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Neonazis demonstrieren gegen Journalisten, die kritisch über die rechte Szene berichtet haben.
© Ole Spata/dpa
Exklusiv

Offizielle Zahl nach oben korrigiert: 100 Menschen seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremisten getötet

Die Landeskriminalämter stufen den Fall Lübcke und den Anschlag in Halle öffentlich als rechte Taten ein. Und einen Dreifachmord von 2003 in NRW.

Seit der Wiedervereinigung haben Neonazis und andere Rechte nach Erkenntnissen der Polizei insgesamt 100 Menschen getötet. Die Landeskriminalämter in Hessen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen haben jetzt drei Angriffe mit sechs Toten als rechts motivierte Gewaltverbrechen eingestuft.
Es handelt sich um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni, die tödlichen Schüsse von Stephan Balliet im Oktober in Halle auf zwei Menschen und um einen Fall aus 2003 in Nordrhein-Westfalen mit drei Toten. In Overath erschoss der Rechtsextremist Thomas Adolf einen Anwalt, dessen Frau und die Tochter.

Adolf sah sich als Kämpfer der SS. Die Tat sei „als überwiegend rechts motiviert“ zu werten, sagte der Chef des LKA Nordrhein-Westfalen, Frank Hoever, jetzt dem Tagesspiegel. Die reale Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 liegt nach Recherchen der Zeitung jedoch bei mindestens 170.

Fall Lübcke wurde bislang von Polizei nicht als rechte Tat benannt

Die Polizei tut sich manchmal schwer, der Öffentlichkeit offenkundig rechte Gewalttaten auch als politisch motivierte Delikte zu nennen. Im Fall Walter Lübcke dauerte es ein halbes Jahr, bis das Landeskriminalamt Hessen nun auf Anfrage bekannt gab: „Das Tötungsdelikt zum Nachteil des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke wurde beim HLKA als Gewaltdelikt im Phänomenbereich der ,Politisch motivierten Kriminalität – rechts’ bewertet“. Die Bundesregierung hatte den Fall bislang auch nicht als rechtes Verbrechen genannt.

Dabei war spätestens seit dem Geständnis, das der Neonazi Stephan Ernst im Juni ablegte, der rechtsextreme Hintergrund des Attentats offensichtlich. Ernst hat höchstwahrscheinlich, auch wenn er die Aussage im Juli widerrief, am 2. Juni Lübcke vor dessen Haus im nordhessischen Wolfhagen mit einem Schuss in den Kopf regelrecht hingerichtet.

Lübcke hatte sich mit seinem Engagement für Flüchtlinge und der Äußerung gegenüber Rassisten, sie könnten Deutschland jederzeit verlassen, den Hass von Ernst und anderen Rechten zugezogen. Das hat Ernst auch in seinem Geständnis geschildert. Und die Bundesanwaltschaft übernahm am 17. Juni die Ermittlungen wegen des rechtsextremen Hintergrunds der Tat. Das LKA begründet nun die späte öffentliche Bewertung als politisch motiviertes Delikt mit „ermittlungstaktischen Erwägungen“.

Im Fall des Anschlags in Halle ging es schneller. Ebenfalls auf Anfrage teilte das LKA Sachsen-Anhalt am Dienstag mit, die Tat werde seit November als „politisch motivierte Gewaltkriminalität – rechts“ aufgeführt. Der Antisemit Stephan Balliet hatte am 9. Oktober vergeblich versucht, die verschlossenen Türen der vollbesetzten Synagoge mit Schüssen und Sprengstoff zu öffnen. In seiner Wut tötete Balliet zwei Passanten. Die Bundesanwaltschaft übernahm noch am Tag der Tat die Ermittlungen und sieht ein rechtsextremes sowie antisemitisches Motiv.

Dreifachmord nach 16 Jahren vom LKA als politisch motiviert bezeichnet

Nach dem Dreifachmord des Neonazis Thomas Adolf in Overath hat es hingegen 16 Jahre gedauert, bis das LKA Nordrhein-Westfalen die Tat öffentlich als politisch motiviertes Gewaltdelikt deklariert. Adolf hatte am 7. Oktober 2003 in der Kleinstadt den Anwalt Hartmut Nickel, seine Ehefrau Mechthild Bucksteeg und Tochter Alja Nickel erschossen.

Der Anwalt hatte bewirkt, dass Adolf wegen Schulden ein Gehöft verlor. Dort hatte der Neonazi Treffen mit Rechten veranstaltet. Das Landgericht Köln verurteilte Adolf 2004 zu lebenslanger Haft und bescheinigte ihm besondere Schwere der Schuld. Adolfs nationalsozialistische Vorstellungen hätten ihm ein Handeln „mit ungerührtem Vollstreckerwillen“ ermöglicht, steht im Urteil. Dennoch wird der Fall in keiner offiziellen Statistik zu Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung genannt. Der Tagesspiegel hat den Fall in seiner Langzeitrecherche zu rechten Tötungsverbrechen wiederholt erwähnt. Nun bezeichnet LKA-Chef Frank Hoever das Verbrechen als das, was es war: „überwiegend rechts motiviert“.

Hoever betonte allerdings auch, das LKA bereits 2012 gegenüber dem Bundeskriminalamt auf das "rechtsextreme Gedankengut" des Täters verwiesen. Das BKA und die Länderpolizeien hatten nach dem Ende der Terrorzelle NSU zahlreiche Tötungsverbrechen auf einen möglichen rechtsextremen Hintergrund überprüft. Auch die Todesopferliste von Tagesspiegel und "Zeit Online" schauten sich die Behörden an. Dennoch kam der Fall Overath nicht in die Bilanz der Bundesregierung zu rechten Tötungsverbrechen seit der Wiedervereinigung.

Zuletzt hatte die Regierung im Juni 2018 in der Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und der Linksfraktion eine umfangreiche Bilanz dargestellt. Darin fanden sich auch viele Fälle, die die Polizei aufgrund der Todesopferliste des Tagesspiegels nachgemeldet hatte. Das Verbrechen von Thomas Adolf war nicht dabei.

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