Flüchtlinge in Deutschland: Hinein in die Gesellschaft - statt in Kasernen
Der Zustrom an Flüchtlingen nach Deutschland steigt an. Der Staat muss sich darauf einstellen, mehr Verantwortung übernehmen - und die Asylsuchenden tatsächlich annehmen. Ein Kommentar.
Zweihunderttausend Flüchtlinge erwartet Deutschland in diesem Jahr, mit mehr als elftausend rechnet allein Berlin. Zahlen, die groß erscheinen. Wenn man nicht die anderen kennt: Erstmals sind in diesem Jahr weltweit mehr Menschen auf der Flucht als je nach dem Zweiten Weltkrieg: 51 Millionen. Allein der syrische Bürgerkrieg hat sechseinhalb Millionen Syrer zur Flucht im eigenen Land gezwungen, noch einmal drei Millionen retteten sich über die Grenzen, der weit überwiegende Teil ins benachbarte Ausland, in Länder, denen es schon nicht besonders gut ging, bevor die Flüchtlinge kamen. Im Libanon machten geflohene Syrer bereits vor einem Jahr etwa ein Fünftel der Bevölkerung aus.
Deutschland kann sich das Elend der Welt nicht vom Leibe halten
Die Hardliner in den großen Parteien sind leiser geworden, vielleicht weil die Bilder von den vielen Kriegsschauplätzen, die schon lange nicht mehr nur das Fernsehen liefert, stärker sind als die alte „Das Boot ist voll“-Rhetorik. Vielleicht aber auch, weil die letzten Jahre die allerletzten Zweifel beseitigt haben dürften: Keine Grenzbefestigung, keine noch so scharfe Asylgesetzgebung und keine Grundgesetzänderung wie 1992 wird Europa und Deutschland das Elend der Welt vom Leibe halten. Es lässt sich so nur vergrößern. Mehr als 3000 Menschen – die jüngste Schreckenszahl von Montag – sind bis September im Mittelmeer gestorben, beim Versuch, sich nach Norden zu retten. Die Katastrophe von Lampedusa mit mehr als 400 Toten jährt sich in dieser Woche. Keine dieser Zahlen wird die Verzweifelten hindern, die sich noch auf den Weg machen.
Sie sich weit wegzuwünschen, ist unmenschlich. An die, die es trotzdem tun: Die Zeiten, da das Wünschen noch geholfen hat, gibt es, wie jedes Kind weiß, nur im Märchen. Im wirklichen Leben wäre es besser, sich darauf einzustellen, dass auch Deutschland noch mehr Verantwortung übernehmen muss, ob es will oder nicht. Mit mehr Personal, Geld und Unterkünften natürlich. Aber besser noch mit anderen Konzepten und einer anderen Einstellung: Warum eigentlich stehen über den Augen des Gesetzes eigentlich immer noch misstrauische Falten, wenn es um Flüchtlinge geht, also in aller Regel um schwer versehrte Menschen, die sich, so darf man vermuten, anderes im Leben erträumten, als sich eine neue kalte Heimat zu suchen?
Jetzt ist die Zivilgesellschaft gefragt
Die Berichte über Prügel von Wachleuten in Nordrhein-Westfalen gehören aufgeklärt und die Schuldigen bestraft. Aber warum eigentlich stört sich niemand daran, dass man solche Wachdienste überhaupt zu brauchen glaubt? Warum müssen Leute, die womöglich mit Mühe ihr Leben gerettet haben, es von Gesetzes wegen hier in Gemeinschaftsunterkünften vertrödeln, in denen sie erst zu Zielscheiben werden und bewacht werden müssen? Warum muss man sie kontrollieren und isolieren?
Es kann nicht mehr um kleine Lockerungen dieses ebenso kleinlichen wie kontraproduktiven Kontrollwahns gehen, er gehört einfach endlich geheilt. Wir müssen die, die es trotz tödlicher Hürden zu uns geschafft haben, schnell und wirklich aufnehmen, sie müssen mitten in der Gesellschaft leben dürfen, damit sie bekommen, was sie dafür brauchen, ein deutsches Sprachbad zum Beispiel statt nur den Sprachkurs.
Die viel bemühte Zivilgesellschaft – die wäre gefragt, Nachbarn, Flüchtlingsinitiativen, Schulen. Natürlich darf der Staat sie damit nicht allein lassen, auch dies würde ordentlich Geld kosten. Aber anders als das aktuelle System von Kontrolle und Misstrauen wäre es eine echte Investition.