Gregor Gysi: "Heute stellen ganz andere die Systemfrage"
Linksfraktionschef Gregor Gysi über die Euro-Krise, die Beschäftigung der Partei mit sich selbst, den Mist mit dem Mauerbau – und die Kritik an seiner eigenen Rolle.
Herr Gysi, wenn Sie zurückdenken: Welches Geld hatten Sie am liebsten in der Tasche: die DDR-Mark, die D-Mark oder den Euro?
Die D-Mark. Das war in der DDR die Spitzenwährung. Wenn ich mal 100 Westmark hatte und Weihnachtsgeschenke für meinen Sohn im Intershop kaufte, konnte ich Überraschungen organisieren, die heute nicht mehr möglich sind. Aber klar, der Euro beschäftigt uns heute alle.
Früher war die PDS für deren ältere Klientel ein guter Rentenberater. Warum ist die Linke kein guter Helfer gegen die Euro-Krise?
Wir sind die Einzigen, die diese Krise korrekt analysiert haben. Und wir haben gute Vorschläge, wie diese Krise überwunden werden kann. Früher wurde uns angelastet, dass wir die Systemfrage stellen. Heute stellen sie ganz andere. 1990 habe ich gesagt, der Staatssozialismus ist zu Recht gescheitert. Aber der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist bloß übrig geblieben. Damals fanden das viele ironisch. Heute sagt der Milliardär George Soros, wenn der Kapitalismus jetzt nicht reformfähig wird, gibt er sich auf.
Was muss sich ändern?
Die großen privaten Banken und Versicherungen spielen mit der Wirtschaft und mit der Politik. Wir brauchen öffentlich-rechtliche Banken mit anderen Krediten. Die Sparkasse macht uns nicht die Schwierigkeiten, die uns die Deutsche Bank bereitet. Und dann brauchen wir Euro-Bonds, also gemeinsame Staatsanleihen der Euro-Länder. Wenn wir die hätten, wäre der Euro sofort stabilisiert.
Selbst konservative Publizisten – wir zitieren Frank Schirrmacher – meinen, dass ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik entpuppt habe. Empfinden Sie Genugtuung?
Als Linker stand ich immer vor dem Problem, dass als nicht umsetzbar galt, was wir fordern. Das erste Mal erlebe ich nun eine kapitalismuskritische Stimmung. Sie ist noch nicht antikapitalistisch, aber immerhin. Und das bei Leuten, bei denen man nie damit gerechnet hätte. Jetzt wäre die Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das Problem ist nur: Dafür haben wir die falsche Regierung.
Sie wollen nicht mit Merkel diesen Vertrag schließen?
(lacht) So weit wollte ich jetzt noch nicht denken. Das wäre wohl etwas für eine Kabarettsendung. Nein, es passiert leider etwas anderes. Die Leute bekommen mit, dass die Politik nur noch den Realitäten hinterherrennt, von einem Krisentreffen zum anderen. Das ruiniert den Ruf der Politik. Und wir leiden mit darunter.
Autozündeleien sind "pubertär", meint Gysi. Lesen Sie weiter auf Seite 2.
Die Kanzlerin will inzwischen eine Finanztransaktionssteuer durchsetzen, eine alte Forderung auch der Linken.
Das ist dann auch vernünftig. Aber es gilt dennoch, dass Frau Merkel macht, was Herr Ackermann von der Deutschen Bank will, und nicht umgekehrt. Beide wollen gar keine Gerechtigkeit herstellen. Die Politik ist nicht unabhängig, und das stört mich.
Warum profitiert die Linke nicht von der Finanzkrise?
Wir haben im Bund nie mitregiert und deshalb unsere Kompetenz nicht unter Beweis stellen können. Erst allmählich ändert sich der Zeitgeist. Wir haben außerdem das Problem, dass wir für die Umsetzung des demokratischen Sozialismus in einem Land auf kein praktisches Beispiel verweisen können.
Haben Sie Verständnis für die Unruhen in London?
Ich muss sagen, dass sie überhaupt nichts lösen. Ich kann die Krawalle auch nicht billigen. Es fehlt auch ein politisches Ziel, die Unruhen sind nur Ausdruck einer ungeheuren Frustration.
Woher kommt die?
Immer mehr Menschen fühlen sich bedeutungslos und entmachtet. Sie haben keine wirkliche Chance auf Bildung oder sozialen Aufstieg, sie geben sich auf. In diesem Moment wird ihnen alles egal. Mich erinnert das ein bisschen an die brennenden Autos in Berlin. Auch hier sind die Täter mutmaßlich frustrierte junge Leute, die nichts zu sagen haben, die das Gefühl haben unterzugehen. Plötzlich – und das ist pubertär – empfinden sie Macht: Mit einem Schlag können sie Nachbarn, Polizei, Politik und Versicherungen treffen.
Was kann man dagegen unternehmen?
Kurzfristig mehr Polizei auf die Straße und langfristig wird nur helfen, der Jugend eine Perspektive zu geben.
Beobachten Sie in Berlin ein Klima wachsender Intoleranz? In Prenzlauer Berg wird gegen Schwaben als neue Nachbarn polemisiert, Parteibüros der Linken in der Stadt werden angegriffen.
Berlin ist überhaupt erst unter dieser rot-roten Regierung zu einer Metropole geworden. Die Stadt war unter Eberhard Diepgen viel zu provinziell. In gewisser Weise ist die Stadt mit diesen Veränderungen noch überfordert. Wenn man etwas Großes vorhat, und nun ist Berlin erstmalig seit der Weimarer Zeit wieder wirklich Hauptstadt, führt das zu Widersprüchen.
"Die Mauer war nun mal Mist." Lesen Sie weiter auf Seite 3.
Versagt auch die rot-rote Regierung?
Nein, durch Druck der Linken ist die Berliner Landesbank nicht privatisiert, sondern an die Sparkasse verkauft und viel Soziales erreicht worden, obwohl die finanziellen Möglichkeiten der Stadt begrenzt sind. Aber Klaus Wowereit, sein Stellvertreter Harald Wolf und die anderen Parteien in Berlin müssten auf Bundesebene ganz anders für die Hauptstadt kämpfen. Mit dem Bund ist nicht geklärt, was Berlin als Hauptstadt zu leisten hat und was als Kommune. Dass wir alleine die Kita-Plätze bezahlen müssen, ist ja völlig in Ordnung. Auf der anderen Seite: Helmut Kohl hat Gorbatschow versprochen, dass die sowjetischen Ehrenmale erhalten bleiben. Es geht um die Straße des 17. Juni, den Treptower Park und Pankow. Der Unterhalt kostet Jahr für Jahr zig Millionen. Das ist keine Berliner Aufgabe, hier drückt sich der Bund.
Herr Gysi, wie sehen Sie die Lage der Linken im Superwahljahr?
Wir haben in den letzten Monaten zu viel Selbstbeschäftigung betrieben und das ist nie gut. Ich hoffe allerdings, dass wir das Problem mindestens in der Fraktion nach der Antisemitismusdebatte vor der Sommerpause überwunden haben.
Kurz darauf kam die Diskussion um den Mauerbau.
Egon Bahr hat recht: Alles was notwendig ist, haben wir zu diesem Thema gesagt. Nur ein paar wenige Gestrige und Vorgestrige halten den Mauerbau für alternativlos.
Und Sie dulden die.
Sollen wir sie ausschließen und damit wie die SED werden? Das war doch eine unserer historischen Aufgaben: Wir mussten die Eliten aus der DDR in diese Gesellschaft hinüberbringen. Entscheidend ist, welche Haltung sich durchsetzt. Ich kenne die Argumente für den Mauerbau. Aber sie überzeugen mich nicht. Erst recht geben sie keinen Grund, auf Menschen zu schießen.
Ihre Parteivorsitzende Gesine Lötzsch hat die Teilung Deutschlands als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Erweckt sie damit nicht den Eindruck, dass es für die Sowjetunion und die DDR keine Alternative zum Mauerbau gab?
Nein, sie hat auch gesagt, dass es keinen demokratischen Sozialismus hinter Mauern geben kann. Gesine wollte nur sagen, dass die deutsche Spaltung natürlich mit dem Überfall von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion zusammenhing. Klar, Geschichte folgt aus Geschichte. Das hilft uns aber nicht weiter. Gleich nach 1945 sind auch von Adenauer und Ulbricht die Möglichkeiten für eine Vereinigung verspielt worden.
Warum fällt es Lötzsch so schwer, den Mauerbau zu bedauern? Warum nimmt sie Termine in ihrem Wahlkreis Lichtenberg wahr, statt sich auf der Gedenkfeier an der Bernauer Straße blicken zu lassen?
Fragen Sie sie doch selbst.
Steckt dahinter der Versuch, bei der alten Klientel zu punkten?
Nein. Wozu auch?
Sind Sie es leid, in Ihrer Partei immer die Scherben aufsammeln zu müssen?
Ein bisschen war das mein Schicksal seit 1990. Ich verstehe, was bei einigen vorgeht: Manche verteidigen die DDR, um die eigene Biografie zu verteidigen. Wenn ich Grenzoffizier war, will ich mir natürlich nicht sagen lassen, dass ich in meinem Leben nur Mist gebaut habe. Aber es hilft nichts, die Mauer war nun mal Mist. Aber ich führe solche Streitgespräche – weil ich die Leute nicht aufgegeben habe und sie von einer wirklich demokratischen Linken überzeugen will. Und bitte: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die große Mehrheit in meiner Partei ganz anders denkt.
Der Streit schadet auch in den Landtagswahlkämpfen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Wer trägt die Hauptverantwortung, wenn die Linke verliert?
Die Umfragewerte in Berlin sind momentan nicht gut. Umso mehr müssen wir kämpfen. Was haben denn SPD und Grüne dafür getan, dass es in Ost und West gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt oder gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen? Nichts! Wem verdanken wir denn den ganzen Niedriglohnsektor? Und wer unterstützt den Krieg in Afghanistan? Stets die anderen. Es wird Zeit, dass wir das auch in Berlin wieder betonen. Wir dürfen nicht lahmarschig werden.
Zurück zur Finanzkrise: Haben Sie selbst eigentlich Geld gespart?
Ja, aber nicht viel. Als Student bin ich mit meinem Stipendium ausgekommen, heute komme ich mit meinem Gehalt aus. Aus irgendwelchen Gründen bleibt kaum etwas übrig.
Wie legen Sie Ihr Geld an?
Konservativ, ich habe keine Aktien.
Wetten Sie gelegentlich?
Nee. Ich spiele selten Lotto und bin dann jedes Mal enttäuscht, dass ich nicht gewinne.
Würden Sie darauf wetten, dass Gesine Lötzsch und Klaus Ernst im nächsten Jahr als Parteichefs wiedergewählt werden?
Ich bin davon überzeugt, dass sie auf jeden Fall bis zum Parteitag im Juni 2012 Vorsitzende sind. Ich finde den Vorschlag von Klaus Ernst gut, dass es vor der Wahl einen Mitgliederentscheid über die künftigen Parteivorsitzenden geben soll. Nach dem Programmparteitag im Oktober werden sich Kandidatinnen und Kandidaten melden. Ich werde mich in dieses Verfahren nicht einmischen.
Sie wollen nicht antreten?
Nein, garantiert nicht.
Mit der von Ihnen installierten Parteiführung sind viele nicht zufrieden.
Wenn ich Kompromisse suche, muss ich mich gelegentlich auch unbeliebt machen. Aber ich bin jetzt 63 und kann mit einer solchen Situation souveräner leben.
Ist Ihre Autorität angekratzt?
Ich bin nicht angekratzt. Wenn ich wirklich das Gefühl hätte, dass meine Autorität deutlich gesunken wäre, würde ich Konsequenzen ziehen. Alles muss ich mir ja nicht mehr antun. Oder?
Das Gespräch führten Cordula Eubel und Matthias Meisner.
Gregor Gysi wurde am 26. Januar 1948 geboren. Er machte in der DDR eine Ausbildung als Rechtsanwalt. Anschließend studierte er Jura, verteidigte als Rechtsanwalt auch DDR-Oppositionelle.
Im Dezember wurde Gysi Vorsitzender der SED/PDS, er blieb das bis 1993. Jahrelang führte er die PDS im Bundestag. 2005 brachte er zusammen mit Oskar Lafontaine die Linke im Bund an den Start. Vier Jahre lang führte er die neue Bundestagsfraktion gemeinsam mit ihm, seitdem allein.
Im Herbst will die 76-köpfige Bundestagsfraktion Gysi als ihren Vorsitzenden bestätigen. Ob es dann wieder eine Doppelspitze geben wird – womöglich mit Sahra Wagenknecht als Ko-Chefin – ist noch nicht entschieden. In jedem Fall gibt es Pläne, wonach Gysi bei der Bundestagswahl 2013 wieder Spitzenkandidat werden soll.
Matthias Meisner, Cordula Eubel