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Antisemitischer Terror. Trauer nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle.
© Hendrik Schmidt/dpa
Exklusiv

Antisemitische Kriminalität: Höchststand bei Straftaten von Judenhassern

Antisemiten haben 2019 so viele Delikte begangen wie nie zuvor seit 2001. Das ergibt sich aus Angaben der Regierung. Auch rechte Kriminalität insgesamt nahm zu.

Judenhasser haben im vergangenen Jahr soviele Straftaten verübt wie nie zuvor seit 2001. Die Polizei registrierte 2019 nach Informationen des Tagesspiegels bundesweit 1839 antisemitische Delikte. Das entspricht mindestens fünf Angriffen pro Tag. Die meisten Delikte werden Neonazis und anderen Rechten zugeordnet. 2018 hatte die Polizei 1799 antisemitische Delikte festgestellt.
Die aktuelle Bilanz ist den Antworten der Bundesregierung auf regelmäßige Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und ihrer Fraktion zu entnehmen. Die Unterlagen liegen dem Tagesspiegel vor. Die Zahlen zu antisemitischer Kriminalität werden wahrscheinlich noch steigen, die aktuelle Statistik ergibt sich aus vorläufigen Erkenntnissen der Polizei in den Ländern.

Bei den in der Summe der Straftaten enthaltenen Gewaltdelikte ergibt sich auch ein Höchststand. Die Polizei zählte 72 antisemitische Gewalttaten (2018: 69). Das sind ebenfalls mehr als in den Jahren zuvor seit 2001. Bei den gewaltsamen Attacken wurden zwei Menschen getötet und mindestens 35 Menschen verletzt.

Der Täter wollte die geschlossene Tür aufschießen

Die Todesopfer sind die beiden Passanten, die der Rechtsextremist Stephan Balliet im Oktober 2019 in Halle erschoss. Balliet hatte versucht, die geschlossene Tür der vollbesetzten Synagoge aufzuschießen. Als das misslang, tötete er in seiner Wut eine Frau auf der Straße und einen Mann in einem türkischen Imbiss.

Das Jahr 2001 spielt in den Statistiken der Bundesregierung zu politisch motivierter Kriminalität eine besondere Rolle. Damals wurden die Kriterien zur Erfassung von Straftaten rechter, linker, islamistischer und anderer politischer Fanatiker präzisiert und erweitert. Deshalb ist ein seriöser Vergleich der Zahlen von 2019 mit denen aus den Jahren vor 2001 kaum möglich.

Nur zwei Haftbefehle

Die Bundesregierung erwähnt in der aktuellen Bilanz zu antisemitischer Kriminalität neben den Gewalttaten auch 363 „Propagandadelikte“. Dabei handelt es sich unter anderem um judenfeindliche Schmierereien sowie Pöbeleien in der Öffentlichkeit. Die Polizei ermittelte 2019 zu antisemitischen Delikten insgesamt 1019 Tatverdächtige. Festgenommen wurden acht Personen, Haftbefehle gab es nur zwei.

Felix Klein ist der Beauftragte der Bundesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus.
Felix Klein ist der Beauftragte der Bundesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus.
© Thilo Rückeis

Mehr als 20 000 rechte Delikte

Bei der rechten Kriminalität ingesamt gibt es ebenfalls eine deutliche Zunahme. Die Polizei stellte im vergangenen Jahr bundesweit 20 856 Straftaten von Neonazis und anderen Rechten fest. Die Zahl entstammt auch einer vorläufigen Statistik, es sind ebenfalls Nachmeldungen zu erwarten. Für 2018 hatte die Polizei in ihrer endgültigen Bilanz 20 431 rechte Delikte gemeldet, 2017 waren es 20 520. In den zwei Jahren davor hatte die Polizei noch höhere Zahlen ermittelt. 2016 und 2015 waren allerdings die Jahre, in denen Rassisten angesichts des starken Zustroms von Flüchtlingen so oft zuschlugen wie selten zuvor.
Die Zahlen zur rechten Kriminalität 2019 entnahm der Tagesspiegel den Antworten der Bundesregierung auf monatliche Anfragen von Petra Pau. Bei den rechten Gewalttaten kommt die Polizei auf mindestens 917 Delikte. Dabei starben drei Menschen, mindestens 384 erlitten Verletzungen. Die Toten sind der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, den im Juni mutmaßlich der Neonazi Stephan Ernst erschoss, und die beiden Opfer des Attentäters Balliet in Halle.

Josef Schuster: Die Zeit des Abwiegelns ist endgültig vorbei

„Die neue polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt unsere Befürchtungen“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Antisemitismus und Rechtsextremismus nähmen zu. „Die Tabubrüche und die sprachliche Enthemmung, die wir allenthalben erleben und die maßgeblich von der AfD befeuert werden, schlagen sich letztlich auch in Taten nieder“, beklagte Schuster. „Wir müssen zudem von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Viele Betroffene erstatten gar nicht erst Anzeige, weil Ermittlungen häufig eingestellt und nur wenige Täter tatsächlich belangt werden." Die geplante personelle Verstärkung bei Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt sowie die künftigen Verschärfungen im Strafrecht seien überfällig. „Deutschland muss beim Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus jetzt alle Hebel in Bewegung setzen“, sagte Schuster. „Die Zeit des Abwiegelns ist endgültig vorbei." Der Anstieg der Zahlen sei „schrecklich, aber für mich nicht wirklich überraschend“, sagte Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Anders als Schuster führt Klein die Zunahme bei antisemitischer Kriminalität auch auf das erhöhte Anzeigeverhalten zurück. "Hierzu haben wir Opfer und Zeugen antisemitischer Straftaten ausdrücklich ermutigt, denn nur so können Täter ja juristisch belangt werden“, betonte Klein. Die größte Sorge mache ihm allerdings die „deutlich gestiegene Aggressivität, die im Höchststand antisemitischer Gewaltdelikte zum Ausdruck kommt“.

Insbesondere nach dem Anschlag von Halle könne die tödliche Dimension von Antisemitismus in Deutschland von niemandem mehr bestritten werden. „Wir müssen Polizei und Justiz besser als bisher in die Lage versetzen, antisemitische Straftaten schnell und konsequent zu ahnden“, sagte Klein. „Die nun geplante Aufnahme antisemitischer Tatmotive als Strafschärfungsgrund sowie die vorgesehene verschärfte strafrechtliche Verfolgung von Hass und Hetze im Internet sind daher Schritte in die richtige Richtung“.

Pau ist besorgt über geringe Aufklärungsquote

Pau ist auch besorgt über die „geringe Aufklärungsquote und Ermittlung der Straftäter“ bei antisemitischen Delikten und rechter Kriminalität insgesamt. Die Erfahrung der Straflosigkeit motiviere die Szene weiter. „Für die Opfer dieser Straftaten ist dies doppelt schlimm. Neben dem nicht eingelösten Versprechen des Rechtsstaates, das Täter ermittelt und bestraft werden, bleibt ein Gefühl der Bedrohung, wieder Opfer einer Straftat zu werden“, sagte die Bundestagsvizepräsidentin. Die Aufklärungsquote bei politisch motivierter Kriminalität insgesamt lag 2018 bei 45,3 Prozent. Bei Gewalttaten war sie allerdings mit 59,9 Prozent deutlich höher. Für 2019 liegen noch keine Zahlen vor.

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