Heftige Kritik an Merkel in der "ARD-Wahlarena": Pflege nur ganz am Rande
Fast jeder Zweite will seine Wahlentscheidung vom Umgang der Parteien mit dem Thema Pflege abhängig machen. Dennoch spielte es im Wahlkampf kaum eine Rolle - bis Montag abend.
Nein, es war nicht die umstrittene Obergrenze für Flüchtlinge – und auch nicht der Ärger mit der Türkei oder der über den Dieselskandal. Am härtesten angegangen wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montagabend in der ARD-Wahlarena zu einem ganz anderen Thema.
"Menschenwürde tausendfach verletzt"
In Deutschlands Krankenhäusern und Pflegeheimen werde die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen „tausendfach verletzt“, klagte der Hildesheimer Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde vor einem Millionenpublikum an den Bildschirmen. Wegen überlasteter Pflegekräfte müssten Menschen, die das Land mit aufgebaut hätten, „stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen“. Und das, obwohl im CDU-Programm doch stehe, dass sich keiner um die Betreuung in Alter und Krankheit sorgen müsse. Der Befund des 21-Jährigen: Merkel habe in den zwölf Jahren ihrer Kanzlerschaft „nicht viel für die Pflege getan“.
Es folgt das Übliche. Die Kritisierte lobt den jungen Mann für seine Berufswahl. Sie verweist auf Reformen, durch die fast 20 Prozent mehr Geld ins System fließe. Verspricht, sich für weitere Verbesserungen einzusetzen. Und schließt mit der Hoffnung, „dass es in zwei Jahren besser ist“. Worauf der Fragesteller erbost nachhakt: „Wie wollen Sie es denn schaffen, dass in zwei Jahren genügend Pflegekräfte da sind? Die fallen ja nicht vom Himmel!“
Pflegerats-Präsident beklagt Ignoranz der Politik
Der Fachkräftemangel in der Branche sei für ihn ein viel zu kleines Thema im Wahlkampf, resümiert Jorde nach der Sendung. Beim Deutschen Pflegerat sieht man das genauso. Die Ignoranz der Politik gegenüber der so viele Menschen umtreibenden Probleme mache ihn „fassungslos“, sagt Präsident Andreas Westerfellhaus. „1,2 Millionen Pflegekräfte, dazu fast drei Millionen Pfegebedürftige und ihre nahen Angehörigen – das ist doch eine gigantische Zahl von Wählern.“ Doch beim TV-Duell der beiden Kanzlerkandidaten schafft es die Pflege grade mal in einen Halbsatz des Herausforderers beim Schlussresümee.
Tatsächlich ist die Randständigkeit des Themas im Wahlkampf erstaunlich. In einer Umfrage vor einem halben Jahr hatten 43 Prozent der Bürger die Position der Kandidaten zur Pflege immerhin als „sehr wichtig“ für ihre Wahlentscheidung bezeichnet. In der für den Wahlausgang besonders maßgeblichen Altersgruppe der über 50-Jährigen waren es sogar 53 Prozent. Und 55 Prozent hatten der Politik auch klar bedeutet, dass die Qualität der Pflege in Heimen und Kliniken dringend verbessert werden müsse.
Attraktivität des Berufs lässt sich nicht mal schnell per Gesetz erhöhen
Kann es sein, dass sich die Wahlkämpfer vor dem Thema drücken, weil sie schlussendlich auch keine Lösungen haben? Weil sich die Attraktivität eines Berufs nicht mal schnell per Gesetz erhöhen lässt? Weil die Politik den Tarifpartnern trotz ihres Wunsches nach besserer Bezahlung für Pflegekräfte nicht ins Geschäft zu funken hat? Weil Pflegequalität in unserem System über die Selbstverwaltung sicherzustellen ist und nicht durch Einmischung von Vater Staat?
Zunächst einmal gebe es dieses grundsätzliche Missverständnis, sagt Westerfellhaus: Man reformiert, beschließt beispielsweise eine Neudefinition von Pflegebedürftigkeit mit differenzierteren Begutachtungsverfahren – und kann verkünden, sich politisch gekümmert zu haben. Nachzulesen im CDU-Regierungsprogramm, Seite 39: „Die vergangenen Regierungsjahre waren gute Jahre für Gesundheit und Pflege.“
Zu wenig Personal - und schon wollen Arbeitgeber die Fachkraftquoten senken
Doch dafür, dass man die schönen Gesetze auch umsetzen könne, sei „null passiert“, ärgert sich der Pflegefunktionär. Und die Hilflosigkeit gipfele darin, dass Arbeitgeber und Politiker nun ernsthaft den Vorschlag machten, die Fachkraftquoten abzusenken - statt sie zu erhöhen, wie es wegen der steigenden Zahl von Multimorbiden, Dementen und stärker Betreuungsbedürftigen in Heimen und Kliniken eigentlich nötig wäre.
Aus der Sicht von Westerfellhaus ist das ein „Offenbarungseid für die Patientensicherheit“.
Branche will das Thema als "Chefsache im Kanzleramt"
Damit nicht alles auseinanderfliege, müsse die Pflege „Chefsache im Kanzleramt“ werden, meint der Pflegerats-Präsident. Nötig sei eine massive Interessenvertretung per Bundespflegekammer, die schnelle Festlegung auf Personalstandards, klare Vorgaben zur Berufsanerkennung für Einwanderer – und eine gesellschaftliche Allianz für einen Paradigmenwechsel.
Wer das nicht wolle, sei für Millionen von Menschen nicht wählbar.