Putins Krieg gegen die Städte: Hafenstadt Mariupol steht vor einer humanitären Katastrophe
Russlands Armee beschießt zivile Ziele in der Ukraine. Eine Evakuierung in der Hafenstadt Mariupol ist gescheitert. Putins nächstes Ziel könnte Odessa sein.
Wadym Boitschenko sitzt vor einer ukrainischen Flagge, er blickt ernst und müde in die Kamera. Unter seinen Augen dunkle Ringe. Einem ukrainischen TV-Sender berichtet der Bürgermeister von der „humanitären Blockade“, der seine Stadt Mariupol ausgesetzt sei. Russische Einheiten hätten alle 15 Stromleitungen in die Stadt ausgeschaltet. Da die Heizkraftwerke Strom benötigten, sitze man in der Kälte. Der Mobilfunk funktioniere nicht. Die Wasserversorgung habe man auch verloren. Das russische Militär sei sehr methodisch vorgegangen.
Boitschenko berichtet in dem gut zehnminütigen Interview von den tagelangen Bombardierungen, vom Beschuss durch die russische Armee. Die Zahl der Verletzten sei zuletzt in die „Tausende“ gestiegen. Wie viele Menschen ums Leben gekommen seien, sei schwer zu zählen. Boitschenko spricht von „Ruinen“ und „kolossaler Zerstörung“. Er sagt: „Das Mariupol, das sie kannten, gibt es nicht mehr.“
Greift die russische Armee gezielt bewohnte Gebiete an, um die Moral der Ukrainer zu brechen? In einem Bericht des britischen Militärgeheimdienstes heißt es laut der Nachrichtenagentur Reuters, das russische Militär sei noch immer überrascht über das Ausmaß und die Stärke des ukrainischen Widerstands. Die massiven Angriffe auf Städte wie Mariupol, Charkiw und Tschernihiw seien eine Reaktion darauf.
200.000 Zivilisten sollen die Stadt verlassen
Zwar wurde sowohl am Samstag als auch am Sonntag in Mariupol versucht, Zivilisten über sogenannte humanitäre Korridore aus der 440.000-Einwohner-Stadt zu bringen. Jeweils war eine begrenzte Feuerpause vereinbart worden. Doch die geplante Evakuierung am Samstag scheiterte. Die Ukraine und Russland beschuldigten sich gegenseitig, die vereinbarte Waffenruhe gebrochen zu haben. Auch am Sonntag war der Versuch weitgehend ohne Erfolg. Nur 300 Menschen sollen aus der Stadt gelangt sein. Insgesamt sollen nach Angaben der ukrainischen Regierung aber 200.000 Zivilisten Mariupol verlassen.
Geheimdienste sehen sowohl den Beschuss der Städte wie auch die humanitären Korridore als Teil der russischen Strategie. Es ist nicht das erste Mal, dass Russland eine lokale Bevölkerung auffordert, ein umkämpftes Gebiet zu verlassen. Das hatte teils verheerende Folgen. In der syrischen Rebellen-Hochburg Aleppo kam es zum Beispiel 2016 immer wieder zu mehrtägigen Feuerpausen. Später folgten schwere Angriffe der syrischen Truppen und massive Luftschläge der russischen Verbündeten. Am Ende lag Aleppo in Schutt und Asche.
Ähnlich war es in Grosny, der Hauptstadt der seinerzeit abtrünnigen russischen Teilrepublik Tschetschenien. Ende 1999 rief Moskau Zivilisten auf, die Stadt im Kaukasus innerhalb weniger Tage über sichere Korridore zu verlassen. Nach Wochen erbitterter Kämpfe wurde die Infrastruktur komplett zerstört.
Mariupol ist von strategischer Bedeutung
Bereits jetzt zeigen Aufnahmen Wohngebiete in Mariupol, die unter Beschuss genommen wurden. Rauchschwaden zwischen Wohnblöcken, zerstörte Einfamilienhäuser. „Ärzte ohne Grenzen“ beschreibt die humanitäre Lage in der Stadt als „katastrophal“. Zusätzlich zum Fehlen von Strom, Wärme und Wasser gehen langsam die Lebensmittelvorräte in der Stadt zur Neige. In einem Video des Nachrichtensenders „Welt“ sagt eine ältere Frau: „Wir haben keine Vorräte mehr, die Läden sind leer.“ Hinter ihr ist eine lange Schlange zu sehen.
Die Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine ist für Russland auch von strategischer Bedeutung. Wenn die Stadt von Russland eingenommen wird, erlangt Wladimir Putin die Kontrolle über die gesamte Küste des asowschen Meeres. Es geht um eine Landbrücke zur annektierten Halbinsel Krim.
Bislang lässt sich nicht unabhängig verifizieren, was der Grund für das Scheitern der Feuerpause war. In den Tagesthemen berichtete der stellvertretende Bürgermeister Mariupols, Serhij Orlow, dass man am Samstag vorhatte, 3000 Bürger mit städtischen Bussen zu evakuieren und 2000 Personen mit ihren eigenen PKW. Um 9 Uhr morgens ukrainischer Zeit sollte die Waffenruhe einsetzen. Diese habe aber nur 30 Minuten gehalten. „Danach gab es wieder Dauerbeschuss von russischen Waffen, Artilleriebeschuss, Raketen, die einschlugen.“ Die Leute seien zurück gegangen in die Bunker und ihre Häuser.
Historiker spricht von „Urbizid“ in der Ukraine
Zum Vorwurf der russischen Seite, es seien ukrainische Truppen gewesen, die die Feuerpause gebrochen hätten, sagte Orlow: „Nein, das stimmt einfach nicht.“ Gezielt seien mit Artillerie und Raketen die Sammelplätze für die Menschen beschossen worden, die die Stadt verlassen wollten. „Bomben gingen genau an den Stellen nieder“, sagte Orlow. Zudem hätten die Russen 20 der 50 Busse, die für die Evakuierungsaktion zur Verfügung standen, zerstört. „Die russische Armee begeht Kriegsverbrechen. Das ist militärische Gewalt gegen Zivilisten“, sagte Orlow. „Das einzige Ziel besteht darin, Mariupol zu verstören und so viele Ukrainer wie möglich zu töten.“
Es ist – das wurde in den vergangenen Tagen immer deutlicher – auch ein Krieg gegen die Städte, den Putin in der Ukraine führt. Der Historiker und Ost-Europaexperte Karl Schlögel spricht von einem „Urbizid“ – Städtemord. So wie von Grosny nichts geblieben sei, drohe das nun der Ukraine.
Unklar ist, ob das, was die eingeschlossenen Menschen derzeit in Mariupol erleben, demnächst auf die Hauptstadt Kiew zukommt. Russische Truppen rücken immer weiter vor. Der ukrainische Generalstab teilte am Sonntagmorgen mit, der Hauptfokus der russischen Offensive sei weiter die Umzingelung der Städte Kiew, Charkiw im Osten und Mykolajiw im Süden.
Odessa könnte das nächste Ziel sein
Russische Einheiten versuchten, in die Außenbezirke von Kiew einzudringen. In der Region hinterließen die Angriffe eine Spur der Verwüstung. Umkämpft ist etwa die Kleinstadt Irpin. Filmaufnahmen zeigen Luftangriffe auf diesen westlichen Vorort von Kiew, Menschen, die eine zerstörte Brücke überqueren, um sich in Sicherheit zu bringen.
Und die Ukrainer fürchten um weitere Städte. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den vorrückenden russischen Truppen vor, als nächstes die historischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer in den Blick zu nehmen. „Sie bereiten die Bombardierung von Odessa vor. Odessa!“, sagte der Staatschef am Sonntag in einer Videobotschaft. „Das wird ein Kriegsverbrechen, das wird ein historisches Verbrechen.“
Selenskyj hat nun erneut die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine gefordert. Doch darauf kann die Nato nicht eingehen, ohne selbst zur Konfliktpartei zu werden. (mit dpa, Reuters)