zum Hauptinhalt
Junge Türken jubeln bei der Vorbeifahrt eine Militärkonvois auf dem Weg nach Syrien.
© Reuters/Kemal Aslan
Update

Neue Eskalationsstufe: Die acht wichtigsten Fragen und Antworten zur Syrienoffensive der Türkei

Seit Jahren wird in Syrien gekämpft. Jetzt hat der türkische Präsident die Spannungen verschärft. Drohungen und Kritik an der Invasion prallen an Erdogan ab.

Türkische Truppen rücken seit einer Woche im Norden Syriens gegen kurdische Kämpfer vor. Jegliche Kritik an der Invasion, jede Drohung mit Sanktionen prallt an Präsident Recep Tayyip Erdogan ab. Nun schickt auch der syrische Machthaber Baschar al Assad Soldaten in die Region. Es ist eine neue Eskalationsstufe in einem langen Konflikt, der Schockwellen weit über die Region hinaus sendet. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zur Syrienoffensive.

1. Wie steht die Bundesregierung zur türkischen Offensive?

Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Regierungsmitglieder haben Erdogans Offensive in Syrien verbal scharf verurteilt. Die Bundesregierung befürchtet nicht nur eine weitere Destabilisierung der Region und neue Flüchtlingsströme, sondern sieht auch vitale deutsche Sicherheitsinteressen bedroht – etwa durch ein erneutes Erstarken der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS).

Die Bundesregierung liegt mit ihrer Haltung auf einer Linie mit Nato und EU, die den Einmarsch in Nordsyrien ebenfalls ablehnen – aber noch nichts praktisch getan haben, um die Türkei zu einer Änderung ihres Kurses zu drängen. Mit Strafen wird derzeit weithin nur gedroht.

2. Was bedeutet der von Maas verkündete Exportstopp?

Ob die Türkei damit empfindlich getroffen wird, ist fraglich. Wichtig ist der Signalcharakter nach innen und außen. Schon seit der autoritären Reaktion Erdogans auf den Militärputsch 2016 seien von Deutschland keine Rüstungsgüter mehr geliefert worden, die nun in Syrien eingesetzt werden könnten, heißt es in der Koalition. Das bedeute aber nicht, dass es keinerlei Exporte mehr gebe, da bereits genehmigte Lieferungen nicht aufgehalten werden könnten, ohne hohe Schadenersatzforderungen zu riskieren.

3. Ist Deutschland durch die Drohung mit neuen Flüchtlingen erpressbar?

Erdogan hatte gedroht, wenn die EU sein Handeln kritisiere, werde er Flüchtlinge schicken. Die Bundesregierung nimmt diese Drohung offenbar nicht zum Nennwert. Zum einen hat Erdogan das immer wieder angekündigt, ohne die Drohung wahr zu machen. Die Türkei sei zudem auf die EU-Ausgleichszahlungen für Flüchtlinge angewiesen, heißt es in der Koalition. Selbst Erdogan habe Interessen. Weder das Verhältnis zu Deutschland noch zur EU wolle er auf den Tiefpunkt bringen. Die Klarheit der Verurteilung durch Merkel enthält deshalb auch die Botschaft: Wir sind nicht erpressbar.

4. Wie sieht Trumps Syrien-Politik aus?

Sie ist denkbar einfach gestrickt: Er will die amerikanischen Soldaten so schnell wie möglich nach Hause holen. Die Konsequenzen daraus interessieren Donald Trump nicht – nicht die für die einstigen treuen kurdischen Verbündeten, nicht die für die Region und auch nicht die für die Sicherheitslage der Partner in Europa angesichts der erwartbaren Rückschläge im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Den Kurden unterstellte er gar, sie wollten mit der Freilassung von IS-Kämpfern die USA in den Konflikt mit der Türkei hineinziehen. Ungerührt von weltweiten Warnungen ordnete er am Sonntag den Abzug von bis zu 1000 Soldaten aus Nordsyrien an. Er will sein Wahlversprechen einlösen, US-Truppen aus den „unsinnigen“ Kriegen zurückzuziehen.

5. Gibt es Widerstand gegen die Entscheidung des US-Präsidenten?

Erheblichen. Der Widerstand kommt vor allem von einflussreichen Politikern seiner eigenen Partei, die den „Verrat“ an den Kurden kritisieren und vor einem Wiedererstarken des IS warnen. Auch mehrere prominente Vertreter der christlichen Rechten, die zu Trumps Stammwählern zählen, kritisieren die Entscheidung des Präsidenten scharf. Sie fürchten um die Zukunft der Christen in der Region. Im Kongress machen republikanische Senatoren wegen des türkischen Einmarschs in Nordsyrien Druck auf Trump. Bereits in der vergangenen Woche bereiteten sie gemeinsam mit den Demokraten eine Resolution mit Sanktionen gegen die Türkei vor, die sich unter anderem gegen Präsident Erdogan persönlich richten. Trump hat die Kritik vernommen – und kündigte am Montag „große Sanktionen“ gegen den Nato-Partner an, zudem forderte er einen sofortigen Waffenstillstand.

6. Und wie geht die Nato mit der Militäraktion ihres Bündnispartners um?

Die Türkei überhört bislang alle Appelle der Nato-Partner. Mehr noch: Erdogan beklagt, die Bündnispartner würden seinen Kampf gegen eine Terrororganisation nicht genügend unterstützen. „Ist dies so, weil die Türkei das einzige Land in der Nato ist, dessen Einwohner Muslime sind?“, fragt er. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnt davor, dass die Nato in den Konflikt hineingezogen werden könnte. „Stellen Sie sich vor, Syrien oder Alliierte von Syrien schlagen zurück und greifen die Türkei an“, sagt Asselborn. „Auf Deutsch heißt das, dass alle Nato-Länder, wenn die Türkei angegriffen würde, dann einspringen müssten, um der Türkei zu helfen.“

Doch hier irrt Asselborn. Der Beistandsartikel 5 im Nato-Vertrag legt zwar fest, dass ein bewaffneter Angriff auf einen Partner „in Europa und Nordamerika“ als Angriff auf alle gewertet werde. Er verpflichtet auch jede Vertragspartei dazu, dass sie „unverzüglich ... die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Aber das heißt: Es gibt keine Pflicht zum bewaffneten Beistand. Jedes Nato-Land kann völlig frei entscheiden, welche Maßnahme es für „erforderlich“ hält – und sei es ein Friedensappell.

Ohnehin stellt sich im konkreten Fall die Frage, ob die Beistandspflicht auch dann gilt, wenn der Nato-Partner den Krieg selbst begonnen hat und die anderen ihm nicht abnehmen, dass er mit dem Einmarsch im Nachbarland doch nur auf eine Aggression reagiere. So lange die Kämpfe sich auf syrischem Boden abspielen, kommt Artikel 5 überhaupt nicht in Betracht – Syrien liegt nicht in Europa.

7. Was bedeutet die Offensive für Putins Ambitionen in der Region?

Russland hat sich bisher selbst gern als Sieger im Syrien-Konflikt betrachtet – und seine Beziehungen zur Türkei als Partnerschaft. Doch Erdogans Offensive macht deutlich, wie fragwürdig diese Einschätzung ist. Gewiss: Russland hat seinen Einfluss in der Region seit dem Eingreifen in den Bürgerkrieg 2015 beträchtlich steigern können. Doch auch Moskau hat Erdogan nicht unter Kontrolle. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wurde am Montag von Journalisten gefragt, ob die Gefahr bestehe, dass Russland in Syrien mit der Türkei in eine militärische Auseinandersetzungen geraten könne. Seine Antwort: „Das will ich mir gar nicht vorstellen.“

Aber es könnte passieren, denn Assad schickt gerade seine Truppen in den Norden des Landes. Sollten die in Schwierigkeiten geraten und nach Hilfe rufen, bekommt Russland ein Problem. Noch größer ist aber eine andere Sorge: Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Montag eine Landkarte, auf der die Gefängnisse eingezeichnet sind, in denen bisher rund 15.000 IS-Kämpfer unter kurdischer Kontrolle waren. Viele von ihnen sind möglicherweise wieder auf freiem Fuß. Obwohl es nicht offiziell bestätigt wird: Nicht wenige stammen aus Russland.

8. Wie ist die Reaktion in der arabischen Welt?

Auch sie üben Druck auf die Türkei aus. In einer Dringlichkeitssitzung kritisierte die Arabische Liga den Einmarsch.

Generalsekretär Ahmed Aboul Gheit benannte die Befürchtungen: „Es gibt echte Ängste vor einer möglichen ethnischen Säuberung der Kurden in dieser Region durch den Plan eines demografischen Wandels, um Millionen von Menschen umzusiedeln, wie es die türkische Seite angekündigt hat.“ Zu Strafmaßnahmen konnte sich die Organisation aber auch – noch – nicht durchringen.

Zur Startseite