Koalitionsverhandlungen: Heftige Kritik am Pflege-Kompromiss von Union und SPD
Union und SPD haben sich auf Sofortmaßnahmen für bessere Pflege verständigt. Doch aus Expertensicht reicht das bei weitem nicht.
Eine bessere Bezahlung von Kranken- und Altenpflegern, dazu ein Sofortprogramm für 8000 neue Fachkräfte: Klingt gut, worauf sich Union und SPD jetzt in ihren Koalitionsverhandlungen verständigt haben. Doch bei näherem Hinsehen ist der "große Schub", dessen sich Gesundheitsminister Hermann Gröhe am Mittwoch rühmte, eher überschaubar ausgefallen. Und den "Durchbruch", den SPD-Experte Karl Lauterbach verkündete, vermögen Pflegeexperten nicht wirklich zu sehen.
Eine halbe Zusatzkraft pro Pflegeheim
8000 neue Stellen in der medizinischen Behandlungspflege – das macht rein rechnerisch grade mal eine halbe Zusatzkraft für jedes der rund 13.600 Heime in Deutschland. Die Frage, woher die neuen Kräfte kommen sollen, wo sich freie Stellen doch jetzt schon kaum noch besetzen lassen, wird nicht beantwortet. Höhere Löhne kann sich die Politik zwar wünschen, aber nicht eigenmächtig festsetzen. Und die Finanzierung der angekündigten Verbesserungen blieb ebenfalls offen. Lediglich für das Sofortprogramm gab es das Versprechen, dass das Geld von der Kranken- und Pflegeversicherung kommen solle.
Entsprechend vernichtend fielen die Reaktionen der Branche aus. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe nannte die Ergebnisse „völlig unzulänglich“. Der dramatische Pflegenotstand in Krankenhäusern, Heimen und ambulanten Diensten werde „mit minimalsten Maßnahmen“ kaschiert, sagte Verbandspräsidentin Christel Bienstein. Es sei „kaum zu glauben, dass die Politik noch immer nicht versteht, wie brisant die Pflegesituation in Deutschland tatsächlich ist. Mit Ansätzen, die schon in den vergangenen Jahren ins Leere liefen, wird gar nichts bewegt.“
"Schwer enttäuscht" ist auch der Deutsche Pflegerat. Wenn Union und SPD nicht noch nachlieferten, wäre das aus der Sicht ihres Präsidenten Franz Wagner "ein Politikversagen vor der Krise der Pflegeberufe und eine Gefährdung der Versorgung". Das Ergebnis bleibe weit hinter dem der Jamaika-Sondierer zurück. Außerdem würden damit Zusagen im Wahlkampfendspurt gebrochen.
Sozialverbände: Ein schlechter Witz
Ähnlich heftige Kritik hagelte es von den Sozialverbänden. Gemessen an den Wahlkampfversprechen von Schulz und Merkel sei das jetzt Gebotene „ein schlechter Witz", hieß es beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Nötig seien nicht 8000, sondern 100 000 zusätzliche Pflegekräfte. Das Versprechen, Tarifverträge zu vereinfachen und für gerechte Löhne zu sorgen, sei „ein ungedeckter Wechsel“, befand die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Schließlich seien die Regierenden kein Tarifpartner. Und was die Kosten betreffe, hätten Heimbewohner für ihre Behandlungspflege schon jetzt jährlich drei Milliarden Euro zuzuschießen. Weitere Belastungen seien den Betroffenen nicht zuzumuten.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung rechnet für 2035 mit 270.000 fehlenden Fachkräften in Pflege- und Gesundheitsberufen. Die Bertelsmann Stiftung beziffert die Lücke gar auf 500.000. Und schon jetzt suchen die Träger händeringend. Im März 2017 kamen auf 14.600 offene Altenpflegestellen nur 3000 arbeitslos gemeldete Fachkräfte.
Tarifverträge sollen für alle gelten
Das alles ist kein Wunder, denn die Arbeitsbedingungen sind heftig, und die Bezahlung ist mies. Nach einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verdienen examinierte Altenpflegerinnen mit 2.621 Euro brutto 16 Prozent weniger als Durchschnittsarbeitnehmer. Pflegehelferinnen kommen im Schnitt grade mal auf 1870 Euro.
Die Gegenstrategie der Groko-Verhandler: Tarifverträge sollen künftig leichter als allgemeinverbindlich erklärt werden können, also auch für die vielen Pflegeeinrichtungen gelten, die nicht tarifgebunden sind. Und der Pflegemindestlohn im Osten soll dem des Westens angeglichen werden. Er stiege dann von 10,05 auf 10,55 Euro pro Stunde.
Einkommen von Kindern wird stärker geschont
Wenn es schon bei den Pflegekräften bescheiden bleibt, wollen die Groko-Verhandler wenigstens bei den besser verdienenden Angehörigen punkten. Um sie vor "finanzieller Überforderung" zu schützen, beschlossen Union und SPD, bei Pflegebedürftigen erst auf das Einkommen der Kinder zurückzugreifen, wenn diese mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen.
Auch pflegenden Angehörigen soll stärker geholfen werden, etwa durch einen Rechtsanspruch auf Rehabilitationsleistungen. Und für Kurzzeit-, Verhinderungs-, Tages- und Nachtpflege soll es künftig nur noch ein gemeinsames Budget und dadurch deutlich weniger Papierkram geben.