Sachsengespräch mit Landeschef Kretschmer: "Haut ab!" draußen, Buhrufe drinnen
Ministerpräsident Michael Kretschmer stellt sich in Chemnitz dem Gespräch mit Bürgern. Angenehm ist das nicht.
Er wäre schon froh, wenn der Abend ohne Pöbeleien ablaufe, sagt ein Besucher kurz vor Beginn. Er wird am Ende vielleicht ein bisschen enttäuscht sein. Denn die Stimmung in Chemnitz ist angespannt, gereizt, aggressiv. Mehr als 550 Besucher kamen am Donnerstagabend zum „Sachsengespräch“ ins Chemnitzer Stadion, um mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) und Ministern der Staatsregierung zu sprechen. Der lang geplante Termin sei in den Tagen nach den Demonstrationen mit zahlreichen Anhängern rechter Gruppierungen, Hitler-Gruß-Gesten und Neonazi-Parolen „ein besonderes Gespräch“, sagt Kretschmer.
Etwa eine Stunde vor Beginn der Diskussionsrunde stehen schon rund 200 Menschen vor dem Eingang des Stadions in Chemnitz. Wer hinein will, muss seine Tasche kontrollieren lassen und den Ausweis zeigen. Alle Interessierten mit Wohnsitz in Sachsen haben Zutritt. Die Staatskanzlei will verhindern, dass auswärtige Randalierer die Veranstaltung sprengen.
Verhaltener Applaus und Buhrufe
Als die Regierungsmannschaft kurz nach 19 Uhr auf die Bühne kommt, gibt es noch verhaltenen Applaus. Nur als Kretschmer das für Montag in Chemnitz angekündigte Konzert der lokalen Kultband Kraftklub gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit lobt, tobt der Saal. „Buh“ und „Pfui“, schreien viele Besucher. „Nun hört doch erst mal zu, bevor ihr hier rumbrüllt“, sagt eine Frau. Auch Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig wird lautstark ausgebuht. „Ich habe bei Ihnen vermisst, dass Sie sich vor die Bürger Ihrer Stadt stellen“, wird ihr später ein älterer Herr sagen. „Das nehmen Ihnen die Leute hier übel.“ Ludwig hatte nach den Demos erklärt, sie sei „entsetzt“.
Kretschmer beginnt mit einer Schweigeminute für Daniel H. „Wir erinnern an einen Chemnitzer Bürger, Daniel, um den seine Angehörigen, seine Frau und Freunde trauern“, sagt er. „Wir alle sind in Gedanken bei Ihnen und werden alles dafür tun, dass dieses Verbrechen aufgeklärt und gesühnt wird.“ Die Geste kommt beim Publikum gut an. Der 35-jährige Tischler aus Chemnitz war am vorigen Wochenende mit einem Messer getötet worden. Ein mehrfach vorbestrafter Iraker und ein Syrer sitzen als mutmaßliche Täter in Untersuchungshaft. Die Tat hat viele Bürger der Stadt tief erschüttert.
Draußen stehen 2000 Demonstranten
Von draußen hört man in diesem Moment im Saal die „Haut ab, Haut ab“-Rufe der schätzungsweise 1500 bis 2000 Demonstranten. Die Kundgebung hatte die rechtspopulistische Vereinigung Pro Chemnitz angemeldet. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot im Einsatz.
Kretschmer hofft, dass „wir uns hart in der Sache, aber anständig im Ton ehrlich sagen, was wir fühlen und was uns aufregt“. Wie es in Chemnitz üblich sei. Das wird in den anderthalb Stunden nicht durchgehend der Fall sein. Die Stimmung im kleinen Saal in der zweiten Etage, in dem der Ministerpräsident sitzt, ist hitzig, Kretschmer wird immer wieder unterbrochen, manchmal geht es auch laut zu. „Langsam, langsam“, versucht er die Menschen zu beruhigen.
Die Themen des Abends: Gewalt von Migranten, gefährliche Orte in Chemnitz, der Umgang mit Asylbewerbern. „Ich, meine Kinder und meine Enkel haben Angst“, sagt eine Frau. Sie fühle sich nicht mehr sicher in der Stadt, junge Asylbewerber würden sie „mit ihren Blicken ausziehen“. Kretschmer verspricht, das zu ändern. Er werde sich für Kooperationen von Kommune, Handel und Gastronomie einsetzen, um das Sicherheitsgefühl der Bürger zu erhöhen. Auch die Polizei soll stärker vor Ort sein, „wie in Dresdenweiter zur Lokalausgabe Dresden. Da haben wir das auch geschafft.“ Das werde er mit Innenminister Roland Wöller klären.
Personalprobleme bei der Polizei
Der sitzt derweil in der ersten Etage, sein Tisch wird regelrecht belagert. Auch hier geht es vor allem um Asyl, Grenzkontrollen und Personalprobleme bei der Polizei. Auch Justizminister Sebastian Gemkow (beide CDU) hat an diesem Abend gut zu tun. Er ist mit seiner Staatssekretärin gekommen, um die vielen Fragen zu beantworten. Am Tisch des Kultusministeriums ist es dagegen ungewöhnlich entspannt. Bei den vorherigen Dialog-Runden in mehreren Städten waren Lehrerverbeamtung, beitragsfreie Kitas und längeres gemeinsames Lernen noch die Top-Themen.
"Hauptsächlich normale Bürger" auf Demos
Die Chemnitzer sparen vor allem nicht mit Kritik an „den Medien“. Die Demonstrationen vom vergangenem Sonntag und Montag seien aus Sicht einiger pauschal als Nazi-Demo verurteilt worden. „Dort waren hauptsächlich normale Bürger“, sagt eine Frau. Die rechten Gruppen habe keiner da gewollt. Dass genau diese Gruppen die Demonstrationen überhaupt erst angemeldet hatten, erwähnt sie nicht. Der Ministerpräsident weist sie deutlich darauf hin. Sagt aber auch: „Von Hetzjagd und Pogrom zu sprechen, ist überzeichnet.“ Chemnitz sei nicht rechts, „diese Stadt ist nicht braun“. Allerdings habe es die Hitlergrüße gegeben, auch das gehöre zur Realität.
„Wir müssen uns eine gemeinsame Faktenbasis erarbeiten“, ist Kretschmers Fazit zum Abschluss. Was ist Realität? Was stimmt? Was sind Fake-News? „Wie sollen wir sonst miteinander leben, ohne die gleiche Basis?“ Am Ende bedankt sich der Ministerpräsident für die „sehr intensive, vernünftige Diskussion“. Er werde noch für alle Fragen bleiben, wenn es sein muss bis 2 Uhr morgens oder länger. Um 7 Uhr müsse er aber los. Seine Kinder in den Kindergarten schaffen. (Andrea Schawe/Sächsische Zeitung)