Evakuierung von Mariupol verschoben: Ein Überblick zur aktuellen Situation in der Ukraine
Für Mariupol hatte das russische Verteidigungsministerium eine Waffenruhe angekündigt. Durch die Nicht-Einhaltung wurde die Evakuierung der Stadt verschoben.
Nach einer weiteren Kriegsnacht bereitet sich die Ukraine auf eine neue Verhandlungsrunde mit Russland über einen Waffenstillstand vor. Doch waren Kämpfe und Kriegsrhetorik auch in der Nacht zum Samstag ungebrochen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte der Nato bittere Vorwürfe, weil sich die westliche Allianz nicht militärisch in den Konflikt einbringen will. In einer Live-Schalte zu Solidaritätsdemos in Europa warnte Selenskyj: „Wenn die Ukraine fällt, werden alle fallen.“
Waffenruhe für humanitäre Korridore
Die Ausreise von Zivilisten aus der eingekesselten Stadt Mariupol wird nach Angaben des dortigen Stadtrates verschoben. Der Grund sei, dass die russischen Truppen die Feuerpause nicht einhielten, teilt der Stadtrat mit. Eigentlich war ein humanitärer Korridor für fünf Stunden ab 10.00 Uhr (MEZ) geplant.
Das russische Verteidigungsministerium hatte eine Feuerpause für Mariupol und Wolnowacha im Osten der Ukraine angeordnet, damit Zivilisten aus den von russischen Streitkräften belagerten Städten herausgeholt werden können.
Die Hafenstadt Mariupol mit einer halben Million Einwohnern sowie die Kleinstadt Wolnowacha stehen seit Tagen unter dem militärischen Druck der vorrückenden russischen Armee. Der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, hatte zuvor in Appellen an die Öffentlichkeit auf die dramatische Situation für die Menschen in seiner Stadt aufmerksamn gemacht.
Nach tagelangen Angriffen stehe Mariupol nunmehr unter russischer Blockade, erklärte Boitschenko. „Im Moment suchen wir nach Lösungen für die humanitären Probleme und nach möglichen Wegen, um Mariupol von der Blockade zu befreien“, erklärte er im Messengerdienst Telegram. Priorität habe eine Feuerpause, „um Lebensmittel und Medikamente in die Stadt zu bringen“.
Boitschenkos Stellvertreter Sergej Orlow hatte am Freitag in der BBC von einer „furchtbaren“ humanitären Situation in Mariupol gesprochen, nachdem die Stadt über 40 Stunden lang beschossen worden sei. Orlow warf den russischen Streitkräften auch Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser vor.
Mariupol liegt in der Nähe der früheren Frontlinie zwischen pro-russischen Separatisten aus der Ostukraine und der ukrainischen Armee. Die Einnahme der Hafenstadt würde einen Zusammenschluss der russischen Truppen mit Einheiten aus der Krim und dem Donbass ermöglichen.
200 000 Menschen werden Mariupol laut Behörden verlassen
Die ukrainischen Behörden rechnen derweil damit, dass mehr als 200 000 Menschen die Hafenstadt Mariupol in der Region Donezk während der Waffenruhe verlassen werden. Das sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Samstag dem ukrainischen Portal „strana.news“ zufolge. Für die Stadt Wolnowacha ging sie von 15 000 Menschen aus.
Nach Angaben der Stadt soll es Evakuierungen an mehreren Tagen geben. Es stünden Busse bereit, außerdem könnten Einwohner mit eigenen Autos die Stadt auf vorgeschriebenen Routen verlassen. „Nehmen Sie so viele Menschen mit wie möglich“, appellierte die Stadt. Die Evakuierung sei keine leichte Entscheidung gewesen, sagte Boitschenko.
Der Sprecher der Aufständischen im Gebiet Donezk, Eduard Bassurin, sagte der Agentur Interfax zufolge, ein „nationalistisches Bataillon“ soll in Mariupol eine Explosion in einem mehrstöckigen Wohnhaus verursacht haben. Der Zeitpunkt des Vorfalls war zunächst unklar.
Etwa 200 Menschen hätten sich zu der Zeit in einem Keller Schutz gesucht. Sie seien eingeschlossen worden. Eine Bestätigung von ukrainischer Seite gab es zunächst nicht. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Das Kriegsgeschehen
Nach Angaben der ukrainischen Armee setzen russische Truppen ihre Offensive mit Luftunterstützung und dem Einsatz von Hochpräzisionswaffen fort. Die russische Seite versuche, die Hauptstadt Kiew und die Millionenmetropole Charkiw zu umzingeln, hieß es in der Nacht zum Samstag.
Auch die Großstadt Mariupol mit 440 0000 Einwohnern stand unter Druck. Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach in der Nacht zu Samstag auf Telegram von einer „Blockade“ und sagte, er hoffe auf einen humanitären Korridor aus der Stadt.
Im Osten hätten russische Truppen vor, von den Separatistengebieten Luhansk und Donezk einen Landkorridor zur von Russland annektierten Halbinsel Krim zu schaffen, auch die Verteidigung der Stadt Mariupul stehe unter Druck. Doch schlügen ukrainische Kräfte zurück und brächten Angreifern Niederlagen bei.
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Die Darstellung kann nicht unabhängig geprüft werden, ebensowenig wie russische Angaben. Die russische Agentur Tass berichtete, die ukrainische Armee habe binnen 24 Stunden dreimal zwei Siedlungen in der selbst erklärten Volksrepublik Luhansk beschossen. Details zu möglichen Opfern oder Schäden gebe es noch nicht.
Verlässliche Informationen zum Krieg dürften nun noch spärlicher werden. Denn in Reaktion auf ein neues Mediengesetz in Russland stellen mehrere internationale Sender und Agenturen ihre Arbeit dort ganz ganz oder teilweise ein, darunter CNN, die BBC und der kanadische Sender CBC.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Freitagabend mehrere Gesetze unterzeichnet, wonach für „Falschinformationen“ über die russischen Streitkräfte Haftstrafen drohen. Im ukrainischen Kriegsgebiet wiederum sind Journalisten in Gefahr. Ein Fernsehteam des britischen Senders Sky News geriet am Freitag in der Nähe von Kiew unter Beschuss.
Dritte Verhandlungsrunde der Kriegsparteien
Die angekündigte dritte Verhandlungsrunde über einen Waffenstillstand soll an diesem Wochenende vermutlich wieder in Belarus stattfinden. Ein genauer Termin wurde zunächst nicht genannt. Der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow erklärte, Russland wolle die Ukraine nicht zerteilen.
Es gehe Moskau um Sicherheitsgarantien, zitierte ihn die Agentur Tass. Er hoffe, dass die Ukraine bei den Verhandlungen die russischen Forderungen akzeptiere. Putin hat aber unter anderem das Ziel ausgegeben, die ukrainische Führung abzusetzen.
Ukraine enttäuscht von der Nato
Die Ukraine hatte zuletzt die Nato aufgefordert, eine Flugverbotszone über dem Kriegsgebiet durchzusetzen. Das lehnt das westliche Bündnis ab, weil es eine direkte Beteiligung an Kriegshandlungen nach sich ziehen könnte.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg machte dies am Freitag erneut deutlich. Darauf reagierte der ukrainische Präsident Selenskyj enttäuscht. Damit habe die Allianz grünes Licht für eine weitere Bombardierung ukrainischer Städte und Dörfer gegeben, sagte er in einer Videoansprache.
In seiner Live-Schalte an Demonstranten in Frankfurt und mehreren anderen europäischen Städten rief Selenskyj die Menschen in Europa auf: „Schweigt nicht, geht auf die Straße, unterstützt die Ukraine.“
Migrationsforscher befürchtet sich verschlimmernde Flüchtlingskatastrophe
In Deutschland und anderen EU-Staaten kommen immer mehr Flüchtlinge an, die sich vor dem Krieg in Sicherheit bringen. Nach Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR waren bis Freitag mehr als 1,25 Millionen Menschen geflohen.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, Europa müsse sich auf bis zu zehn Millionen Flüchtende und auf die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg einstellen.
Nach Einschätzung des Welternährungsprogramms WFP könnten wegen des Kriegs Nahrungsmittel und Trinkwasser an einigen Orten der Ukraine knapp werden. Die Lage habe sich für die Menschen dramatisch zugespitzt, sagte WFP-Vertreter Martin Frick der Funke-Mediengruppe.
Lindner will Bundeswehr zur wirksamsten Armee Europas machen
Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte den Flüchtlingen in der „Rheinischen Post“ weitere Hilfe zu. Zugleich forderte der FDP-Politiker, den höchstmöglichen Druck auf Russland auszuüben und keinerlei Nachgiebigkeit zu zeigen. „Kein Appeasement“, sagte er.
Zudem bekräftigte er das Ziel, mit den geplanten Milliarden-Investitionen die Bundeswehr zur schlagkräftigsten Truppe Europas zu machen.
Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) nannte den Krieg bei einer Veranstaltung in Saarbrücken einen „Realitätsschock“ in Europa. Man müsse nun gemeinsam akzeptieren, dass die Sanktionen gegen Russland Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, Energieversorgung, Arbeitsplätze und Lebenshaltungskosten hätten.
Die Energiepreise waren in den vergangenen Tagen in die Höhe geschossen und die Börsen unter Druck geraten. Am Freitag zog die Angst vor einer nuklearen Katastrophe im Zuge des Krieges die US-Aktienmärkte in Mitleidenschaft.
Hintergrund waren Kämpfe am europaweit größten Atomkraftwerk in der Nähe der ukrainischen Großstadt Saporischschja. Die USA schließen auch ein Importverbot für russisches Öl nicht aus, wie Außenminister Antony Blinken am Freitag nach Gesprächen in Brüssel deutlich machte. „Nichts ist vom Tisch.“
Das wird heute wichtig
In Deutschland sind auch für Samstag zahlreiche Friedensdemonstrationen im mehreren Städten angekündigt, allein in Hamburg wird mit rund 50.000 Teilnehmern gerechnet. (dpa)