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Reisende stehen in der Abflughalle im Terminal 1 am Flughafen in Frankfurt.
© Andreas Arnold/dpa

Anstieg der Coronazahlen in Deutschland: Habt ihr eigentlich gar nichts gelernt?

Vieles deutet darauf hin, dass sich die Pandemie in Deutschland wieder verstärkt. Noch beunruhigender als die hohen Zahlen ist die Reaktion darauf. Ein Zwischenruf.

Ein Zwischenruf von Benjamin Reuter

Den zweiten Tag in Folge liegt die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Deutschland dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge bei rund 800. Ähnlich hohe Werte hatte es zuletzt Mitte Juni gegeben, als der Skandal um die Tönnies-Fleischfabrik losbrach und die Statistik verzerrte. Ansonsten muss man bis Mitte Mai zurückgehen, um ähnlich hohe Fallzahlen zu finden.

Die Frage, die sich stellt: Handelt es sich um eine Momentaufnahme oder um erste Hinweise auf einen beunruhigenden Trend? Für die zweite These spricht: 

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sieht Deutschland angesichts dieser Entwicklung mitten in einer zweiten Verbreitungsphase des Virus: „Die zweite Corona-Welle ist schon da“, glaubt er. Und weiter: „Sie findet bereits jeden Tag statt. Wir haben jeden Tag neue Infektionsherde, aus denen sehr hohe Zahlen werden könnten.“

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Sicher, für solch weitreichende Aussagen ist es früh. Vielleicht zu früh. Schon öfter flackerte das Virusgeschehen kurzzeitig wieder auf, um sich dann wieder abzuschwächen. Und dennoch: Die aktuell starke Zunahme macht Sorgen. „Diese Entwicklung ist sehr beunruhigend und wird vom RKI weiter sehr genau beobachtet“, sagte eine Sprecherin des Instituts am Freitag.

Bleibt die Frage: Wie reagieren Politik und Bürger? Die Antworten sind vielleicht noch beunruhigender als die Entwicklung der Zahlen selbst.

Anstieg der Corona-Fallzahlen: Die drei großen Baustellen

Baustelle Nummer 1: Die Urlauber

Zwar können sich Reiserückkehrer jetzt kostenlos an Flughäfen testen lassen, aber eine Verpflichtung selbst für Rückkehrer aus Risikogebieten gibt es nicht.

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Das erinnert fatal an die Anfangszeit der Pandemie, als Fluggäste aus China und dem Iran einfach so ins Land einreisen konnten. Von Hotspots wie Ischgl, die über Wochen von den Behörden ignoriert wurden, gar nicht zu reden.

Baustelle Nummer 2: Die Corona-App

Lange pries sie die Regierung als Allzweckwaffe im Kampf gegen die Pandemie. Nun zeigt sich: Das Millionen-Projekt ist technisch fehlerhaft und funktionierte über Wochen nicht richtig.

Hinzu kommt ein Geburtsfehler: Auf Apple-Geräten funktioniert das Warn-Tool nur auf neueren iPhones und mit aktuellem Betriebssystem. Weniger Technikaffine und Gutbegüterte scheinen in der Vorstellungswelt von twitternden Politikern und Dax-Vorständen nicht vorzukommen. Mittlerweile sind die Probleme behoben. Das Vertrauen in die Technik hat trotzdem gelitten.

Kein Wunder, dass die Nutzerzahlen der App seit rund einem Monat bei um die 15 Millionen dümpeln. Forscher sprechen ihr zwar auch so einen Nutzen zu. Aber als schlagkräftiges Werkzeug gegen die Pandemie fällt das Tool aus. Die Infektionsketten müssen die Gesundheitsämter weiterhin vor allem händisch nachverfolgen.

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Baustelle Nummer 3: Die Durchsetzung der Hygieneregeln

Immer noch sind die Kontrollen der Maskenpflicht in Supermärkten, Bussen und Bahnen lausig.

Das führt dazu, dass sich (gefühlt) immer weniger Bürger an die Maskenpflicht halten. Und viele, die es tun, tragen die Maske so, dass sie die Nase nicht bedeckt oder lassen sie unter dem Kinn baumeln, so dass sie bei einer Kontrolle schnell aufgesetzt werden kann.

Dabei zeigt eine aktuelle Studie der Universität Heidelberg, die sich auf Umfragedaten von Anfang Juli stützt: Je wahrscheinlicher es erschien, bei Verstößen ertappt zu werden, desto eher hielten sich die Befragten an die Corona-Auflagen.

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Apropos Kontrollen: Auch manche Restaurants und Bars scheinen es mit Corona nicht mehr allzu ernst zu nehmen. So machte vor einigen Tagen ein Fall aus Berlin Schlagzeilen, als sich mindestens ein Dutzend Menschen bei einer Party in Berlin-Mitte ansteckten. Eine vollständige Gästeliste zur Nachverfolgung? Fehlanzeige.

Bevölkerung sieht Lockdown-Maßnahmen zunehmend kritisch

Die Nachlässigkeit in Einzelnen scheint auf einen größeren Trend hinzudeuten.

Die Zahlen der Heidelberger Studie lassen erahnen, dass die Bevölkerung einen zweiten Lockdown nicht mehr so zustimmend wie beim ersten Mal mittragen würde. Rund die Hälfte der für die Heidelberg-Studie Befragten schätzt den Schaden des Lockdowns höher als den Nutzen ein. Hinzu kommt: Nur rund die Hälfte von ihnen würde sich gegen Corona impfen lassen.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Das Fazit der Heidelberger Forscher: Zwar sei die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen anfangs hoch gewesen. „Aber fragt man danach, welche Maßnahmen die Befragten in Zukunft bereit sind, zur Eindämmung der Pandemie mitzutragen, ergibt sich ein etwas weniger rosiges Bild.“

Der Wille, sich mit voller Kraft gegen die Ausbreitung des Virus zu stemmen, scheint also nicht nur in der Politik geschwächt. Der Kampf gegen das Virus wird mit der Zeit eher zäher als leichter.

Und dabei steht der Herbst, wenn viele Menschen die Aktivitäten, die jetzt draußen stattfinden, wieder in Innenräume verlegen, erst bevor. Übertragungen, darauf deuten Studien hin, finden verstärkt in geschlossenen Räumen statt.

Alles spricht dafür, schon jetzt auf die steigenden Fallzahlen zu reagieren: mit Kontrollen, die Hygieneregeln durchzusetzen und Ferienheimkehrer flächendeckend zu testen. Dass es zeitnah so kommt? Eher unwahrscheinlich.

Hinweis: Der Abschnitt zur Corona-Warn-App wurde aktualisiert und konkretisiert. Die Zahlen im Artikel bilden den Stand von Samstag 25. Juli ab. Die aktuellen Zahlen erhalten Sie im Tagesspiegel-Dashboard an dieser Stelle.

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