereich Edathys Wohnort gehört, in Kenntnis gesetzt, will dieses Wissen aber nach eigenen Worten für sich behalten haben.
„Wir sind fassungslos“, kritisierte Fröhlich die frühen Kenntnisse und offensichtlichen Bewertungen des Sachverhalts durch die Politik. Seine Behörde prüfe die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen und Strafvereitlung im Amt. Dabei schloss er nicht aus, dass diese sich neben Friedrich möglicherweise auch gegen SPD-Politiker und hohe Polizeibeamte richten könnten. „Es kommen zum gegenwärtigen Zeitpunkt unterschiedliche Verdächtige in Betracht“, sagte der Staatsanwalt. Untersucht werde auch, wer für die Durchstechereien an die Presse, insbesondere an die Nienburger Zeitung „Die Harke“ verantwortlich gewesen sei.
Niedersachsens Ministerpräsident und SPD-Landeschef Stephan Weil hat laut Staatskanzlei erst am 10. Februar von dem Fall erfahren – eine Version, die die FDP-Landtagsfraktion stark anzweifelt. Die Liberalen sprechen von „Genossen-Klüngel“ und haben eine Unterrichtung des Rechtsausschusses beantragt.
Andererseits hatten alle Landeskriminalämter die Daten über mutmaßliche deutsche Kunden des kanadischen Kinderpornorings vom Bundeskriminalamt (BKA) erhalten, weil sie diese nach jeweils regionaler Zuständigkeit durchforsten sollten. Auch in diesen Behörden könnte es eine undichte Stelle gegeben haben.